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Nordamerika, 1585: Englische Siedler*innen gründen ihre erste feste Kolonie der neuen Welt auf der Insel Roanoke, vor der Küste des heutigen North Carolina. Doch als ein Schiff aus der alten Heimat fünf Jahre später dort anlegt, sind sie alle verschwunden. Was ist passiert? Eine historisch-rollenspielerische Spurensuche.

Wenige Phänomene inspirieren Fans von Verschwörungsmythen und phantastischen Geschichten so sehr, wie das scheinbar spurlose Verschwinden von Menschen: Die so genannte verschwundene Kolonie von Roanoke gilt bis heute als eines der bekanntesten ungelösten Rätsel Amerikas. Eine ganze Dorfbevölkerung von rund 120 Personen verschwand zwischen 1587 und 1590 nahezu spurlos. Die Erklärungsversuche, die dazu angestellt wurden, sind unterschiedlich plausibel, aber keiner ist bislang hinlänglich bewiesen. Das eröffnet ein breites Spektrum an Möglichkeiten, diese historische Episode rollenspielerisch zu erkunden.

Triggerwarnungen

Kolonialismus, Hungersnot, Gewalt, Mord

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Worum geht es?

Die erste britische Kolonie auf amerikanischem Boden, die im späten 16. Jahrhundert gegründet wurde, kann mit Recht als katastrophaler Fehlschlag gewertet werden. Koloniale Arroganz, Unverständnis für die neue Umgebung und fehlende Unterstützung aus der Heimat machten es den Siedelnden schwer, Fuß zu fassen. Anders als bei anderen gescheiterten Kolonien wurden hier jedoch keine sterblichen Überreste gefunden, als ein Schiff mit dringend benötigtem Nachschub drei Jahre nach dem letzten Kontakt endlich dort ankam. Bis heute ranken sich verschiedene unbewiesene Thesen um das Verschwinden der Menschen.

Schöne, neue Welt

Die sogenannte „verschwundene Kolonie“ von Roanoke war genauer gesagt tatsächlich schon der zweite Versuch, eine feste Präsenz englischer Siedler*innen auf der Insel zu etablieren. Der erste, gegründet 1585, wurde schon 1586 aufgegeben. Die Kolonisierungswilligen hatten wenig Rücksicht für ihre neue Umwelt und deren Bevölkerung gezeigt. Unter anderem hatten sie ein Dorf des heimischen Secotan-Stammes niedergebrannt und dessen Häuptling ermordet. Dazu kamen logistische Probleme mit der Versorgung aus der Heimat und schließlich segelten die ausschließlich männlichen Siedler schon mit dem nächsten britischen Schiff, das bei ihnen anlegte, wieder zurück.

Bereits ein Jahr später, 1587, wurde die Kolonie trotz dieses schlechten Starts wiederbesiedelt. Die zweite Gruppe von Kolonisierenden, angeführt von dem Maler John White, hatte es nun denkbar schwer, mit der indigenen Bevölkerung warm zu werden und zu allem Ungemach war sie auch noch ganz auf sich allein gestellt. White blieb nur für eine kurze Zeit auf Roanoke, in der er sich zum Gouverneur erklärte und mehrere Aquarelle von der Insel anfertigte. 1588 kehrte er in der Absicht, Vorräte zu beschaffen, nach England zurück. Entgegen seines Plans schaffte er es erst 1590 wieder nach Roanoke, denn zur gleichen Zeit befand sich England im Krieg mit Spanien und die spanische Armada blockierte den Weg über den Atlantik. Als der Gouverneur seine Kolonie schließlich wieder erreichte, fand er sie verlassen: Die Häuser waren abgebaut worden und von ihren Einwohner*innen fehlte jede Spur. Unter den Verschwundenen befanden sich auch Whites Tochter, Schwiegersohn und seine Enkelin Virginia, das erste englische Kind, das in der neuen Welt geboren worden war.

Die Entdeckung der Nachricht in der Baumrinde. Aquarell von John White.

Der einzige Hinweis darauf, was mit ihnen geschehen sein könnte, bestand in einem Wort, das in die Rinde eines Baumes geschnitzt worden war: CROATOAN, und in einem weiteren, der Anfang desselben noch einmal: CRO. Croatoan ist der Name eines Stammes amerikanischer Ureinwohner*innen, der auf Roanoke und nahe gelegenen Inseln lebte. White wollte eine Suchexpedition nach den Verschwundenen ausschicken, doch das stetig schlechter werdende Wetter zwang die beiden Schiffe, mit denen er angelandet war, nach England zurückzukehren. In den kommenden Jahrzehnten wurden noch mehrere Suchtrupps nach Roanoke geschickt, doch keiner von ihnen konnte die Siedler*innen finden. Zu Beginn stand stets die Hoffnung, dass sie lediglich an einen anderen Ort gegangen sein könnten, doch früh wurde auch die Vermutung laut, sie seien allesamt von den Indigenen ermordet worden.

