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Alle kennen die eigenen Rollenspielcharaktere als unerschrockene Abenteurer*innen, aber fehlt da nicht etwas? Wie war ihr Leben, bevor die Kampagne startete? Eine passende Hintergrundgeschichte ist ein oft übersehenes I-Tüpfelchen für eine einen runderen Charakter am Spieltisch. Daher dreht sich im Folgenden alles um imaginäre Lebensgeschichten.

„Wir sind die Summe unserer Erfahrungen“ „Das Leben ist die Summe all unserer Entscheidungen“

Es gibt wahrlich genug Zitate, die sich um die Wichtigkeit des Erlebten drehen. Daher ist es nur logisch, davon auszugehen, dass diese Prämissen auch auf Charaktere im Tischrollenspiel zutreffen. Doch gerade zu Beginn von Kampagnen, ohne große Entscheidungen oder gemachte Erfahrungen, können die Neu-Protagonist*innen noch etwas farblos sein. Zu schnell können sie zu Abziehbildern à la Haudrauf-Barbarin oder edlem Ritter verkommen. Ein gut ausgearbeiteter Charakterhintergrund kann hingegen schon früh helfen, die eigene Figur facettenreicher auszuspielen und dem Rest der Gruppe zu vermitteln, um wen es sich beim fiktiven Gegenüber handelt.

Dieser Artikel dreht sich also um zweierlei: Was ist Teil einer „guten“ Hintergrundgeschichte und wie lässt sich der Charakter-„Fluff“ in startende oder auch laufende Kampagnen einbinden?

Was macht eine gute Hintergrundgeschichte aus?

Genauso ausgelutscht wie klischeehafte Rollenspielcharaktere sind öde Origin-Stories. Niemand möchte zum x-ten Male die tragische Geschichte eines SC hören, der ein Familienmitglied verlor, daraufhin Rache schwor und in die Ferne zog. Wo also am besten das Fundament für die Figuren-Geschichte legen? Hier lohnt es sich, klein anzufangen.

Die Geister der Vergangenheit – Bekannte aus dem Leben eines Charakters

Im Verlauf eines Lebens trifft eine einzelne Person mehrere (hundert-)tausend Menschen. Dabei ist es egal, ob es nur eine flüchtige Begegnung war, die uns aber noch lange in Erinnerung bleibt, oder eine lose Bekanntschaft, die sich zu Freundschaft entwickelte und schlussendlich ein Leben lang hält.

Begegnungen führen zwangsläufig zu Erfahrungen. Deswegen bieten sie auch einen idealen Ausgangspunkt, an einer Charakterhintergrundgeschichte zu arbeiten.

Ja, ich bin Barbar. Aber keine Sorge, ich habe verschiedene Interessen: Prügeln, Kloppen und Raufen!“ Abziehbilder können im Pen-and-Paper schnell nerven. © prometeus
Ja, ich bin Barbar. Aber keine Sorge, ich habe verschiedene Interessen: Prügeln, Kloppen und Raufen!“ Abziehbilder können im Pen-and-Paper schnell nerven.© prometeus

Hat ein Charakter zum Beispiel Familie oder entfernte Verwandte? Eltern, Geschwister, Tanten und Onkel et cetera können vor allem in frühen Jahren für die Figur ein prägender Einfluss gewesen sein. Vielleicht besitzt der Charakter noch heute ein Erbstück, welches besonders in Ehren gehalten wird. Oder er schreibt sich einen Wert auf die Brust, der durch eine*n Verwandte*n verstehen gelernt wurde. Familie (und natürlich auch die Abwesenheit dieser) sind Dinge, die ein SC für immer mit sich in Gedanken herumträgt.

Vielleicht führte auch ein Streit oder eine verbotene Verlobung zum Bruch mit den Eigenen oder die Heimstätte ist ein Ort, an den immer wieder gerne zurückgekehrt wird.

Auf der familiären Ausgangssituation lässt sich Vieles aufbauen und mit dem Eintreten ins Erwachsenenleben sind die Möglichkeiten dann nahezu endlos.

Welchen Beruf erlernte der Charakter, was erwartet er sich von seinem noch jungen Leben und was ist seine Einstellung zu vorherrschenden Institutionen der Spielwelt – Zünften, Krone oder Nationen und bekannten Persönlichkeiten? Und wer prägte diese Einstellungen?

