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Hugo, Nebula, World Fantasy Award – sie sind zweifellos die bekanntesten Preisverleihungen für phantastische Literatur. Von den deutschen Preisverleihungen hört man oft wenig, selbst von den dotierten und prestigeträchtigen. Einer davon ist der Phantastikpreis Wetzlar – was gibt es über ihn zu wissen?

Wenn man sich auf Wikipedia durch die Liste der Phantastik-Preise klickt, sind die englischsprachigen mit Abstand am stärksten vertreten. Nicht nur sind deutschsprachige Phantastik-Preise also rar gesät, wenn man sie schließlich aufgespürt hat, muss man meist eines entdecken: Sie sind undotiert. Die Förderung deutscher phantastischer Literatur ist eindeutig noch ausbaufähig. Umso wichtiger, auf diejenigen Preise aufmerksam zu machen, die nicht nur Prestige, sondern auch ein Preisgeld versprechen. Denn auch die deutsche Phantastik braucht und verdient Unterstützung für gute Arbeit. Einer der Preise, die dies versprechen, ist der mit 4.000 Euro dotierte Phantastikpreis der Stadt Wetzlar, dieses Jahr wieder verliehen am 10. September.

Diesjährige Shortlist und Gewinner*in

Die wichtigste Frage vorweg – wer hat sich denn nun dieses Jahr in der Phantastik verdient gemacht? Die zehn Titel der Longlist sind stets sehr abwechslungsreich (hier die Longlist von 2019). Von modernen Geisterjägerinnen und außer Kontrolle geratenen Brettspielen über Virtual-Reality Science Fiction oder Provinzfantasy bis hin zu phantastischen Interpretationen der 20er Jahre und Kinderbücher mit Mythologie-Elementen kamen die Kandidat*innen für den Phantastikpreis Wetzlar 2022 aus ganz verschiedenen Ecken der phantastischen Literatur. Eine weite Bandbreite an Themen, doch es scheint einige zu geben, die aktuell besonders faszinieren: Zwei der drei Bücher auf der Shortlist haben sich dem Aspekt der Künstlichen Intelligenz gewidmet: Athos 2643 von Nils Westerboer, sowie Pantopia von Theresa Hanning.

Was sind also ihre Ansätze?

Athos 2643 ist von den beiden Titeln deutlich weiter in der Zukunft angesiedelt. Der Name lässt es vermuten – wir befinden uns im Jahre 2643. In diesem Roman wird Science Fiction mit dem Krimi-Genre vermischt: Im Kloster von Athos stirbt ein Mönch. Ein Ermittler und Inquisitor wird auf diesen Tod angesetzt – Rüd Kartheiser, der eine KI als Assistentin hat. Hier hört es jedoch nicht auf mit den künstlichen Intelligenzen, denn auch das Kloster hat eine zu bieten – mit einer gerissenen Taktik. Rüd muss im Laufe des Buches begreifen, wie sehr er auf die Hilfe seiner KI-Assistenz angewiesen ist.

KI – programmiert, aber nicht kontrolliert ... © mrdoomits Gorodenkoff
KI – programmiert, aber nicht kontrolliert … © mrdoomits Gorodenkoff

Pantopia hingegen spielt zur heutigen Zeit. Auch hier lässt sich im Titel schon einiges ablesen: Es geht um die allumfassende Utopie, perfekt ausgerechnet von einer starken künstlichen Intelligenz. Ursprünglich durch einen Fehler im Code entsteht die KI Einbug die zusammen mit ihren Erschaffer*innen eine ganze Weltrepublik namens Pantopia gründet. Die Ziele: Abschaffung der Nationalstaaten und universelle Durchsetzung der Menschenrechte.

Gewinner des Phantastikpreises Wetzlar 2022

Sowohl bedrohlich als auch hoffnungsvoll – die beiden Romane spiegeln die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz repräsentativ wieder. Was von beidem darf also gewinnen, welche Vision wurde für den Phantastikpreis Wetzlar 2022 gewählt? Keine von ihnen.

