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Mit dem Winter nähert sich das Weihnachtsfest und damit auch manche alten Bräuche wie Nikolaustage und Krampusläufe. Doch was hat es damit ursprünglich auf sich? Thomas Finn lieferte 2010 mit seinem Roman Weißer Schrecken eine ebenso phantastische wie erschreckende Antwort, die jetzt als luxuriös ausgestattete Vorzugsausgabe eine Neuauflage erhält.

Story

Die Handlung von Weißer Schrecken verläuft in zwei Zeitebenen. In der aktuellen Ebene verfolgen wir die Geschichte von Andreas, einem international erfolgreichen Arzt, den ein altes Versprechen wider Willen an den Ort seiner Kindheit zurückführt: Perchtal, ein fiktiver Ort in der Nähe der bayrischen Stadt Berchtesgaden. Dort wird er auf die Freunde seiner Kindheit treffen, die er zuletzt vor 16 Jahren sah.

Der Großteil des Romans spielt in der Vergangenheit und erzählt die Geschichte der jugendlichen Freunde Andreas, Robert, Niklas und der Zwillinge Elke und Miriam. Ihr Alltag wird durch den Fund einer besonderen Leiche durcheinandergebracht, die verblüffende Ähnlichkeit mit den Zwillingen hat. Nachforschungen führen die Gruppe schon bald auf die Spur eines düsteren Geheimnisses. Im Laufe der Zeit stellt sich heraus, was die Historie des Ortes mit den vielen verschwundenen Kindern der letzten Jahrzehnte, den Ursprüngen weihnachtlicher Mythen um St. Nikolaus, Knecht Ruprecht und mit den lokalen Krampusläufen zu tun habt. Auch die sogenannten Perchten spielen eine wichtige Rolle: Sagengestalten aus dem süddeutschen Brauchtum, die mit der Göttin Perchta oder Frigg in Verbindung gebracht werden und den Winter austreiben sollen. Dabei geraten die Jugendlichen in Lebensgefahr und müssen sich eines übernatürlichen Bösen erwehren, welches sie im Erwachsenenalter noch einmal heimsuchen wird.

Die Ereignisse in der Gegenwart umrahmen das Geschehen und machen stets neugierig darauf, was es mit dem Widerwillen von Andreas gegenüber seinem Heimatort auf sich hat. Lesende müssen sich auf die Antwort aber gedulden, denn zunächst geht es in die 90er Jahre zurück und damit in die jugendliche Realität der Protagonist*innen.

Diese haben zum einen mit unterschiedlichen Varianten schwieriger elterlicher Beziehungen zu kämpfen: Eine alkoholabhängige Mutter, ein Vater, der nach dem Selbstmord seiner Frau den Kontakt zu seinem Sohn beinahe komplett eingestellt hat und Eltern, die sich auf fanatische Weise dem christlichen Glauben verschworen haben. Diese Hintergründe wirken beinahe wie eine Sammlung des Klischees „schwieriges Elternhaus“ – allerdings ergeben sich die Gründe für diese Entwicklungen im letzten Teil der Geschichte und wirken spätestens dann schlüssig und nicht aufgesetzt.

Trotz zweier unterschiedlicher Zeitlinien und häufiger Wechsel der Charaktere kann man den Erzählsträngen gut folgen, da die Protagonist*innen klar gezeichnet sind. Die Nostalgie der 90er Jahre klingt kurz an und versetzt Lesende durch Erwähnung damaliger Musik und Serien als Teil der Jugendkultur gekonnt in die Zeit zurück.

Bald drauf weicht die vorweihnachtliche Stimmung einer süddeutschen Kleinstadt mit ihren teilweise schrulligen Bewohner*innen einer wachsenden, düsteren Bedrohung die ungefähr ab der Mitte des Buches immer eindeutiger auf eine übernatürliche Ursache hindeutet.

Was stimmt nicht mit diesen Bischöfen?

