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„Wer braucht schon Charisma?“ – Attribute und Fertigkeiten in Pen-and-Paper-Systemen zeigen, was einen Charakter mechanisch im Einzelnen ausmacht. Ein häufiges Phänomen bei der Erstellung ist dabei der Dump Stat: die Eigenschaft, die als Unwichtigste betrachtet wird. Welche Gedanken dahinterstecken und wie ihr als Spielleitung damit umgehen könnt, erfahrt ihr hier.

Sie finden sich als wichtiger Bestandteil vieler Systeme an zentraler Stelle auf dem Charakterbogen: Attribute und Fertigkeiten. Mit den Werten können verschiedene Aussagen gemacht werden, beispielsweise wie schnell, kräftig, schlau, hübsch oder willensstark ein Charakter ist. Oftmals berechnen sich aus Attributen weitere Eigenschaften, wie etwa die Anzahl der Treffer- und Magiepunkte oder ein Bonus auf Initiative im Kampf. Fertigkeiten hingegen zeigen an, welche Talente eine Person im alltäglichen Leben erlernt hat und worin sie sich besonders auszeichnet. Charaktere können über individuelle Stärken verfügen – ebenso wie Schwächen, die sich mechanisch widerspiegeln. Dabei lässt sich je nach Archetyp eine Häufung bestimmter Nachteile feststellen. Bei Attributen wird dies gern als Dump Stat bezeichnet.

Eine kurze Definition eines Dump Stat

Wörtlich übersetzt bedeutet Dump Stat in etwa „fallengelassenes Attribut“. Der Ursprung des Begriffes findet sich, wie sollte es anders sein, im Großvater aller Systeme, Dungeons and Dragons. Als Dump Stat wird ein Attribut bezeichnet, das bei der Erstellung des Charakters den niedrigsten Wert zugewiesen bekommt. Die Wahl hängt oftmals mit der Relevanz für eine gewisse Klasse oder weiteren spieltechnischen Effekten zusammen. Dabei wird das Thema, dass Spieler*innen eine Rolle verkörpern möchten, dies aber nicht unbedingt tun, eher ausgeklammert.

In den früheren Editionen von Dungeons and Dragons galt vor allem Charisma als Dump Stat. Das lag unter anderem an der Spielphilosophie vieler Spieler*innen: Wozu braucht ein Charakter, der lediglich zum Töten von Monstern und Sammeln von Schätzen erstellt wurde, ein charismatisches Auftreten? Besser wäre es, hohe Werte in allen anderen Attributen zu haben, um es lebend aus dem Dungeon herauszuschaffen. Infolgedessen wurde bei der Erstellung dieses Attribut weitestgehend ignoriert, um die Punkte in andere Eigenschaften investieren zu können und so einen starken Charakter, zumindest aus rein mechanischer Sicht, für das Abenteuer zu erstellen.

Andere Systeme, andere Gewichtung

Das Konzept des Dump Stat ist mittlerweile weit über die Grenzen von Dungeons and Dragons hinaus verbreitet, beispielsweise im Gaming-Bereich bei diversen Rollenspielen. Was andere Pen-and-Paper-Systeme angeht, gibt es im Vergleich jedoch unterschiedliche Gewichtungen, welche Eigenschaften bei der Charaktererstellung geringste Beachtung verdienen. Dass liegt nicht zuletzt auch an der Anzahl der verschiedenen Attribute und wie diese bestimmt werden. Unabhängig davon, ob in einem System die Attribute zufällig ausgewürfelt oder bewusst gesteigert werden, müssen die Spieler*innen sich bei der Charaktererschaffung überlegen: Welche Attribute sollen möglichst hoch oder niedrig sein? Das gilt nur, sofern nicht die absoluten Werte für die einzelnen Attribute selbst ausgewürfelt werden. Es wäre natürlich möglich, einen in allen Bereichen durchschnittlichen Charakter zu spielen. Hier stellt sich die Frage, wie viel Spielspaß durch reines Mittelmaß generiert werden kann, schließlich machen gewisse Stärken und Schwächen eine Person erst menschlich. „Die goldene Mitte“, wie es im Sprichwort heißt, sollte zumindest bei der Charaktererschaffung nicht wörtlich genommen werden. Aber was macht ein vermeintlich gutes Attribut aus, wie unterscheidet es sich von einem Dump Stat?