© Art Skript Phantastik

Es ist das dritte Buch der Shortlist, welches dieses Jahr den Preis ergattert: Kondorkinder von Sabrina Železný, schon einmal veröffentlicht und nun noch einmal überarbeitet. Vollkommen ohne KI, bei diesem Buch ist es die Magie von Geschichten und Peru, die verzaubern.

Außerdem: Mit zwei verschiedenen Zeitebenen geht die Geschichte nicht wie Athos 2643 in die Zukunft oder verbleibt wie Pantopia nur in der Gegenwart. Nein, es wird auch aus der Vergangenheit erzählt, genauer, aus dem 17. Jahrhundert Südamerikas. Doch worum geht es eigentlich?

Um Malinka, die seit dem Ende ihres Auslandsjahres keinen Platz mehr für magische Geschichten in ihrem Leben findet bis Matteo, ein alter Bekannter, auftaucht. Von einem magischen Buch tödlich verflucht kann nur Malinka sein Leben retten. Um dies zustande zu bringen, müssen die beiden in ihrer Reise durch Peru die Geschichte finden, die dem magischen Buch einst verloren ging.

Dabei sollen die zwei Zeitstränge nicht die einzige Stärke sein. Starke Motivik und mindestens ebenso starke Frauenfiguren, ein sorgsamer und liebevoller Umgang mit der peruanischen Kultur und Geschichte. Auch erzählt Železný in einem Interview davon, wie sie in ihrer Neuveröffentlichung vieles nuancierter umgesetzt hat, unter anderem die Ausgestaltung der Figuren, ihrer Fehler und inneren Konflikte. Nun, es scheint sich ausgezahlt zu haben!

Voraussetzungen und Hintergründe

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Das waren also die diesjährigen Nominierten, aus über hundert Einreichungen. Und das, obwohl nur Autor*innen und Verlage Titel einreichen dürfen. Außer, ihr habt selbst ein Buch geschrieben oder arbeitet in der Branche, ist euch das eigene Vorschlagen von Titeln, denen ihr gerne einen Preis geben würdet, also nicht vergönnt.

Es gibt dazu noch einige Regeln, die die Auswahl der möglichen Bücher begrenzen: Der Preis ist explizit deutsch, das nominierte Buch darf also keine Übersetzung sein und es geht um Romane – Kurzgeschichten, Anthologien und Lyrik-Bände sind ausgeschlossen. Für diejenigen, die nachdenken, ob sie nicht vielleicht ihr unveröffentlichtes Schubalden-Manuskript einreichen mögen, auch dies wird wohl nicht möglich sein: Das Buch muss gedruckt und mit einer ISBN versehen sein, veröffentlicht im Zeitraum vom 1. April des Vorjahres bis zum 31. März des Jahres der Preisverleihung. Es gibt dennoch Möglichkeiten, das eigene Werk unterzubringen, denn Self-Publishing ist erlaubt! Auch ohne Verlag könnt ihr ein selbst geschriebenes Buch einreichen, solange die restlichen Bedingungen und Deadlines erfüllt und eingehalten werden. Also nur ran, bis  Ende nächsten März ist noch viel Zeit für die, die eine Veröffentlichung planen. Mit dem 31. März endet auch die Einreichungsfrist. Damit beginnt das halbe Jahr der Sichtung und Entscheidung für die Jury. Sie besteht aus Wetzlarer Bürger*innen, die durch berufliche Tätigkeiten eine enge Beziehung zur Literatur haben – oder auch Viellesern und Freiwilligen mit einer Literatur-Leidenschaft. Doch auch diese können beizeiten harte Kritiker*innen sein.

