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Vaesen, mythische Kreaturen, die nur von manchen Menschen gesehen werden können, gibt es auf der ganzen Welt. Nach Skandinavien wird nun das Vereinigte Königreich genauer für die Spielwelt von Vaesen beschrieben. Im Erweiterungsband Mythic Britain & Ireland finden sich alle Informationen, um das neue Setting bespielen zu können.

Nach dem fulminanten Erfolg des Grundregelwerkes Vaesen aus dem Hause Free League, konnte der Erweiterungsband Mythic Britain & Ireland im Jahr 2021 auf Kickstarter ohne Probleme an dieses Ergebnis anknüpfen. Die Erweiterung ergänzt das Grundregelwerk um die Regionen Großbritannien und Irland. Sie enthält Informationen über England, Wales, Schottland und Irland sowie wichtige Städte, Orte und Personen und führt weitere Vaesen ein. Zudem finden sich am Ende drei ausgearbeitete Abenteuer mit einem Umfang von jeweils etwa zwanzig Seiten.

Die gedruckte Variante von Mythic Britain & Ireland erscheint offiziell am 11. Oktober 2022, kann aber bereits vorbestellt werden. In diesem Fall bekommt man die PDF-Version kurze Zeit später und nicht erst zum Erscheinungstermin zugeschickt.

Die Spielwelt

Während sich das Grundregelwerk zu Vaesen auf Skandinavien und insbesondere Schweden konzentriert, liegt der Fokus dieses Buches auf dem Vereinigten Königreich mit England, Schottland, Wales und Irland. Auch hier wird kein Anspruch auf historische Korrektheit erhoben. Vielmehr ist das Setting eine Mischung aus Historie, Folklore und Fantasy.

Das von Queen Victoria regierte Vereinigte Königreich in Mythic Britain & Ireland befindet sich Ende des 19. Jahrhunderts im Aufbruch, denn die Industrialisierung ist in vollem Gange. Die Union der vier Länder ist dabei alles andere als stabil, wurde sie doch nicht von allen freiwillig gebildet. So existieren viele verschiedene Konflikte: zwischen Stadt und Land, den reichen Arbeitgeber*innen und den sich abrackernden Arbeitenden und natürlich auch zwischen der sterblichen und übernatürlichen Welt – in diesem Fall also zwischen Menschen und Vaesen.

Eine Szene aus dem Leben der einfachen Bevölkerung in London.
Eine Szene aus dem Leben der einfachen Bevölkerung in London.

Wie in Skandinavien, so existiert im Vereinigten Königreich ebenfalls eine Society. Ihre Geschichte geht zurück bis ins 16. Jahrhundert. Im Gegensatz zur skandinavischen Society hat diese jedoch keinen herben Rückschlag durch den Verlust fast all ihrer Mitglieder erlitten und muss daher auch nicht erst wieder neu aufgebaut und etabliert werden.

Das Buch gibt der Spielleitung verschiedene Möglichkeiten an die Hand, wie das mythische Vereinigte Königreich gestaltet werden kann. Neben 13 neuen Vaesen werden wichtige Orte wie Glasgow, Manchester oder Dublin, mysteriöse Orte wie Loch Ness oder der Bergrücken Cadair Idris sowie Parallelwelten aus der Folklore wie zum Beispiel Tír Na nÓg vorgestellt. Der Beschreibung Londons wird schließlich besondere Aufmerksamkeit gewidmet, da sich hier der Hauptsitz der Society des Vereinigten Königreiches befindet.

Regeln und Charaktererschaffung

Jeder Charakter besitzt vier Attribute und eine Reihe von Fertigkeiten. Um eine Probe zu würfeln wird eine Anzahl an sechsseitigen Würfeln verwendet, die sich aus dem Wert eines Attributs und einer passenden Fertigkeit errechnet. Dabei ist jede gewürfelte Sechs ein Erfolg. Charaktere besitzen keine Lebenspunkte, sondern erleiden Conditions, von denen man jeweils drei physische oder mentale ansammeln kann, bis der Charakter zusammenbricht. Zudem gibt es Talente, die den Charakteren verschiedene Vorteile verleihen. Am Ende jedes Abenteuers werden bestimmte Ja/Nein-Fragen gestellt. Jede Antwort, die „Ja“ lautet, gibt dem Charakter einen Erfahrungspunkt. Auf ähnliche Weise wird das Hauptquartier ausgebaut.

Der Erweiterungsband nutzt die vom Grundregelwerk eingeführten Regeln, deshalb muss dieses zum Spielen vorhanden sein, da die Regeln nicht noch einmal erklärt werden.

Ergänzend gibt es einige kleine Erweiterungen, wie neue Talente oder die optionale Möglichkeit, den sozialen Stand von SC und NSC regeltechnisch abzubilden.

Auch die Charaktererschaffung ist nicht verändert. Stattdessen wurden die drei neuen Archetypen Athlete, Entertainer und Socialite eingeführt. Diese sind kompatibel mit dem skandinavischen Setting und können von der Spielleitung frei modifiziert werden, um sich besser einzufügen.  

