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Mit einem spannenden Bau-Mechanismus und wunderschönem Artwork verspricht Kleine Völker, großer Garten von Board Game Circus ein taktisches Spielerlebnis für die gesamte Familie. Die namensgebenden kleinen Völker wurden aus ihrem Wald vertrieben und müssen nun aus alten Holzkisten und Transistorradios eine neue Stadt aufbauen. Und wir müssen dabei helfen.

Schon 2021 veröffentlichte das Ehepaar Rémi und Nathalie Saunier Garden Nation in englischer Sprache bei Bombyx. Dieses Jahr folgte nun der Launch auf Deutsch bei Board Game Circus und rein subjektiv gefällt der Name Kleine Völker, großer Garten wesentlich besser. Es ist ein kompetitives Area-Majority-Spiel mit einem einfach wirkenden und doch sehr frischen Mechanismus rund um die Bewegung eines Schildkrötenkrans. Warum genau dieser Mechanismus das Spiel zu etwas Besonderem macht und ob das Thema der kleinen vertriebenen Völker in ihrem neuen Garten gut umgesetzt ist, erfahrt ihr in diesem Artikel.

Spielablauf

Kleine Völker, großer Garten ist geradeheraus bei seinem Spielziel: Wer die meisten Siegpunkte am Ende des Spiels hat, gewinnt. Siegpunkte werden durch öffentliche und geheime Bauvorhaben sowie der Anzahl der Bevölkerung am Spielende vergeben.

Das Spielfeld.

Beim Spielaufbau zeigt sich direkt, wo der Wiederspielwert liegt: Die sieben Gebietsteile sind zufällig anzuordnen und so sind bei jeder Partie andere Kombinationen des Spielfelds möglich. Wie die Gebiete in einer Partie bespielt werden, wird durch den oben bereits erwähnten Schildkrötenkran bestimmt. Dessen Mechanismus ist der elementare Kern des Spiels. Aktionen dürfen nämlich ausschließlich in dem Gebiet ausgeführt werden, in dem sich der Schildkrötenkran befindet. Wurde eine Aktion ausgeführt, wird überprüft auf welchem Feld des Gebietes dies geschehen ist. Anschließend wandert der Schildkrötenkran auf das Gebiet analog zum entsprechenden Feld. Wurde also beispielsweise im oberen rechten Feld gebaut, springt die Miniatur auf das Gebiet oben rechts. Sind Position von Feld und Gebiet identisch, bleibt der Schildkrötenkran dort.

Das Fraktionstableau.

Mit der Erklärung dieser essenziellen Regel können wir nun in den eigentlichen Ablauf einsteigen. Das Spiel wird in mehreren Runden mit je drei Phasen gespielt. Es endet, wenn die erste Fraktion ihren letzten Gebäudestein gesetzt hat.

Die erste der drei Phasen einer Runde ist die Aktionsphase. In dieser Phase haben wir je nach Position auf der Zugreihenfolgeleiste eine (als erste Person auf der Leiste) oder zwei Aktionen. Hat man seine eigenen Aktionen erledigt, wählt man eine Person, die in dieser Runde noch nicht am Zug war. Diese ist nun als nächstes dran. Wer in einer Runde als letztes gespielt hat, beginnt in der neuen Runde. So hat man den kurzen Nachteil eine Runde zum Schluss zu bestreiten, hat dafür aber einmalig drei Aktionen nacheinander.

Der Schildkrötenkran in Aktion.

Die Aktionen selbst sind nicht sehr mannigfaltig. Gebäude können gebaut oder abgerissen werden. Zusätzlich kann man zu jeder Aktion eine List spielen, zu denen wir später noch kommen. Um ein Gebäude zu bauen, muss man auf dem gewünschten Feld die Baukosten nachschauen und entsprechend die eigene Bevölkerungsleiste reduzieren – diese kleinen Leute ziehen in das gebaute Stockwerk ein. Ist es nicht das erste Stockwerk, das gebaut wurde, erhöhen sich die Kosten um jeweils plus eins. Auf den Stockwerken der Mitspielenden darf allerdings nicht gebaut werden. Soll mit einem gebauten Stockwerk ein öffentlich ausliegendes Bauvorhaben erfüllt werden, muss man dem zuletzt gebauten Stockwerk ein Dach aufsetzen. Die Punkte werden sofort gewertet. Gebäude mit Dach zählen am Ende des Spiels nicht für die geheimen Bauvorhaben.

Bei all der Bauerei kann es natürlich vorkommen, dass uns die Bevölkerung ausgeht und wir nicht mehr „zahlen“ können. In diesem Fall (oder aus anderen taktischen Gründen) können Gebäude auch wieder abgerissen werden. Für ein solches Gebäude (welches auch ein Dach haben darf) erhält man die doppelte Anzahl an Bevölkerung zurück, die man zahlen musste. Sollte keine Lust auf Rechnen bestehen, kann die Anzahl auch einfach anhand der Tabelle auf der eigenen Fraktionstafel abgelesen werden.

Die Rückerstattungstabelle.

Diese Tabelle und diese Kosten sind auch in einem weiteren Fall wichtig: Eine weitere bereits erwähnte Handlungsmöglichkeit ist es, eine List zu spielen. Hierfür stehen vier Listplättchen zur Verfügung, die ausgegeben werden können. Sind diese verbraucht, sind keine Listen mehr möglich. Zum einen gibt es die Möglichkeit Gebiet wechseln. Durch dieses Manöver darf der Schildkrötenkran in das Gebiet mit der nächsthöheren oder niedrigeren Zahl verschoben und die eigene Aktion dort ausgeführt werden. Die List Dach verschieben ist ähnlich geradeaus. Man darf ein eigenes Dach auf ein unfertiges Gebäude des gleichen Bodentyps verschieben. Für diese beiden Spielzüge verbraucht man seine eigene Aktion nicht. Bei der dritten List jedoch schon, der einzigen feindlichen List Gebäude überfallen. Für die doppelten Bevölkerungskosten (wie bei Gebäude abreißen) kann ein Gebäude einer anderen Fraktion übernommen werden. Die überfallene Fraktion erhält die Bevölkerung, die bezahlt werden musste.

Die drei Listen.

Nach der – die meiste Spielzeit einnehmenden – Aktionsphase folgt die Bevölkerungsphase. Hierbei werden nacheinander alle Gebiete miteinander verglichen. Die Fraktion, welche die meisten Stockwerke in diesem Gebiet besitzt, darf zwei Felder auf der Bevölkerungsleiste steigern.

Die letzte Phase des Aufräumens besteht nur darin, die Zugreihenfolgemarker von der entsprechenden Leiste zu nehmen. Lediglich die Fraktion, die als letztes am Zug war, darf den Marker nun auf das erste Feld der Leiste legen und weiß somit, wann sie in der nächsten Runde am Zug ist.

Hat eine Fraktion ihr letztes Stockwerk gebaut, wird die begonnene Runde zu Ende gespielt, bevor es an die Endwertung geht. Neben den bereits vergebenen Siegpunkten gibt es nun noch Punkte für die geheimen Bauvorhaben und die Menge an verbliebener Bevölkerung. Die Fraktion mit den meisten Siegpunkten gewinnt.

Die öffentlichen und geheimen Bauvorhaben.

Ausstattung

Die Aufmachung von Kleine Völker, großer Garten ist unheimlich liebevoll. Das Artwork ist absolut stimmig und die Spielsteine der Stockwerke, Dächer und vor allem des Schildkrötenkrans sind eine Augenweide. Doch genau bei dieser liebevollen Ausgestaltung zeigt sich ein großes Problem des Spiels: Das Spiel scheint etwas an seinem Thema vorbeientwickelt worden zu sein. Die einzelnen Völker sind wunderbar detailliert ausgearbeitet. Die sehr gute Anleitung wird sogar mit den jeweils eine Seite langen Hintergrundgeschichten der Fraktionen begonnen, noch bevor über Material oder Spielablauf auch nur ein Wort verloren wird. Doch diese Diversität und die Hintergründe der Fraktionen finden sich im Spiel null Komma null wieder. Alle Fraktionen haben die identischen Voraussetzungen. Gerade durch die Mechanik der Listen hätte man hier zumindest eine optionale Asymmetrie schaffen können.

Das integrierte Sortiersystem wirkt auf den ersten Blick sehr rudimentär, aber de facto braucht es viel mehr gar nicht. Es gibt sechs voneinander abgetrennte Fächer. Vier für jede Fraktion und deren Spielmaterial und zwei für neutrales Material und die Karten für die Bauvorhaben. Für die Karten gibt es sogar eine kleine Tuckbox. Allen Spieler*innen einen Zip-Beutel der eigenen Farbe in die Hand gedrückt und losgespielt.

Die Schachtel von innen.

Bislang nur kurz angerissen muss man das Spielmaterial sehr lobend hervorheben. Die Fraktionstableaus sind die perfekte Kommandozentrale für den eigenen Spielzug, die Tabelle für die Rückzahlungs- oder Übernahmekosten ein super Service. Der Anblick der Schildkrötenkran-Miniatur ist bezaubernd, vor allem wenn man sich die Zeit nimmt, die kleine Hintergrundgeschichte plus Bauplan des Krans in der Anleitung zu lesen und noch mehr Details erkennen kann. Es macht einen Heidenspaß, die Stockwerke beim Bauen aufeinander zu stapeln und abschließend eines der wunderschönen Dächer aufsetzen zu können. Doch auch wenn ich die Materialwahl aus pragmatischen und Kostengründen verstehen kann, ist es schon irgendwie schade, dass bei einem Spiel um die Besiedelung eines Gartens durch Naturvölker die Stockwerke aus Plastik und nicht Holz sind.

Sehr gut gewählt und schnell verinnerlicht ist die Ikonografie der Bauvorhaben-Karten. Über die gute Qualität der Anleitung habe ich oben schon geschrieben. Die Beispiele sind sehr praxisnah und die Erklärung der Bauvorhaben-Karten im Anhang ist äußerst hilfreich.

© Board Game Circus

Die harten Fakten:

  • Verlag: Board Game Circus, Bombyx
  • Autor*in(nen): Rémi Saunier, Nathalie Saunier
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: Deutsch
  • Spieldauer: 60 – 75 Minuten
  • Spieler*innen-Anzahl: 2 3 4
  • Alter: ab 10 Jahren
  • Preis: ca. 40 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Bonus/Downloadcontent

Auf der Webseite von Board Game Circus gibt es einen Direktlink zur Anleitung.

Fazit

Kleine Völker, großer Garten beschert eine schöne Zeit. Nach dem ersten Durchlesen des Regelwerks blieb zunächst ein Gefühl von „das soll alles an Regeln gewesen sein?“ Zu wenig Spielmöglichkeiten schienen sich zu bieten und der Mechanismus des Schildkrötenkrans las sich in der Anleitung sehr willkürlich. Doch das Spiel selbst konnte die Befürchtungen im Nu beiseite wischen. Auch wenn es „nur“ zwei Aktionsmöglichkeiten plus Listen gibt, sind eben jene durch den Mechanismus voller taktischer Tiefe. Wie setze ich den Kran geschickt ein, um mir selbst einen Vorteil oder den anderen Fraktionen einen Nachteil zu bieten? Und wen lasse ich nach mir an die Reihe kommen? Denn auch dieser kleine spieltechnische Kniff macht einen riesigen Unterschied im Spielerlebnis. Lässt man als beginnende Fraktion jemanden absichtlich spät drankommen, riskiert dafür aber, dass diese Person dann drei Spielzüge hintereinander hat?

Der Mittelteil der Spielanleitung.

Das macht sehr großen Spaß, birgt aber auch die Gefahr der Analyse Paralyse. Wenn wie beim Schach jeder Spielzug minutiös durchsimuliert wird, sind bei den anderen leider oft die Smartphones gezückt oder im Zweifel wird – um das Spiel nicht noch weiter in die Länge zu ziehen mit bestimmten Mitspielenden – absichtlich nicht der bestmögliche Zug gespielt.

Hat man jedoch eine Spielgruppe, die rücksichtsvoller vorgeht und nicht jeden Zug hundertzehnprozentig richtig machen muss, versteckt sich ein taktischer Leckerbissen hinter diesem wie ein Familienspiel anmutendem Werk. Es ist superschnell erklärt und trotzdem fühlen sich gelungene Spielzüge so unfassbar befriedigend an. Das Thema ist (auch wenn es aufgesetzt wirkt) ein Garant für eine gewisse Feel-Good-Stimmung und ließ unseren Autor an gute Zeiten mit dem Film Ferngully zurückdenken.

Das Spiel bekommt eine Empfehlung von vier von fünf Stockwerken für den Schildkrötenkran.

  • Wunderschönes Material
  • Frischer Mechanismus
  • Strategischer als erwartet und doch einfach gelernt
 

  • Thema ist aufgesetzt
  • Analyse-Paralyse-Gefahr imminent

 

Artikelbilder: © Board Game Circus
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Denise Hollas
Fotografien: Tim Billen
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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