Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Escape-Room-Spiele haben in den letzten Jahren einen großen Hype erfahren. Sei es durch die Unlock-Spiele, durch Escape Room von Noris oder vor allem die EXIT-Reihe. Das Rätseln ist in die heimischen Wohnzimmer gezogen und aktuell nicht wegzudenken. Können die Children of Wyrmwood dem Hype gerecht werden?

Die Web-App sollte vor jedem Start in Reichweite liegen.

Neunzehntausendsechshundertsieben. Das ist die ausgeschriebene Lösung eines der ältesten (aufgezeichneten) Rätsel der Geschichte aus dem antiken Ägypten. Die Zahl der Häuser, Katzen et cetera, die hier gesucht wurden, entspricht nicht ganz der Anzahl der Escape Room und Rätsel-Spiele, die in den letzten Jahren den Markt eroberten. Dennoch flaut der Trend zu Rätseln, Lösen von Kriminalfällen und anderem einfach nicht ab.

Mit den Children of Wyrmwood ist der dritte Ableger der Escape Tales-Reihe erschienen. Die deutsche Version wurde per Crowdfunding in der Spieleschmiede ermöglicht. Wie schon in den beiden vorherigen Teilen erwartet die Spielenden ein sehr erwachsenes Abenteuer. Ging es in den Vorgängern noch um Krankenhäuser und Hacker*innen, finden sich die Mutigen nun in einer eher fantastisch angehauchten, paganistisch-dystopischen Welt wieder. In einem kleinen Dorf passieren seltsame Dinge. Immer wieder verschwinden die Bewohner, wenn sie sich in den Wald in der Umgebung begeben. Die omnipräsenten Wyrmwurzeln scheinen etwas mit der Sache zu tun zu haben. Oder geht hier etwas noch viel Größeres vor sich? Findet es am besten selbst heraus, denn wir werden von der Geschichte nur das Nötigste preisgeben. Doch ob in unseren Augen der „Rest“ des Spiels etwas taugt und möglicherweise das Richtige für euch ist, erfahrt ihr in den kommenden Zeilen.

Spielablauf

Der allgemeine Ablauf ist schnell erzählt. Die Rategruppe legt die drei Kartenstapel, bestehend aus Entdeckungskarten, Raumkarten und Ausruhen/Verausgaben-Karten, bereit, platziert die Aktionsmarker in greifbarer Nähe, drückt einer Person das erste Storybuch in die Hand und startet (bevorzugt auf Smartphone oder Tablet) die Escape Tales Web-App. Schon stürzen wir uns in das Abenteuer. Zu Beginn wird eine Art Einführung gespielt, die nicht nur den groben Rahmen für die Handlung festlegt und uns in die Mechaniken einführt, sondern uns auch den spielbaren Protagonisten Gilbert vorstellt. Seine Hintergrundgeschichte und Motivation sich in das Abenteuer zu stürzen hilft, sich an den Umgang mit App und Büchern zu gewöhnen.

Unser Protagonist ist bereit für das Abenteuer.

Jene App oder das aktuelle Storybuch können uns an einigen Stellen Handlungsanweisungen vorgeben, wie „lies Paragraf P001“ oder „nimm Karte K002 und wirf Karte K003 ab“. Sollte dies nicht der Fall sein, sind wir sehr frei in dem, was und vor allem wie wir es angehen wollen. Beispielsweise könnte ein Raum untersucht werden, wenn sich aktuell einer im Spiel befindet. Räume können in diesem Spiel tatsächliche Räume, oder auch Ortschaften oder ähnliches sein.

Was uns in diesem Raum für Mysterien erwarten?

Hierzu legen wir auf der korrespondierenden Plankarte einen Aktionsmarker ab und lesen den Paragrafen, der auf der Karte angegeben wird. Die „Raum erkunden“-Aktion ist auch die Einzige im Spiel, die durch die Anzahl der Marker limitiert ist. Sollten einmal alle Marker ausgegangen sein, können wir uns noch ausruhen oder verausgaben, um neue Marker zu erhalten. Diese Option sollte jedoch mit Bedacht gewählt werden, da wir nicht wissen können, was dies für den Rest des Spiels bedeutet. Wie viele Marker uns zur Verfügung stehen, erfahren wir in den meisten Fällen innerhalb des Paragrafen, der den neuen Raum ins Spiel gebracht hat.

