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Folklore, Sagen und Legenden sind zurzeit vor allem in der Popkultur wieder sehr beliebt. Von Zwergen und Feen hat sicherlich jeder schon einmal gehört – doch wie steht es um Holzfralla, Klabauter oder Drak? Mit Hausgeister! wollen die Autor*innen die fast vergessenen deutschen Mythenwesen wieder zurück in unsere Häuser holen.

Musik, Mode, Kochrezepte oder andere kulturelle Güter wandern dank des Internets in Sekunden um den Globus, vermischen und vervielfältigen sich. Gleiches geschieht auch mit und durch die Populärkultur. Geschichten, die einmal in einer abgelegenen Siedlung um ein Feuer herum erzählt wurden, werden heute in bildgewaltigen Blockbustern, Bestsellerromanen, Comics und vielen anderen Medien weiter getragen, vermischt oder neu erfunden.

Daher ist es wenig verwunderlich, wenn man dank Spielehits wie Until Dawn lernt, was es mit Wendigo auf sich hat, durch Disney weiß, was Meerjungfrauen sind oder Frühstücksflocken einem erklärt haben, das Leprechauns etwas mit Regenbögen zu tun haben. Doch bei all dem Überangebot an populärer Folklore vergisst man häufig das, was direkt vor der eigenen Haustüre liegt – oder, besser gesagt, im eigenen Haus wohnt.

Europa und auch Deutschland beherbergen eine große Vielfalt an Sagen, Märchen und Legenden und die dazugehörigen Wesen und Gestalten sind so mannigfaltig wie wundersam. Viele von ihnen sind jedoch mittlerweile stark in Vergessenheit geraten, wenn man sie nicht aus Büchern und Gute-Nacht-Geschichten der Kindertage kennt. Aus diesem Grund wurde 2017 das Projekt Forgotten Creatures vom gemeinnützigen Verein Zeitsprünge e.V. ins Leben gerufen und widmet sich der Wiederbelebung der Erzählungen und Mythenwesen aus den Erzählungen und dem Alltag unserer Vorfahren. Durch lange Recherche und Handarbeit wollen Florian Schäfer, Janine Pisarek und Hannah Gritsch das Vergessene wieder greifbarer machen. In ihrem Buch Hausgeister! Auf den Spuren fast vergessener Gestalten erhält man wie in der gleichnamigen Wanderaustellung einen Einblick in die wichtigsten Typen der Hausgeister, die im heutigen Deutschland überliefert sind.

Inhalt

Hausgeister! ist Sachbuch und Bildband in einem. Beim ersten Blick auf das Inhaltsverzeichnis erkennt man direkt eine übersichtliche Struktur mit rotem Faden, der den Lesenden durch das Buch führt. Hausgeister! ist in insgesamt fünf Kapitel unterteilt. Das Layout ist sehr aufgeräumt, gibt dem Text genug Raum zur angenehmen Lesbarkeit. Markierungen für besondere Fakten oder Texte sind nicht zu dominant, aber klar erkennbar. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Präsentation der hochwertigen Bilder, die meist großflächig eingebunden werden. Mit den Fotografien, welche die Mythenwesen und das zu vermittelnde Wissen um zeitlichen und lokalen Kontext stimmungsvoll transportieren, wird das Gelesene direkt lebendig und greifbar inszeniert, ohne dass dabei das eine vom anderen zu sehr ablenkt.

Der wissenschaftlicheren Natur der Publikation geschuldet wird viel mit Zitaten und überlieferten Textpassagen gearbeitet, jedoch ohne zu überfrachten oder den Lesefluss zu stören. Im Textverlauf fallen zwar viele Fachwörter, doch hat man nicht das Gefühl, eine trockene wissenschaftliche Abhandlung zu lesen. Die anschaulichen Beispiele lockern den Inhalt dazu genug auf, um eine Brücke zwischen Bildband, Belletristik und Sachbuch zu schlagen.

Kunst und Kunstgeschichte

Im ersten Part werden die Basics der Thematik aufgegriffen, Hausgeister in den zeitgeschichtlichen Kontext gebracht und anhand dessen definiert. Hierbei wird auf gesellschaftliche und politische Einflüsse eingegangen, welche die Menschen und ihre Glaubenskonstrukte seit dem Mittelalter vor allem im deutschsprachigen Raum beeinflussten. Schließlich wird ein genauerer Fokus durch die Erzählforschung im Hinblick auf Hausgeister und ihre multiplen Erscheinungsformen gesetzt. Dieser legt nachvollziehbar dar, weshalb diese Mythenwesen ein schwierig zu erforschender, jedoch faszinierender Teil der Kultur- und Erzählhistorie sind.

Vergessene Mitbewohner

Im insgesamt längsten Kapitel werden die wichtigsten Kategorien der überlieferten Hausgeister vorgestellt. Das Vorgehen ist auch hier übersichtlich strukturiert und geht auf alle Facetten ein. Die Wesensart wird erklärt durch die Herkunft, mögliche Unterschiede durch Lokalkolorit und die verschiedenen Aspekte, die es in seiner Unterkategorie annehmen kann. So sind Kobolde zum Beispiel sowohl als Schutzgeister, Poltergeister oder auch Hausteufel anzutreffen – zu Wasser findet man sie dazu noch als Klabautermänner.

Jedes dieser Wesen wurde nach historischen Quellen definiert, im Rahmen des Forgotten Creatures-Projekt als Plastik zum Leben erweckt und für den Bildband in Szene gesetzt. So werden, einem Sachbuch über reale Wesen ähnlich, die Wesen und ihre Unterschiede greifbarer gemacht. Dies gilt für die grundlegenden Merkmale der Wesensart sowie für seine Unterarten, die alle ebenfalls eigene Portraits erhalten haben. Beispiele aus der Populärkultur, Bezüge auf die Wirkungsorte und überlieferte Texte sowie Geschichten runden die Vorstellungen umfassend ab.