Als die Jugendlichen sich dessen bewusst werden, versuchen sie auf unterschiedliche Weisen möglichst viele Informationen über die Bedrohung einzuholen und Möglichkeiten zu finden, dagegen vorzugehen: Von klassischer Recherche, über die Befragung der Erwachsenen (was gleichzeitig für Misstrauen sorgt), bis hin zu einem Ritual, um mit Geistern Kontakt aufzunehmen. Die Informationen sowie die Wege, wie die Gruppe an diese kommt, werden ausführlich beschrieben.

Das nimmt der Geschichte ein bisschen Fahrt, denn Lesende müssen gleichzeitig mit den süddeutschen Bräuchen sowie den Erkenntnissen der Protagonist*innen vertraut gemacht werden. An mancher Stelle scheint ein wenig zu viel Recherche des Autors durch und es droht ein Infodump, aber das Finale wird dann noch rechtzeitig eingeleitet und am Ende werden alle offenen Stränge zusammengeführt. Die recht überraschende „Lösung“ wird dann etwas knapp im Epilog abgehandelt.

Schreibstil

Mit routinierter Souveränität zieht Finn Lesende schon auf den ersten Seiten in den Bann. Durch den Wechsel der Zeitebene verhalten sich auch die Charaktere anders, was sich vor allem in ihren Innenleben niederschlägt und den vordergründig ein wenig klischeehaft erscheinenden Figuren eine zusätzliche Ebene zufügt. Jede der Hauptfiguren hat ihre Eigenheiten und wie in jeder Jugendclique gibt es Schwärmereien und Liebe, die mit Fingerspitzengefühl und ohne Kitsch dargestellt werden. Erzählungen und Dialoge wechseln sich ab und mit kleineren Cliffhangern zwischen den Kapiteln wird die Spannung gehalten, ohne dass das Stilmittel überreizt wird.

Besonders die Darstellung der zwischenmenschlichen Dynamik im Freundeskreis in den Dialogen ist gelungen. Ein zweites Highlight ist die einzigartige Stimmung aus vorweihnachtlicher Verschneitheit und den schrecklichen Vorfällen in dem kleinen Ort – hier wird das Klischee der friedlichen Vorweihnachtsgeschichte gekonnt und mit viel Freude gebrochen und ins Gegenteil verkehrt.

Der Autor

Thomas Finn, geboren 1967 in den USA, hat sich in der deutschen Rollenspiellandschaft als Autor diverser DSA-Abenteuer seit 1998 (zum Beispiel Namenlose Nacht oder als Mitautor bei der Borbarad-Kampagne) einen Namen gemacht. Mittlerweile hat er mit aventurischen Romanen, Kurzgeschichten und drei mehrbändigen Romanen in der phantastischen Belletristik Fuß gefasst, verfasst aber zwischendurch auch mal Drehbücher und Theaterstücke.

Wenn man sich auf der Rollenspielveranstaltung Die Nacht des Hamburger Vereins Die Loge e.V. herumtreibt, kann es durchaus passieren, dass man ihn auch als Spielleiter eines gruseligen Abenteuers erlebt.

Erscheinungsbild

Eine goldgeprägte Perchtenmaske prangt auf dem Pappschuber in weißem Lederimitat, welches das eigentliche Buch mit demselben Coverbild umhüllt. Das alleine reicht schon aus, die Sonderausgabe als solche zu rechtfertigen. Der buchheim-Verlag legt aber noch ein paar Schippen obendrauf: Angefangen bei dem guten Dutzend ebenso düsterer wie stimmungsvoller Illustrationen in monochromem Dunkelblau von Ben Baldwin über die verzierten Seitenränder, in denen Seite für Seite Eiszapfen schmelzen, bis zu den 13 Einlagen in unterschiedlichsten Formaten (Postkarten, Bilder, Poster, etc.) – das Buch durchzublättern ist schon ein Erlebnis.

Dazu wurde wertiges, dickes und offenporiges Papier verwendet und die Schriftfarbe wechselt von schwarz zu Eisblau für die Teile des Buches, die in der Gegenwart spielen.

Die Beigaben beziehen sich auf den Inhalt und stellen allesamt Elemente dar, die in der Geschichte erwähnt und teilweise benutzt werden und fügen der Geschichte somit ein haptisches Element hinzu.

Das Buch als Rollenspielabenteuer

Der Roman als Rollenspielszenario im Beiheft.

In einer Tasche im hinteren Buchdeckel findet man eine weitere Beilage: Ein 24seitiges Heft mit dem Rollenspielabenteuer zum Roman. In dem A5-Softcover wird der wesentliche Inhalt des Romans übersichtlich aufbereitet für Spielleiter*innen, welche die Geschichte für ihre Gruppe mit dem System leiten möchten, welches ihnen dafür jeweils passend erscheint. Dementsprechend finden sich auch keine Werte, sondern vielmehr eine hilfreiche Inhaltsangabe der wichtigen Ereignisse des Romans, Hintergründe, Auflistungen der wichtigen Personen sowie eine Zeittafel aller verschwundenen Kinder.

Im Gegensatz zu üblicherweise freier Charaktererschaffung basiert das Szenario auf den fünf jugendlichen Hauptprotagonist*innen, die als praktische Kopiervorlage mit wichtigsten Informationen zu den Figuren zur Ausgabe an Spielende beigelegt sind.

Die Informationen sind in zahlreiche Kapitel und Paragraphen unterteilt und Schlüsselbegriffe sind fettgedruckt hervorgehoben, so dass man sich trotz des zweispaltigen Prosa-Layouts verhältnismäßig gut zurechtfinden kann.

Als Spielleitung wird man trotzdem nicht umhinkommen, Werte für das System der Wahl herauszuarbeiten und das Szenario für sich aufzubereiten. Das Heft nimmt einem dabei aber viel Arbeit ab, so dass man nicht den ganzen Roman noch einmal durchgehen muss.

Die harten Fakten:

  • Verlag: buchheim Verlag
  • Autor*in(nen): Thomas Finn, Ben Baldwin (Illustrationen)
  • Erscheinungsdatum: 2022
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Hardcover im Schuber
  • Seitenanzahl: 479 (Buch), 24 (Abenteuerheft)
  • Preis: 79,99 EUR
  • Bezugsquelle: buchheim Verlag

Bonus/Downloadcontent

Im Nachwort geht Thomas Finn genauer auf die Entstehungsgeschichte des Romans ein und beschreibt kurz, wie durch die Recherchearbeit über die realen Hintergründe die Geschichte nach und nach Form angenommen hat. Hier merkt man, wie sehr das folkloristische Thema ihn fasziniert und inspiriert hat.

Das zweite Nachwort beschreibt noch einmal die Überlegungen, die zur Umsetzung der Vorzugsausgabe geführt haben und welche Bedeutung dieses Buch für ihn hat.

Für den Fall, dass man die zahlreichen Beilagen durcheinander bringt, gibt es auf der Verlagsseite eine hilfreiche Übersicht, zu welcher Seite welche Beilage gehört.

Fazit

Vor der lieblichen Kulisse einer vorweihnachtlichen, süddeutschen Provinz geht eine Handvoll Jugendlicher angesichts einer mächtigen, alten und übernatürlichen Bedrohung auf die Spur ihrer rätselhaften, gemeinsamen Vergangenheit. Dabei entdecken sie, wie nicht nur die Erwachsenen im Ort sondern sogar deren kirchliche und vorchristliche Gebräuche mit dem Bösen in Zusammenhang stehen.

Auch wenn es um Jugendliche geht – Weißer Schrecken ist kein Kinderbuch, sondern ein spannender Mystery-Thriller der seinem Namen alle Ehre macht und auch mit blutigen Szenen auffährt.

Mit der Vorzugsausgabe erhält man eine besonders wertige Neuauflage, deren Präsentation, Gestaltung und zahlreiche Beigaben den stolzen Preis durchaus rechtfertigen. Bibliophile, Fans des Autors und Rollenspielende mit Hang zum Gruseligen, die den Roman noch nicht kennen, sollten hier auf jeden Fall zugreifen und schnell eines der 777 limitierten Exemplare ergattern.

  • Packende Geschichte
  • Stimmungsvolle Illustrationen und Beilagen
  • Rollenspielabenteuer
 

  • Leichter Infodump

 

Artikelbilder: ©buchheim-verlag
Layout und Satz: Annika Lewin
Lektorat: Maximilian Düngen
Fotografien: Benjamin Dose
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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