Ist die Kolonie überhaupt verschwunden?

John White, der glücklose Gouverneur, glaubte nicht daran, dass seine Kolonie gewaltsam zugrunde gegangen sei. Zum einen schien es, als ob die Kolonist*innen sich wie abgesprochen gut um Whites Besitztümer gekümmert hätten: Bücher, Bilder und andere Wertgegenstände waren offenbar sorgfältig in Kisten verpackt und vergraben worden – auch wenn lokale Stammesangehörige sie in der Zwischenzeit teilweise geplündert hatten. Zum anderen war auch das Hinterlassen einer Nachricht in Baumrinde, falls die Kolonie ihren Ort wechseln sollte, mit den Zurückgelassenen so ausgemacht. Das Wort Croatoan steht nicht nur für den indigenen Stamm dieses Namens, sondern auch für eine weitere Insel, die heute als Hatteras Island bekannt ist und demnach vermutete White, dass sie dorthin gegangen sein könnten. John White kam nicht mehr dazu, nach seiner Familie zu suchen. Er starb (wahrscheinlich) im Jahr 1593 in England.

Über vierhundert Jahre später jedoch mehren sich Indizien dafür, dass sie überlebt haben könnten: 2020 fand ein Team von Archäolog*innen bei einer privat finanzierten Ausgrabung auf einer Klippe über dem Albemarle Sound, 50 Kilometer westlich von Roanoke, eine Anzahl von Keramikscherben aus der Zeit der ersten Kolonien. Die Scherben stammten von europäischem Geschirr und galten dem Direktor der Ausgrabung als eindeutiges Indiz, dass sie den verschwundenen Siedler*innen gehört haben mussten. Bereits einige Monate zuvor hatte ein anderer Archäologe behauptet, er habe auf Hatteras Island Objekte gefunden, die den Verschwundenen zuzuordnen seien.

Porträt von Angehörigen der Croatoan- und Secotan-Völker auf Roanoke von John White.

Die beiden Theorien müssen sich nicht widersprechen: Es ist durchaus möglich, dass die Gruppe sich aufspaltete, um an zwei verschiedenen anderen Orten zu siedeln. Das kann nur mit Hilfe der amerikanischen Ureinwohner*innen geschehen sein, und so ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Siedler*innen sich zwei lokalen Stammesgruppen anschlossen und mit der Zeit in diesen aufgingen. Wenn die Croatoan-Leute Mitleid mit den Kolonist*innen hatten und sie bei sich aufnahmen, würde das wohl auch die Nachricht in der Baumrinde erklären. Trotz der archäologischen Indizien gilt diese These aber noch als unbewiesen. Womöglich ergeben zukünftige Ausgrabungen ein etwas klareres Bild, doch für den Moment bleibt auch dies nur Spekulation.

Was man rollenspielerisch daraus machen kann

Die Möglichkeiten, dieses ungelöste Rätsel rollenspielerisch zu verarbeiten, sind vielfältig. Klar, wo Menschen verschwinden, bietet es sich immer an, jemanden nach ihnen suchen zu schicken. In einem historischen Szenario könnten die Spielenden etwa die Rollen von Mitgliedern einer der Suchexpeditionen übernehmen, die nach den verschwundenen Menschen ausgeschickt wurden. Ebenso könnten sie aber selbst auch zu den Siedelnden gehören, die im Laufe der drei Jahre verschwanden. Die Frage, was mit ihnen passiert sein könnte, erleben die Spielenden dann hautnah.

Wütende Geister und grässliche Begegnungen

Eine Spielvariante, die historische und klassische Fantasy-Elemente miteinander verquickt, bietet das düstere System Zweihänder mit seinem Abenteuer Lost Colony of Roanoke, obwohl dieses hauptsächlich in der erst zwei Jahrzehnte später gegründeten Kolonie Jamestown in Virginia spielt. Doch das Verschwinden wird auch hier thematisiert. Ohne Spoiler lässt sich sagen, dass hier für beide Kolonien unerklärliche Mächte wirken, denen die Neuankömmlinge ein Dorn im Auge sind. Übernatürliche Wesen, die für das Verschwinden verantwortlich sind, kann es indes in verschiedensten Rollenspielsystemen und auf vielfältige Art und Weise geben.