Ob ausgewürfelt oder selbst gewählt, bei der Charaktererschaffung ist der Dump Stat keine Seltenheit.

Wie Unterschiede zwischen Attributen entstehen

Der mechanische Wert eines Attributs steht und fällt mit der Häufigkeit von Spielsituationen, in denen dieses benötigt wird. Dadurch ergibt sich für erfahrene Spieler*innen oftmals eine gewisse Reihenfolge in der eigenen Bewertung: Wenn der Charakter möglichst effizient gestaltet sein soll, werden einige Eigenschaften verstärkt ausgewählt, während andere eher übergangen werden. Ein Attribut, das weitere Werte beeinflusst, seien es Lebenspunkte, Mana oder Initiative, kann hier besonders hervortreten. Das Ziel davon ist oft Optimierung, es geht um die reine Mathematik hinter dem System. Der Gedankengang dabei ist nachvollziehbar: ein Charakter, der klare Stärken aufweist und gut funktioniert.

Noch relevanter wird die Punkteverteilung bei Attributen, wenn damit auch die bei der Erstellung zur Verfügung stehenden Punkte eines Charakters bestimmt werden, wie beispielsweise in Call of Cthulhu. Hier sind Bildung und Intelligenz maßgeblich relevant dafür, ob ein Investigator nur wenige Fertigkeiten beherrscht oder noch Punkte übrig hat, um in verschiedenen Bereichen Expertise zu besitzen. Überspitzt dargestellt könnte ein Charakter ähnlich hohe, wenn nicht höhere Werte wie Spezialist*innen erreichen – nur aufgrund der durch den Intelligenzwert gewonnenen, sogenannten Hobbypunkte.

Allgemein lassen sich Attribute, unabhängig vom System, grob in zwei Gruppen einteilen: universelle Eigenschaften, die aufgrund der Mechanik für alle Arten von Charakteren sinnvoll sind und spezielle Eigenschaften, die nur für bestimmte Untergruppen oder Spieltypen relevant werden. Letztere laufen deshalb häufiger Gefahr, als Dump Stat beiseitegeschoben zu werden. Das bedeutet nicht, aber dass diese Charaktermerkmale nicht anderweitig in der Geschichte ihren Platz finden können.

Schwächen, die sich aus den Attributen ergeben, können auch bereichernd für das Ausspielen des Charakters sein. Anstatt beispielsweise zu versuchen, den schlechten Wert in Geschicklichkeit selten einzusetzen, kann sich aktiv entschieden werden, darauf einzugehen. Wenn dann der Wurf, um die fallende Schatulle zu fangen, verpatzt wird, fügt sich das nahtlos in die Erfahrungswelt des Charakters ein – umso größer ist aber die Freude von allen am Spieltisch, wenn die Probe tatsächlich gelingt. Auch Rollenspiel unter den Spieler*innen kann dadurch angestoßen werden, etwa durch die Bitte einer körperlich eher schwachen Person, ihr beim Schleppen der Schatzkiste zu helfen. Selbst kleine Gesten können so zu Momenten zwischen den Charakteren führen, in denen sie einander ihre schwache Seite zeigen können.

Ausspielen oder Würfeln? Sonderfälle bei Attributen

Bei Attributen kann zudem eine weitere Unterscheidung getroffen werden, die ebenfalls Einfluss auf die einzelne Wertigkeit hat: die Aufteilung in körperliche und charakterliche, beziehungsweise geistige Eigenschaften. Das hängt zunächst mit den Spieler*innen und der Darstellung ihres eigenen Charakters zusammen. Sofern das Abenteuer keine haptischen oder anderweitig realen Aufgaben bereithält, müssen sie nicht das Geschick oder die Körperkraft besitzen, die auf ihrem Charakterbogen vermerkt ist.