Vielleicht verhinderten sadistische Vorgesetzte die Beförderung beim Militär und die eigene Figur ist seither weder gut auf die Person noch die Armee im gesamten zu sprechen. Oder Angehörige einer fremden Spezies retteten den*die Held*in aus einer kniffligen Lage, worauf er*sie sich näher mit deren Kultur und Gesellschaft der Rettenden beschäftigte.

Hierbei reicht es, ein gutes Konzept für den Kontakt zu haben. Dazu eine kurze Beschreibung des Aussehens, mehr aber auch nicht. Niemand erwartet, dass Teile der Vorgeschichte von Anfang an mit NSC-Charakterbögen und Personenkonstellationen perfekt ausgearbeitet sind.

Es mag den Start in einer neuen Gruppe außerdem erleichtern, wenn sich einige (nicht alle) der Protagonist*innen bereits kennen und sozusagen ihre Vergangenheitskontakte sind. Dabei ist es egal, ob sie lediglich lose Geschäftspartner*innen waren oder sich einst liebten. Bereits bestehende Beziehungen der SC untereinander erleichtern den Start und machen „zufällige“ Begegnungen in einer Taverne am Wegesrand überflüssig.

Insgesamt sind Bekanntschaften der einfachste Anhaltspunkt, eine Vorgeschichte zu entwickeln.

Vorhandene Charaktereigenschaften der eigenen Figur können evaluiert und daraus gut Gegenpole oder unterstützende Kräfte in Form von NSC geschaffen werden, die prägten.

Die perfekte Anzahl gibt es nicht. Aber ein Mix aus wohlgesonnenen Personen und solchen, die nicht gut auf den SC zu sprechen sind, halten die Angelegenheit spannend.

Die Treffen müssen dabei nicht völlig in der Vergangenheit bleiben, schließlich trifft man sich immer zwei Mal im Leben.

Ganz so bildlich müssen die Geister der Vergangenheit nicht verstanden werden. © katalinks
Ganz so bildlich müssen die Geister der Vergangenheit nicht verstanden werden. © katalinks

Erinnerung, Episoden und Erlebnisse – Charakterentwicklung im Kleinen

Ist das „Wer?“ geklärt, kann sich um das „Wie?“ gekümmert werden. Mit kleinen, anekdotenhaften Erzählungen verwandeln sich die erdachten Begegnungen schnell in lebendige Geschichten. Sie helfen, das Charakterbild zu formen und lassen sich prima im Spiel wiedergeben.

Das kann in Form von Tagebucheinträgen, Zeitungsberichten oder mündlichen Erzählungen geschehen. Oft geben Systeme Erinnerungs-Aufhänger schon in Form von Karriere- oder Lebensereignissen bei der Charaktererstellung mit, die sich später noch ausschmücken lassen.

Der eigene Charakter war wohlmöglich bei historischen Ereignissen der Spielwelt zugegen oder hat sich bereits einen Namen in seiner Profession gemacht – ganz klassisch: Der*die bekannte Bard*in hat einen Auftritt, der besonders in Erinnerung geblieben ist. Oder denke man an den*die dekorierte Kriegsheld*in, der*die in einer Schlacht oder einem Scharmützel kämpfte und seitdem von Belastungsstörungen geplagt wird.

Auch längere Episoden aus dem Leben eines Charakters können in (komprimierter) Form interessant sein. Hat er eine schlimme Krankheit oder eine schwere Verletzung durchlebt und musste sich den neuen Gegebenheiten anpassen? Oder war er schonmal zu Abenteuern aufgebrochen (bietet sich wunderbar zum Ausdenken neuer Orte an) oder lebte zeitweise als Eremit*in?

Als weitere Inspiration können bis zu einem gewissen Grad reale Erlebnisse dienen, die im fiktiven Kontext natürlich genug verfremdet wurden, dass sie nicht direkt wiedererkannt werden.

Auch hier muss man nicht zu detailliert planen. Eckpunkte reichen, um darzustellen, wie sich der Charakter vorher und während einer Episode gefühlt hat. Wie hat ihn das Erlebte verändert und wie wurde er schlussendlich zu der Person, die am Beginn der Kampagne steht?

Diese Mini-Charakterentwicklung sorgt von Anfang an für Figuren mit klaren Ecken und Kanten und weniger Stereotypen. Das Innenleben des Charakters wird verständlicher und damit auch seine*ihre Darstellung kohärenter und einfacher.

Bei Erzählungen sollte immer darauf geachtet werden, genug Inhalte zu bieten, mit denen die SL und die Gruppe arbeiten können. Im Normalfall sollte sich aber nicht so weit aus dem Fenster gelehnt werden, dass die eigene Figur zum Start der Kampagne bereits ein*e mehrfache Weltenretter*in ist.