Erboste Ahnen- oder Naturgeister der von den Siedelnden angegriffenen indigenen Völker etwa hätten ein sehr verständliches Motiv, sich an diesen zu rächen, vielleicht sogar von Schaman*innen herbeigerufen. Szenarien aus der World of Darkness wiederum eröffnen die Möglichkeit, dass die Einwohner*innen der Kolonie gar von Werwölfen oder anderen Mischwesen attackiert werden.

Eine Idee für Call of Cthulhu oder ähnliche an Lovecrafts Cthulhu-Mythos angelehnte Spielwelten wurde etwa in dem BBC-Podcast The Lovecraft Investigations angedeutet: Hier klingt unterschwellig durch, dass möglicherweise Tiefe Wesen, die sich ja bekanntlich vor der Küste Nordamerikas tummeln, die Kolonist*innen geholt haben könnten. In jedem Fall eignet sich das Szenario trefflich für allerlei Horror-Szenarien. Gerade wenn die Spielenden selbst in die Rolle der Siedelnden schlüpfen, kann es gut als Vorlage für einen One-Shot ohne Überlebenschance dienen.

Seltsame Reisen

Es geht natürlich auch weniger brutal. Wo immer Menschen verschwinden, ist auch der Verdacht der Entführung durch Außerirdische nicht weit. Doch warum ausgerechnet diese circa 120 Personen? Das kommt selbstverständlich auf das Spielsystem an. Vielleicht hatte eine außerirdische Macht das Gefühl, diese Menschen passten nicht hierher. Vielleicht dachte diese auch, diese Kolonie würde sicher nicht vermisst und könnte somit unbemerkt auf einen fremden Planeten versetzt werden, wo sie umso mehr ums Überleben kämpfen müsste. Auch zufällige Dimensionssprünge jeglicher Art sind natürlich möglich und bieten sich vor allem für Pulp- und Survivalszenarien an. Die Siedelnden mögen sich etwa auf Barsoom wiederfinden, wenn das System John Carter of Mars heißt, in der Inneren Erde bei Hollow Earth Expedition oder was immer die Fantasie der Spielleitung hergibt. In diesen Fällen eignet sich die Kolonie auch für die Rolle von NSC, denen die Charaktere der eigentlichen Spielenden auf ihrer Reise begegnen.

Und schließlich lässt sich der Blickwinkel auch umdrehen: Was, wenn die Spielenden in die Rolle der Ureinwohner*innen schlüpfen, deren Lebensweise, ja sogar Existenzrecht, von den Neuankömmlingen bedroht zu sein scheint? Reagieren sie mit Gewalt oder nehmen sie die Hungernden gar bei sich auf? Auch hier wäre die World of Darkness ein mögliches Spielsystem. In diesem Fall könnten die Spielenden etwa in die Rolle der Werwölfe schlüpfen (und das Regelsystem von Werewolf: The Forsaken verwenden), entweder, um die Menschen ihres Stammes vor den gewalttätigen Eindringlingen zu schützen, oder um diplomatische Beziehungen aufzubauen. Auch realistischere historische Rollenspielsysteme könnten für ähnliche Szenarien dienen.

Fazit: Kolonie des Grauens

Die ersten Versuche der englischen Krone, den nordamerikanischen Kontinent zu besiedeln, verliefen desaströs. Koloniale Arroganz, Aggressivität gegen die indigene Bevölkerung und mangelnde Unterstützung aus der Heimat verurteilten die Kolonie von Roanoke zweimal zum Scheitern. Was mit den Bewohner*innen der zweiten Kolonie geschehen ist, ist immer noch nicht abschließend geklärt. Einige Argumente sprechen dafür, dass die lokalen Croatoan-Leute Mitleid mit den Siedler*innen hatten und sie bei sich aufnahmen. Andererseits könnten sie die Neuankömmlinge auch getötet haben, da diese sich bereits zuvor als Bedrohung herausgestellt hatten. Eine völlige Auslöschung der Kolonie durch Hunger oder Krankheit sind ein ebenso plausibles Szenario, dann jedoch stellt sich die Frage, was mit den sterblichen Überresten der Menschen geschah! In jedem Fall lassen sich überall dort, wo in der Realität Erklärungslücken bestehen, jederzeit phantastische Rollenspielszenarien, vor allem im Horror-Genre, ergänzen.

 

Artikelbilder: © Public Domain
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Laura Pascharat

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