Etwas anders sieht es mit den geistigen Eigenschaften aus, die sich sehr wohl aus den Fähigkeiten der Spieler*innen speisen. Die folgende Situation wird so oder so ähnlich vielleicht schon an manchem Spieltisch eingetreten sein: Die Spielleitung stellt ein Rätsel, das gelöst werden muss, um in den nächsten Raum zu gelangen. In der Gruppe gibt es zwar einige Charaktere mit hohen geistigen Attributen – die Personen dahinter stehen allerdings auf dem Schlauch. Auch Hinweise, die über erfolgreiche Intelligenz-Würfe gegeben werden, führen nicht zum Erfolg. Umgekehrt kann es passieren, dass jemand am Tisch die Lösung durch sein Allgemeinwissen kennt, sich aber zurückhält, weil der Charakter dieses Wissen nicht besitzen kann oder sollte. Beide Beispiele können zu Frustmomenten am Tisch führen. Eine einheitliche Lösung hierzu gibt es nicht, da diese sehr mit dem Spielstil der Gruppe bei Rätseln zusammenhängt.

Die Frage bei Rätseln in Rollenspielen lautet: Werden die Charaktere getestet – oder die Spieler*innen?

Charisma stellt in vielen Systemen ebenfalls einen Sonderfall dar, weil hier viel von der einzelnen Person abhängt. Eine soziale Situation wird meist direkt in einer Szene ausgespielt, Aussagen wie „Mein Charakter ist sehr charismatisch, ich überrede die Wache“ werden je nach Spielstil der Gruppe eventuell nicht gerne gesehen. Dementsprechend entscheidet oftmals nicht das Attribut über Erfolg und Misserfolg, sondern die soziale Kompetenz der handelnden Person am Spieltisch. Theoretisch könnte der Charakter auf dem Papier so charismatisch wie ein Stein sein, ohne dass es einen Einfluss auf das Ergebnis hat. Dies entwertet letztendlich das jeweilige Attribut. Vor allem für diejenigen, die ihre Punkte bewusst darin investiert haben, bedeutet das eine Benachteiligung. Wie bei Intelligenz gibt es auch hier gegenteilige Effekte, die für Frust sorgen können. Dazu zählen beispielsweise Spieler*innen, die sich aufgrund eines niedrigen Wertes stets aus Situationen herausziehen und immer das „Gesicht der Gruppe“ für sie sprechen lassen.

Es ist nie zu spät, ein bisher kaum genutztes Talent auszuprobieren und zu lernen.

Tipps zur Einbindung von vernachlässigten Attributen

Nach der einzelnen Betrachtung des Phänomens Dump Stat stellt sich die Frage: Wie können Attribute und Fertigkeiten besser eingebunden werden? Dazu finden sich in Regelwerken häufig Übersichten und Vorschläge für die Spielleitung oder weiterführende Hausregeln im Internet, mit denen andere Spielleitungen versuchen, eine Balance zwischen Eigenschaften herzustellen. Allgemein sei gesagt, dass wie in anderen Situationen Kommunikation im Vorfeld wichtig ist: Wenn die Spielleitung Hausregeln benutzen oder gewisse Fertigkeiten stärker einbeziehen will, sollten die Spieler*innen darüber informiert sein. Andernfalls läuft der geplante Charakter eventuell in eine Sackgasse, weil eine entscheidende Fähigkeit nicht gelevelt wurde. Ansonsten finden sich hier einige weitere Tipps und Ideen für Spielleitungen, die sie im Oneshot oder der nächsten Kampagne umsetzen können:

  1. Erstellt eine Übersicht über die Attribute und Fertigkeiten der Charaktere. So könnt ihr besser Situationen planen, in denen einzelne Spezialist*innen mit einer Fertigkeit, die sonst weniger genutzt wird, glänzen können. Gemeine Spielleitungen können die Situation auch nutzen, um Gegner zu entwerfen, die einen erkennbaren Nachteil in der Gruppenkonstellation ausnutzen. Eine Gruppe, die einmal rundenlang dem Charme-Effekt einer Kreatur wegen eines gemeinsamen niedrigen Wertes erlegen ist, wird bei der nächsten Charaktererschaffung ihre Schwächen etwas unterschiedlicher auswählen. Hier sollte natürlich darauf geachtet werden, dass der Spielspaß nicht verloren geht.
  2. Überlegt euch Spielsituationen, in denen bestimmte Attribute und Fertigkeiten zum Einsatz kommen könnten. Das könnten besondere Gruppenwürfe sein, die es gemeinsam zu meistern gilt, etwa eine Kochaktion, bei der unterschiedliche Eigenschaften für das Sammeln und Zubereiten des Festmahls benötigt werden. Je nach System können auch neue Kombinationen von Attributen und Fertigkeiten gewählt werden, um starre Festlegungen aufzulockern. Wer sagt, dass beispielsweise Geschicklichkeit keine Rolle bei der Untersuchung des Raumes spielen darf?
  3. Vergebt zusätzliche Boni für selten genutzte Attribute. Die Spieler*innen planen beispielsweise alle Intelligenz zum Dump Stat zu erklären? Bietet für einen höheren Wert an, dass die Charaktere eine zusätzliche Sprache oder ein Talent erlernen dürfen. Möglich sind auch Kostenreduzierungen beim Aufleveln, sofern dies im System möglich ist. Achtet jedoch darauf, dass die Balance erhalten bleibt.
  4. Bleibt konsequent in euren eigenen Regeln. Wenn für Interaktionen und Herausforderungen maßgeblich ein Würfelwurf erforderlich ist, weil das Gelingen unklar oder schwierig zu erreichen ist, dann muss das für alle Situationen dieser Art gelten. Das heißt aber nicht, dass ihr Spieler*innen nicht für gute Ideen belohnen dürft: Verteilt Vorteile und andere Boni als Motivation. Bezogen auf Rätsel solltet ihr vorher überlegen, ob hier die Charaktere oder die Spieler*innen gefordert werden sollen. Ist ersteres der Fall, spricht nichts dagegen, nach einer gewissen Zeit beispielsweise Hinweise durch NSC einzustreuen.
  5. Wechselt eure Szenarien ab, um euren Spieler*innen die Chance zu geben, verschiedene Attribute und Fertigkeiten zu verwenden. In der Wildnis beispielsweise werden die Charaktere froh sein, wenn jemand Fährtenlesen oder Kartografieren kann, während in der Diebesgilde der Stadt vor allem Täuschung und Psychologie eine Rolle spielen können. Scheut euch außerdem nicht davor, diversere Charaktere zu spielen, die durch die gemeinsame Aktionen gegenseitig ihren Wert erkennen. Um Auflösungserscheinungen zu vermeiden, braucht es dafür eine starke Motivation, die alle antreibt.
Wer ein Feuer entzünden und am Laufen halten kann, ist bei Reisen in der Wildnis eine geschätzte Person.

Fazit: Mehr Mut zur vermeintlichen Nutzlosigkeit

Zuletzt noch ein kurzer Apell an die Spieler*innen, die bei der Charaktererschaffung mit der Auswahl der Werte hadern. Vielen bereitet es Spaß, sich einen möglichst effizienten Charakter auszudenken, eine heldenhafte Gestalt als Repräsentationsfläche. Aber es spricht ebenfalls nichts dagegen, hier und da Schwächen zu zeigen, um damit Spaß und Unterhaltung für sich und die Gruppe zu schaffen. Ein Dump Stat gehört wie alle anderen Werte zum Charakter, seine Fertigkeiten sollten sich aus seiner Lebenserfahrung abzeichnen, nicht nur aus einer vermeintlich idealen Meta-Strategie. Und wer weiß, eventuell stellen sich vermeintlich vernachlässigbare Attribute und Talente als besonders relevant heraus.

Dazu noch ein weiterer Gedanke: Wo bleibt die Spannung in einer Geschichte, wenn immer nur die Person mit dem jeweils besten Wert würfelt? Damit werden unerwartete Erfolgsmomente verhindert, die anderweitig entstehen könnten. Gleiches gilt für emotionale Szenen, in denen die Gruppenmitglieder ihre persönliche, nicht perfekte Seite durch kleine Gesten zeigen können. Gerade hier findet sich die Chance, Charaktere individuell und damit erinnerungswürdig auszugestalten. Sie sollten mehr sein als nur die Summe ihrer Attribute, der guten wie der schlechten.

 

Artikelbilder: © NiceIdeas, © everett225, © andrewgenn, © Valentyn_Volkov | depositphotos.com, © TripleMedia
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Giovanna Pirillo

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