Manche Vaesen wie die Banshee kennt man auch hierzulande aus Geschichten.
Manche Vaesen wie die Banshee kennt man auch hierzulande aus Geschichten.

Spielbericht

Um das neue Setting auszutesten wurde „The Llantywyll Incident“, eines der drei im Buch enthaltenen Abenteuer gespielt. Dieser Aufgabe stellten sich der Privatdetektiv Benedict Williams aus London, der Priester Erik Nyström aus Uppsala und die Jägerin Fria Eklund, ebenfalls aus Uppsala. Erik und Fria hatten in der Vergangenheit bereits Abenteuer zusammen erlebt und gehören der Society in Schweden an. Um die Beziehung zu der in London wiederaufleben zu lassen, reisten sie nach England und trafen dort auf Benedict.

Spoiler-Warnung: Wer dieses Abenteuer noch als Spieler*in erleben möchte, sollte die nächsten Abschnitte überspringen.

The Llantywyll Incident

Alles beginnt mit dem Brief einer alten Freundin, der Benedict erreicht. Der darin beschriebene Vorfall lässt die Charaktere vermuten, dass Vaesen daran beteiligt gewesen sein könnten. Umgehend machen sie sich mit dem Zug auf eine zweitätige Reise nach Llantywyll in Wales. In der Stadt angekommen merkt Erik, dass eine angespannte Stimmung herrscht. Doch bevor sie dem auf den Grund gehen, besuchen sie Benedicts Freundin Dr. Evan. Sie erzählt ihnen von dem Zwischenfall in der örtlichen Schiefermine: Diese stürzte während eines Gottesdienstes teilweise ein. Der Reverend John Griffith, der den Gottesdienst halten wollte, wurde als einziger verletzt, sein Bein ist gebrochen. Dies bestärkt die Dorfbewohner*innen in ihrem alten Aberglauben, dass keine christlichen Symbole in die Mine gebracht werden dürfen.

Somit ist das nächste Ziel klar: der Reverend. Ihre erste Anlaufstelle hierfür ist die Kapelle des Dorfes. Die dort beschäftigte Reinigungsfachkraft drückt ihr Missfallen gegenüber Griffith aus und deutet an, dass es vielen im Dorf ähnlich geht. Anscheinend ist der Reverend neu und respektiert im Gegensatz zu seinem Vorgänger nicht den vorherrschenden Aberglauben. Deshalb beschließt die Gruppe, sich zuerst im Dorf nach weiteren Meinungen umzuhören und wo gelingt so etwas besser als im örtlichen Pub? Dort erzählt ihnen ein Dorfbewohner von Wesen namens Coblynau, die angeblich zusammen mit den Menschen in der Mine arbeiten und bestimmte Dinge wie das Fluchen und christliche Symbole nicht mögen. Gesehen hat sie allerdings noch niemand. Die Charaktere sind sich nun sicher, dass tatsächlich Vaesen für den Vorfall in der Mine verantwortlich sind und sind entschlossen, den Konflikt mit Diplomatie zu lösen.

Anschließend steht der Besuch beim Reverend an. Er ist allerdings uneinsichtig und will die Dorfbewohner*innen von ihrem Aberglauben abbringen, indem er, wenn er wieder fit ist, erneut einen Gottesdienst in der Mine abhält. Während einer angeregten Diskussion über den Vorfall können Benedict und Erik ihn zwar nicht überzeugen, lassen ihn allerdings nachdenklich zurück.

Die Coblynau sind den Menschen wohlgesonnen – solange diese ihre Regeln einhalten.
Die Coblynau sind den Menschen wohlgesonnen – solange diese ihre Regeln einhalten.

Das nächste Ziel ist die Besitzerin der Mine. Die Charaktere wollen zum einen eine Erlaubnis erhalten, die Mine zu betreten und zum anderen erwirken, dass dem Reverend der Zugang zur Mine verwehrt wird. Um das zu erreichen, gehen sie ein Risiko ein, indem sie die Wahrheit erzählen: dass die Mine von Wesen bewohnt wird, die den Menschen zwar freundlich gesonnen sind, es aber nicht mögen, wenn ihre Regeln gebrochen werden. Tatsächlich lässt die Minenbesitzerin sich auf den Vorschlag ein, dass die Charaktere den Coblynau gutes Essen und Trinken anbieten, um sie wieder zu besänftigen. Falls das erfolgreich ist, will sie dem Reverend den Zugang zur Mine in Zukunft verwehren.

Und so machen die drei sich mit Kuchen und Wein auf den Weg zur Mine und werden dabei von ein paar neugierigen Dorfbewohner*innen bis zum Eingang begleitet. In der Mine sehen sie schließlich wirklich einen Coblynau davonhuschen. Sie stellen die Kuchen und den Wein ab und warten. Ihre Geduld wird belohnt, denn nach und nach kommen mehrere Coblynau und bedienen sich an den mitgebrachten Dingen. Mit dem von Erik zuvor geschriebenen Brief können sie allerdings nichts anfangen, also redet Fria mit ihnen und entschuldigt sich für das, was der Reverend getan hat. Auch wenn die Coblynau scheinbar nur ihre eigene Sprache sprechen können, so verstehen sie die menschliche und akzeptieren die Entschuldigung.

Als die Gruppe die Mine wieder verlässt, herrscht draußen Aufruhr, da der Reverend angekommen ist und verlangt, hineingelassen zu werden. Mit vernichtenden Argumenten ziehen Erik und Benedict alle Dorfbewohner*innen auf ihre Seite, die sich daraufhin gegen den Reverend stellen. Somit ist gesichert, dass die Regeln der Coblynau eingehalten werden und eine erneute friedliche Koexistenz in der Mine zwischen Menschen und Vaesen möglich ist.

Spielbarkeit des Abenteuers

Das Abenteuer konnte überzeugend die aus anderen Szenarien bekannte, mystische Atmosphäre aufbauen und folgt der gleichen Gliederung, wodurch es sich gut leiten lässt. Mit den Schieferminen in Wales bietet es einen neuen Handlungsschauplatz, in dem Industrialisierung auf die alten Gewohnheiten und den Aberglauben der Bevölkerung stößt. Einzig die Art und Weise, wie der Reverend aufgehalten werden kann ist wenig ausgebaut. Aber mit einer Gruppe einfallsreicher Spieler*innen sollte das kein großes Problem darstellen.

Auf Seiten der Spieler*innen war es sehr angenehm, dass die Einbindung der beiden Charaktere aus Schweden problemlos funktioniert hat. Das Abenteuer selbst enthält viele Informationen, die das Spielen zu einer sehr lebendigen Erfahrung machen. Zum Beispiel die Charakterisierung der Dorfgemeinschaft, die beste Anreiseoption oder eine zur Verfügung gestellte Aussprachehilfe für den Ortsnamen Llantywyll.

Während des Abenteuers konnte man sich zwar früh denken, dass vermutlich Vaesen mit dem Vorfall in der Mine zu tun haben, doch die wirklich spannenden Fragen sind ohnehin, um welche Vaesen es sich handelt und wie man am besten mit der Situation umgeht. Besonders interessant war der Konflikt zwischen menschlichem Aberglauben, christlichem Glauben und den Vaesen und damit die Herausforderung zu versuchen, diesen zu lösen. Dass dies gewaltfrei geschehen konnte, war eine willkommene Abwechslung. Leider war keiner der neuen Archetypen interessant genug, dass die Spieler*innen sie austesten wollten. Dieser Punkt hängt aber stark von persönlicher Präferenz ab.

Manchen Vaesen, wie dem Nuckelavee, möchte man lieber nicht begegnen.
Manchen Vaesen, wie dem Nuckelavee, möchte man lieber nicht begegnen.

Erscheinungsbild

Der 157 Seiten umfassende Erweiterungsband ist, wie das Grundregelwerk, sehr ästhetisch gestaltet. Der Text ist pro Seite in zwei Spalten aufgeteilt und wird immer wieder durch Kästen, Tabellen, Karten oder Bilder aufgelockert. Die Illustrationen, die hauptsächlich von Johan Egerkrans stammen und auch schon im ersten Vaesen-Buch begeisterten, sind farbig oder in schwarz-weiß gehalten und tragen maßgeblich zur mystischen Stimmung dieses Rollenspielsystems bei.

In der PDF sind die einzelnen Punkte des Inhaltsverzeichnisses und Indexes verlinkt, was die Navigation nochmals vereinfacht.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Free League Publishing
  • Autor*in(nen): Graeme Davis
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: Englisch
  • Format: Hardcover, PDF
  • Seitenanzahl: 157
  • ISBN: 978-91-89143-61-6
  • Preis: ca. 36 EUR (Hardcover)
  • Bezugsquelle: Fachhandel

 

Fazit

Mythic Britain & Ireland ist inhaltlich und in seiner Erscheinung ebenso hochwertig wie das Grundregelwerk, nimmt dessen Atmosphäre überzeugend auf und transferiert sie auf das neue Setting. Die gelieferten Informationen sind insbesondere für die Spielleitung äußerst hilfreich, um die Spieler*innen und ihre Charaktere durch mystische Abenteuer im Vereinigten Königreich zu führen. Insgesamt ist das Buch eher dafür gedacht, von der Spielleitung gelesen zu werden und als solche sollte man den Spieler*innen nur Abschnitte mit allgemeinen Informationen, wie dem Leben auf dem Land oder in der Stadt, an die Hand geben.

Wer bereits Freude an Vaesen hat und über den skandinavischen Tellerrand hinausblicken möchte, macht mit diesem Erweiterungsband alles richtig. Da die Regeln hier nicht noch einmal erklärt werden, ist das Grundregelwerk nötig, um spielen zu können.

 

  • Viele Infos zum Setting plus 13 neue Vaesen
  • Hochwertige Aufmachung
  • Enthält drei Abenteuer
 

  • Nicht immer klar, was reine SL-Information ist

 

Artikelbilder: © Fria Ligan AB, Johan Egerkrans
Layout und Satz: Yola Tödt
Lektorat: Denise Hollas
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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