Die anderen Aktionen sind nicht limitiert und auch nicht zeitlich gebunden. Also heißt es nach Herzenslust Rätsel lösen und Karten kombinieren. Hierfür ist die Browser-basierte App unabdingbar.

Kommen wir auf des Rätsels Lösung?

Will ein Rätsel gelöst werden, klicken wir die zugehörige Rune in der App an und versuchen unser Glück mit der Lösung, vergleichen, ob wir alle für das Rätsel benötigten Karten besitzen oder holen uns Hilfe. Die Hilfestellungen sind nacheinander anklickbare Stufen, um die Gruppe vor zu hohem Frust bei einem Hirnknoten zu bewahren. Diese Abstufungen gehen so weit, dass zum Schluss die exakte Lösung ausgegeben werden kann. Eine Strafe oder einen anderen Malus gibt es für die Inanspruchnahme einer Hilfe für den weiteren Spielverlauf nicht.

Das Kombinieren der Karten erinnert sehr stark an alte Point-and-Click-Adventures, inklusive der obligatorischen „das geht nicht“ Meldung. Doch durch diesen Mechanismus fühlt sich das Gesammelte wie ein „echtes“ Inventar an. Das wir auf diese Art auch die Gedanken des Protagonisten Gilbert über viele Dinge, Orte und mehr erfahren können rundet das immersive Gefühl ab.

Welche Kartenkombination das wohl ausgelöst hat?

Alle diese Abläufe sind zu einhundert Prozent kooperativ. Die Gruppe entscheidet über jeden Schritt gemeinsam und es gibt keine festgelegte Reihenfolge der Züge. Das gemeinsame Knobeln und Erleben der Geschichte stehen im Vordergrund.

Ausstattung

Kompakt, gut sortiert, hübsch. Das ist die Kurzzusammenfassung des gesamten Spiels. Wir haben eine handliche, nicht zu kleine Box, deren Artwork gut auf die Grundstimmung des Spiels vorbereitet. Es erwartet naturnahe Fantasy. Leider kann die Grafik nicht über das gesamte Spiel den hohen Standard halten. Auf einigen Karten wirken einige Elemente wie lieblos platzierte Stockfotografien. Doch diese Unsauberkeiten halten sich in Grenzen.

So sollte ein Sortiersystem aussehen.

Das Innenleben der Box ist zweckmäßig. Alles hat seinen Platz und keine Spielmaterialien müssen „frei“ in der Box herumfliegen. Auch das „Abspeichern“ bei temporärer Unterbrechung des Spiels ist durch den großzügigen Platz im Inlay kein Problem. Im Zweifelsfall kann der aktuelle Fortschritt auch auf der Rückseite des aktuellen Storybuchs vermerket werden Und wo wir gerade bei den Storybüchern sind. Diese sind sehr übersichtlich gestaltet und durch die Orientierungshilfen an den Außenstegen findet man sich sehr schnell zurecht, ohne sich selbst spoilern zu müssen. Die Bücher hätten ruhig noch ein paar Seiten mehr haben dürfen. Eine um ein bis zwei Punkt größere Schrift wären für die Augen unseres Autors ein Segen gewesen.

Die Box. © Grimspire

Die harten Fakten:

  • Verlag: Board & Dice, Grimspire
  • Autor*in(nen): Jakub Caban, Bartosz Idzikowski
  • Erscheinungsjahr: 2021
  • Sprache: Deutsch
  • Spieldauer: 450+ Minuten
  • Spieler*innen-Anzahl: 1 2 3 4
  • Alter: ab 16 Jahren
  • Preis: ca. 30 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Tipps für das Weiterkommen

Wir werden an dieser Stelle keinen expliziten Walkthrough durch das Spiel geben, um euch den Spaß nicht zu nehmen. Dennoch möchten wir euch einige Tipps auf den Weg geben, mit denen Ihr im Laufe des Spiels die Hindernisse stemmen könnt:

  1. Haltet Zettel, Stift und Schere bereit. Ihr werdet zwar nicht wie aus anderen Escape Room Spielen gewohnt Spielmaterial zerstören, aber bei einigen Rätseln ist es hilfreich diese abzuzeichnen und mit dem „selbstgemachten“ Material zu puzzeln.