Interdisziplinäre Geisterforscher*innen

Die Forschung rund um Entitäten in und um das traute Heim beschäftigte Wissenschaftler*innen schon seit jeher. Daher wurde eine kleine Aufsatzsammlung aus verschiedenen Fachbereichen, wie zum Beispiel Archäologie, Psychologie und Kunsthistorie als weiteres Kapitel inkludiert. Diese sechs Essays betrachten Hausgeister bzw. -götter in anderem kulturellen und geschichtlichen Kontext – vom alten Rom über mittelalterliche Bauopfer (die oft in Fundamente eingebettet wurden) bis hin zu Spuk an sich. Man erkennt schnell viele Unterschiede, doch umso mehr Gemeinsamkeiten, die Menschen über Jahrhunderte und Länder hinweg in ihrem Glauben und Beobachtungen verbanden.

Metamorphose der Geisterwesen

Zum Abschluss des Buches eröffnen die selbst ernannten Geisterjäger*innen einen Blick hinter die Kulissen des Projektes und Einblick in die Mythenwerkstatt, in der sie nicht nur auf der Suche nach evasiven Mythenwesen gehen, sondern sie auch gleichzeitig zum Leben erwecken. Schritt für Schritt wird das Vorgehen erklärt und bebildert bis hin zur fertigen Inszenierung, die einen auf Bildern gerne einmal vergessen lässt, dass es sich hier lediglich um Figuren handelt. Auch teilt das Team des Forgotten Creatures-Projekts seine Gedanken und Erkenntnisse zum Glauben an Mythenwesen, der nie wirklich verschwunden ist, sondern sich lediglich gewandelt hat.

Die Geister sind vielmehr abgetaucht oder in anderer Form wiedererschienen. Denn die Narrative im Bereich des Übernatürlichen ist von jeder Hand formbar, ohne eine Faktenbasis zu benötigen. So entstehen stetig Neuschöpfungen oder alte Wesen in neuem Gewand. Dies erschwert zwar die Recherche, doch ist es auch der Kern eben jener Geistgestalten schwer zu fassen zu sein.

Wenn wir das Phantastische in den alltäglichen Dingen sehen, gehen wir womöglich mit mehr Achtsamkeit und Begeisterung durchs Leben.


Hausgeister!, S.188

Autor*innen

Florian Schäfer

Florian Schäfer ist der Initiator des Projekts Forgotten Creatures. Der studierte Naturwissenschaftler verbindet seine lange Leidenschaft für heimische Sagen und Legenden mit seinem Wissen über Anatomie, Ökologie und Kulturwissenschaften, um die Mythenwesen wieder zum Leben zu erwecken. Als Feensammler jagt er auch im Larp-Kontext schon einige Jahre nach neuen Geschichten – mehr dazu findet ihr in einem Interview, dass Teilzeithelden mit ihm geführt hat.

Janin Pisarek

Janin Pisarek ist Erzählforscherin und für die wissenschaftliche Qualitätskontrolle zuständig. Sie studierte Volkskunde sowie Kulturgeschichte und Erziehungswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Abschlussarbeit über Wolf und Werwolf in Narrationen/Erzählungen und im deutschen Volksglauben unter Einbezug der aktuellen Rückkehr des Wolfes erhielt den Gesonderten Förderpreis der Märchenstiftung Walter Kahn.

Hannah Gritsch

Hannah Gritsch ist Kommunikationsdesignerin mit Schwerpunkt Fotografie und Grafik Design. Mit ihrem einzigartigen Stil schafft Hannah es auf faszinierende Weise, den Skulpturen von Florian Leben einzuhauchen. Sie ist die kompetente Ansprechpartnerin für alle grafischen und ästhetischen Belange und steht dem Projekt mit ihren Erfahrungen in der Werbebranche zur Seite.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Böhlau-Verlag
  • Autor*innen Florian Schäfer, Janin Pisarek, Hannah Gritsch
  • Erscheinungsdatum: 10. August 2020
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Hardcover, 29,5cm x 20,5cm
  • Seitenanzahl: 196
  • ISBN: 978-3-412-52020-5
  • Preis: Hardcover, 35,00 EUR / E-Book: 27,99 EUR
  • Bezugsquelle Fachhandel, Forgotten Creatures, Amazon, idealo

 

Fazit

Hausgeister! Fast vergessene Gestalten der deutschsprachigen Märchen- und Sagenwelt ist mehr als ein Sachbuch über Ammenmärchen und Geistergeschichten. Es ist altes, doch uns immer noch nahes Kulturgut; greifbar gemacht in einer modernen Form. Gekleidet in das Gewand eines Coffee-Table- oder Artbooks, wie sie zu vielen popkulturellen Themen existieren gibt Hausgeister! einen tiefen Einblick in eine Forschung zu Wesen, die für uns weit entfernt in vorangegangenen Jahrhunderten liegen, doch gleichzeitig in unseren eigenen vier Wänden zu finden sind. Ein Paradoxon in sich – rätselhaft und interessant zugleich. So wie es bei Geistern schon immer war.

Eine gute Anschaffung für alle, die einen qualitativ hochwertigen Bild- und Sachband schätzen, der sich mit der eigenen Geschichte befasst oder jene, die das Phantastische in ihrem eigenen Alltag wiederentdecken wollen.

Artikelbilder: © Hannah Gritsch, Florian Schäfer (Forgotten Creatures)
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Lukas Heinen
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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