Wie lässt sich die Hintergrundgeschichte in ein Abenteuer oder eine Kampagne einbinden?

Einen ausgearbeiteten Charakterhintergrund zu haben, ist ja schön und gut. Aber die Hintergründe sind echte Alleskönner und können nicht nur das Zusammenspiel innerhalb der Gruppe erleichtern, sondern auch die Erzählung der Kampagne bereichern.

Wiederkehrende Widersacher und verlorengeglaubte Freunde

„Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“, heißt es schon am Ende vieler Märchen und dies lässt sich auch auf die ausgedachten Bekanntschaften des eigenen Charakters übertragen. Denn egal, ob im Guten oder Schlechten auseinandergegangen wurde, leben diese Bekannten weiterhin in der Spielwelt, die im Pen-and-Paper ja überaus offen ist.

Halte deine Freunde nah © Phil_Jones
Halte deine Freunde nah … © Phil_Jones

Sie können Rache planen oder unwissend über den Verbleib des SC sein. Sie können variabel im Abenteuer auftauchen – als Randerscheinung, Handlanger*in des*der Kampagnen-Antagonist*in oder eigenständige*r Bösewicht*in. Genauso ist die Einbindung als erwartete*r (oder auch unerwartete*r) Verbündete*r denkbar.

Die Gruppe kann auf Wunsch eines*einer Einzelnen nach den Personen suchen, oder sie begegnet ihnen zufällig auf einer Reise. Auch die Einbindung eines solchen Vergangenheits-NSC nach dem spontanen Abgang eines Gruppenmitglieds ist denkbar. Etwa als Hinweisgebende*n auf den Verbleib der Figur.

Der Einsatz von besonderen NSC sollte natürlich nicht übertrieben, sondern eher als leichter Akzent im Abenteuer gesehen werden. Mit diesem steht dann zwangsläufig ein*e Spieler*in mehr im Fokus als die anderen. Solche Spotlight-Sitzungen sind wunderbar, um bestehende Konflikte zu lösen und mehr über eine bestimmte Figur der Gruppe zu lernen.

Ein lebendiger Blick zurück – Rückblenden

Wer es ganz exotisch möchte, dem steht es frei, sich an Rückblenden-Szenen oder kompletten Abenteuern zu versuchen. Das kann durch Zeitreise, Portale, Artefakte, Flashbacks oder jedwede Art von Magie passieren und ermöglicht, die vorher erdachten Geschichten nicht nur auszuarbeiten, sondern sie auszuspielen. Es ist spannend, zu erleben, wie sich zwei Mitglieder der Gruppe das erste Mal trafen, oder ein besonders einschneidendes Erlebnis wieder an die Oberfläche zu bringen, welches beispielsweise durch Amnesie verloren gegangen war.

Rückblenden sind eine deutlich intensivere Form, einen Charakter selbst, aber auch seine Motivationen näher zu beleuchten. Sie bieten sich deshalb besonders gut zwischen zwei Kampagnen-Zielen an, um für die benötigte (erzähltechnische) Erholung innerhalb der Runde zu sorgen.

Fazit – Eine gesunde Mischung

Die hier vorgeschlagenen Möglichkeiten sind genau das: Möglichkeiten. Es ist wichtig, sich keinen Druck zu machen, wenn vor dem Start einer neuen Runde noch kein kompletter Lebenslauf steht. Nichtsdestotrotz sollte sich bei der Erstellung neuer Charaktere Zeit genommen werden. Denn an ihnen möchte man ja möglichst lange Spaß haben und immer wieder neue Seiten entdecken.

Kommunikation und das Abstimmten der Charaktere und ihrer Vergangenheit innerhalb der Gruppe sind ebenso hilfreich, zumal es sich mit mehreren immer besser brainstormen lässt.

Abschließend lässt sich sagen, dass eine ausgearbeitete Geschichte zu gleichen Teilen aus farbenfrohen und einprägsamen NSC wie auch kleinen und großen Episoden aus dem Leben eines*einer Held*in besteht. Dadurch entwickeln sich nicht nur rundere und tiefgängigere Charaktere, sondern gleichzeitig tolle Möglichkeiten, Spieler*innen mehr in die Kampagne einzubinden und Ideen für neue Abenteuer zu schöpfen.

Artikelbilder: depositphotos, © wie gekennzeichnet
Titelbild: depositphotos, © marish
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Saskia Harendt

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