  2. Nutzt die Aktion „Karten kombinieren“ so oft wie es nur geht. Ihr werdet viel zu oft den Satz „das funktioniert nicht“ lesen, aber in den Momenten, in denen es funktioniert, könnt ihr nicht nur dafür sorgen, dass das Spiel voranschreitet, sondern auch nützliche Hinweise durch unseren Protagonisten Gilbert erhalten.

  3. Führt Buch über bereits gelesene Paragrafen. Mehrfach wird im Spiel explizit darauf hingewiesen, dass man die Texte sehr genau lesen soll. Und es wird viel gelesen im Spiel. Um daher nicht den Überblick zu verlieren, sollte man sich Notizen dazu machen, welche Paragrafen in welcher Reihenfolge gelesen wurden. Das macht es wesentlich einfacher noch einmal in der Geschichte „zurückzuspringen“.

  4. Überprüft immer, ob ihr für ein Rätsel alle erforderlichen Teile besitzt. Wenn man in der App eine Rätsel-Rune angeklickt hat, stehen drei Möglichkeiten zur Verfügung: Lösen, Hilfe und benötigte Karten. Der letzte Punkt sagt genau, wie viele Rätselkarten und mögliche Extras benötigt werden.

Mit Grips und Tipps sind Rätsel wie dieses kein Problem!

Fazit

Escape Tales: Children of Wyrmwood macht sehr viel richtig. Die Rätsel sind abwechslungsreich, sowohl von der Herangehensweise als auch vom Schwierigkeitsgrad. Wirkliche Hirnzwirbler wechseln sich mit leichten Denkaufgaben ab, was für die Langzeitmotivation sehr zuträglich ist. Die Geschichte beginnt sehr stark und spannend und erinnert an Point-and-Click-Adventure der alten Schule. Zum Finale hin verliert sich der Plot jedoch in sehr abgedrehte Sphären und ähnelt an einigen Stellen einem Fiebertraum. Und apropos Finale und ohne zu viel verraten zu wollen: Das Spiel hat viele verschiedene Enden, die sich auch alle genug voneinander unterscheiden, um die Spieler*innen dazu zu motivieren, auch alle anderen zu erreichen. Doch keines der Enden hat den Testrunden eine Art von Erfolgsbefriedigung verschafft. Es fehlte dieses Gefühl der Belohnung für die eigenen Entscheidungen.

Die Altersfreigabe ab 16 Jahren ist nur bedingt nachvollziehbar. Das Spiel hat erwachsenere Themen, ist in seiner Darstellung aber so geartet, dass man sich verantwortungsbewusst auch mit jüngeren Teenagern in die Geschichte stürzen könnte.

Das Handling der App funktioniert sehr simpel und lässt kaum Fragen offen. Schön wäre es gewesen, beim Kombinieren nicht immer alle drei Ziffern der Karten eingeben zu müssen. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Soweit es die Testrunde feststellen konnte, benötigt man eine stabile Internetverbindung auch nur beim Starten der Applikation. Die weiteren Punkte sind auch offline erreichbar.

Der Faktor, dass man nichts zerstören muss, ist eine ganz großer Pluspunkt. Dadurch lässt sich das Spiel an Bekannte oder Familie weitergeben, ohne vorher Kopien oder sonst etwas anfertigen zu müssen. Und das Spiel verdient es, von vielen gespielt zu werden. Es macht großen Spaß und die Geschichte kann trotz Schwächen zum Ende mitreißen und über gut sechs bis zehn Stunden unterhalten. Klare Rätselempfehlung.

  • Sehr spannende Story…
  • Rätsel machen Spaß und fordern genau richtig.
  • Ein Escape-Room-Spiel ohne Zerstörung des Materials.
 

  • … die gegen Ende etwas zu abgedreht wird.
  • Die sehr kleine Schrift in den Storybüchern erfordert sehr gute Augen.
  • Keines der Enden konnte wirklich befriedigen.

 

Artikelbilder: © Grimspire, © Board & Dice
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Nina Horbelt
Fotografien: Tim Billen
Screenshots: Tim Billen / App © Board & Dice
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein