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Die sechste Welt ist vielfältig und wandelbar. In vielen Quellen- und Regelbüchern, Romanen und anderen Informationsschnipseln liest man Informationen darüber, was einst war, gerade ist oder vielleicht bald sein wird. Versionsübergreifend soll die Neo-Anarchistische Enzyklopädie einen Überblick über all das bieten, was die Welt von Shadowrun

Auf der Schwelle von der fünften zur sechsten Edition erscheint ein Quellenbuch, wenn man es denn so nennen will, das so voller Fluff ist, dass es ganz ungewohnt ist. Keine einzige Regel liest man da. Man fühlt sich an den Almanach der sechsten Welt erinnert und hat sofort eine wichtige Frage: Was zum Drachen haben die Neo-Anarchisten damit zu tun?

Inhalt

Im Buch stellen sich die Neo-Anarchisten als Informationsheilbringer dar. Wissen ist Macht. Die Menschen sollen Zugang zu Wissen erhalten und damit frei werden. Was sie dann mit dem Wissen anfangen, ist den Neo-Anarchisten egal. Dass die Enzyklopädie unter dieser Prämisse steht, ist eine witzige Idee. Natürlich muss man sich nun immer fragen, ob die Informationen wirklich unabhängig sind.

Der Inhalt einer Enzyklopädie ist nicht schwer zu beschreiben: In alphabetischer Reihenfolge werden wichtige Begriffe aufgelistet und erklärt. Von der Abtrünnigen Loge bis zum Zürich-Orbital-Habitat werden weit über 300 Begriffe mit mehr oder weniger starker Relevanz und in vollkommen unterschiedlichem Umfang geklärt. Die unter Runnern berühmte smaragdgrüne Stadt, Seattle, erhält keine ganze Seite und die Elfensprache Sperethiel lediglich einen Absatz, während der Beitrag zum Konzern Mitsuhama Computer Technologies fast zwei Seiten umfasst. Ob das von den Anarchisten gewollt ist?

Die Anzahl der erklärten Begriffe klingt nach viel, doch wer sich schon einmal durch die entsprechenden Wikis im Netz geklickt hat oder bereits eine gewisse Zeit in den Schatten unterwegs ist, weiß, dass es Tage dauern kann, einen groben Überblick über die Historie der sechsten Welt zu erhalten. Das ist sicherlich einer der Gründe, die dafür sprachen, eine Auswahl an Begriffen zu treffen, neben dem begrenzten Platz, der in einem Druckexemplar im Gegensatz zu einer Online-Bibliothek zur Verfügung steht.

Die Eingrenzung hat ihre Nachteile. Irgendwann müssen Informationen als gegeben vorausgesetzt werden. So werden im Passus der Astral Space Preservation Society (ASPS) Hestaby und Ibu Air erwähnt. Während die Großdrachin natürlich eine eigene Erläuterung hat, liest man vom freien Geist Ibu Air nicht mehr als die paar Worte im ASPS-Teil.

Außerdem haben sich Fehler oder zumindest Ungereimtheiten in das Buch geschlichen. In der gleichen Passage des ASPS wird erwähnt, dass die Gelder von Hestaby der ASPS zugutekommen, doch im 2014 erschienenen Blutige Geschäfte, welches Plothooks bietet und dessen Inhalte auf 2077 datiert sind, endet ein Run mit dem Verkauf der ASPS an Wuxing. Das sind widersprüchliche Informationen. Besonders, wenn man bedenkt, dass Shadowrun 6 in den 2080ern spielen soll und die Neo-Anarchistische Enzyklopädie auch für diese junge Edition gedacht ist.

Ganz selten sind auch Kommentare zu finden, wie man es aus anderen Shadowrun-Büchern gewohnt ist.
Ganz selten sind auch Kommentare zu finden, wie man es aus anderen Shadowrun-Büchern gewohnt ist.

In einigen Bereichen stellt sich außerdem die Frage, ob nicht noch ein paar Seiten mehr die Enzyklopädie runder gemacht hätten. So finden sich fast zwei ganze Seiten mit Namen und Kurzinformationen zu bekannten erwachsenen Drachen. Diese Liste ist nicht einmal mit den großen und bekanntesten Drachen versehen, wie Dunkelzahn, Lofwyr oder Hestaby, die alle ihre eigenen Einträge in der Enzyklopädie haben. Einen wirklichen Mehrwert bringt die Tabelle nicht. Es sind Namen, mit denen die meisten LeserInnen nichts verbinden werden.

Bei den Sprachen wäre der Platz besser aufgehoben. Jede Runde hätte sich über ein kleines Wörterbuch von ein oder zwei Seiten mit Vokabular aus Or`zet, Sperethiel oder Nahuatl gefreut. Damit kann man den Fluff aus der Enzyklopädie ins Spiel bringen. Eine vergebene Chance.

Die Texte wirken insgesamt nicht einheitlich, sondern wie chaotisch Zusammengetragenes. Nimmt man den Hintergrund aus der Einleitung dazu, also die Veröffentlichung durch die Neo-Anarchisten, ergibt das auch Sinn. Für die Lesbarkeit ist das leider nicht unbedingt förderlich, wobei die deutsche Übersetzung dabei um einiges besser abschneidet als die englische Version.

Erscheinungsbild

Das vollfarbige Hardcover ist für Shadowrun-Verhältnisse dünn. Der ungewohnte auberginefarbene Buchdeckel mit dem Neo-Anarchisten in Kampfpredigerhaltung sieht interessant und einfach anders aus. Gerade, wenn es neben den grünen und roten Quellen- bzw. Regelbüchern der fünften Edition steht, hebt es sich im positiven Sinne ab.

Man könnte der Enzyklopädie vorwerfen, dass sie unerträglich textlastig ist, aber dann hätte man nicht verstanden, worum es in einer Enzyklopädie geht. Abschreckend kann das dennoch auf den einen oder anderen wirken. Umso wichtiger sind die auflockernden Texteinschübe mit witzigen und obskuren Sprüchen, die sowohl erheitern als auch für Plotansätze nützlich sein könnten.

Die seltenen Bilder sind in unterschiedlichen Stilen erstellt und bedienen die verschiedenen Geschmäcker. Eine ausführliche Inhaltsangabe sowie ein Buchstabenregister erleichtert den schnellen Zugriff auf bestimmte Begriffserklärungen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Pegasus Spiele
  • Autoren: Russel Zimmermann, CZ Wright, Clifton Wright, Thomas Willoughby, RJ Thomas, Scott Schletz, Grant Robinson, Steven „Bull“ Ratkovich, O.C. Presley, Romain Pelisse, Philip Lee, Jason Hawks, Jason M. Hardy, Kevin Czarnecki, Raymond Croteau, Brooke Chang
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Hardcover
  • Seitenanzahl: 187
  • ISBN: 9783957892973
  • Preis: 19,95 EUR (Hardcover/PDF)
  • Bezugsquelle: Amazon (Hardcover), DriveThruRPG (PDF), Sphärenmeister (Hardcover)

 

Fazit

Eines der größten Probleme der Shadowrun-Bücher ist, dass die Informationen, die man als SpielerIn oder SL benötigt, nirgends gebündelt zu finden sind. Manchmal muss man im Bodyshop suchen, manchmal im Harte Ziele und manchmal ganz woanders. Letztlich hat man im schlechtesten Fall dutzende Bücher in der Hand gehabt.

Für Fluff ist die Idee einer Enzyklopädie großartig. Alle Informationen zu wichtigen Dingen, Institutionen und Personen aus der Spielwelt an einem Ort – großartig. Doch die Abstriche, die gemacht werden mussten, damit das Buch in das 20-Euro-Konzept passt, haben dieser Idee nicht gutgetan.

Die Informationen sind mal mehr und mal weniger gut ausgewählt, sorgen aber doch dafür, dass man einen groben Überblick über die sechste Welt bekommt. Dennoch steht die Frage im Raum, an wen sich die Neo-Anarchistische Enzyklopädie richten soll: Für Anfänger sind zu viele lose Enden vorhanden, für Prime-Runner gibt es zu wenig Neues.

Die Gestaltung ist okay, wenn auch nicht herausragend, da die vielen Texte schnell ermüden und nur wenig auflockernde Elemente für Brechungen sorgen. Die kleinen Gerüchte und anderen Einschübe sind tatsächlich großartig humoristisch und sollten für etliche Runs Ideengeber sein.

Ein durchwachsenes Werk, das nicht an den Almanach der sechsten Welt herankommt, aber für interessierte Runner eine Lektüre wert ist.

 

Artikelbild: Pegasus Press, Bearbeitet von Verena Bach
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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