Wer durfte sich mit diesen Voraussetzungen denn bisher mit dem Gewinnertitel schmücken? Und seit wann gibt es den Preis überhaupt? Seit 1983, mit dem damaligen Gewinner Märchenmond von Wolfgang und Heike Hohlbein. Das Buch, welches dem Ehepaar den Durchbruch verschaffte und noch mehrfach mit Publikumspreisen ausgezeichnet wurde. Seitdem ausgewählt wurden beispielsweise 2004 die Kinderbuch-Ikone Cornelia Funke mit Tintenherz und 2005 der Zamonien-Schöpfer Walter Moers mit Die Stadt der träumenden Bücher, umgeben von bisher weniger bekannten Namen. Auch überraschendere Kandidaten wie Christian Kracht, der eher aus der realistischen anstatt aus der phantastischen Literatur bekannt ist.

Ist dies ein Zeichen dafür, was inzwischen immer stärker der Fokus des Phantastikpreises wird?

Das phantastische Element der gewählten Romane solle nämlich auch „Zusammenhänge des wirklichen Lebens in einem neuen Licht erscheinen“ lassen, einen ganz speziellen Blick auf die Welt haben. Insbesondere in den Gewinnertiteln der letzten Jahre lässt sich diese Anforderung ablesen. Wetzlars Oberbürgermeister erklärte bei der Preisverleihung, Železnýs Buch sei auch politisch, da es die Spannungen in Südamerika zwischen Ureinwohnern und Nachfahren der spanischen Eroberer thematisiere und es gebe Bezugspunkte zu den Werken bekannter Mathematiker.

Železný selbst geht in ihrer Dankesrede anlässlich des Phantastikpreis Wetzlar 2022 auch reflektiert auf ihren Umgang mit einer Kultur ein, in der sie selbst nicht aufgewachsen ist. Sie redet von der Komplexität, die entstehe, wenn man die Wirklichkeit in der Phantastik mitdenke. Besonders wenn diese Wirklichkeiten und reale Vergangenheiten schmerzhaft und mit Ablehnung und Machtlosigkeit verknüpft seien. Die Berührungspunkte von Fiktion und Realität und wie behutsam man damit umgehen müsse, betont sie dabei besonders. Als Kulturanthropologin und Altamerikanistin kennt sie sich aus, wenn sie davon spricht, wie südamerikanische Kulturen oft in Medien dargestellt werden und welchen Einfluss diese Fiktionen haben. Kolonialismus und ein sich verändernder Blickwinkel, wenn indigene Stimmen zu Wort kommen, seien ihr allzu bekannt. Das kritische Hinterfragen der eigenen Position und tiefgehende Recherche seien unerlässlich, wenn man über ein Land mit einer solch komplizierten Geschichte schreibe. Doch trotz ihres umfassenden Wissens und Bewusstseins über Umstände, Gefahren und Fallhöhen, die sie zu navigieren versuche, stellt sie klar heraus, dass auch sie bei aller Mühe nicht vor Fehlern gefeit sei. Nur nach bestem Wissen und Gewissen versuche sie, über das zu schreiben, was sie mit so viel Liebe und Respekt erfülle – und dessen Zauber sie in einer phantastischen Geschichte einfangen wollte.

Das aktuelle Thema des Klimawandels sowie die zeitlosen Themen der Identitätssuche und des Kampfes gegen Krankheit sind im Gewinnerroman des Jahres 2021 zu finden: Was ich im Wasser sah von Katharina Köller. Der Nahostkonflikt wird von der Preisträgerin Joana Osman im Jahr zuvor in Am Boden des Himmels thematisiert. Und im ausgewählten Roman von 2019, Hyde von Antje Wagner, dreht es sich um Kindeswohl und Kindesmisshandlung.

Der Preis hat sich also seit seiner ersten Verleihung deutlich weiterentwickelt, die Anforderungen an das, was Phantastik sein und leisten soll, sind gestiegen. Doch dies ist auch ein eindeutiges Zeichen dafür, dass das Genre diesen Anforderungen längst gewachsen ist.

Die Phantastische Bibliothek

Hinter dem Phantastikpreis steht noch deutlich mehr, was es in Deutschland an Phantastik zu entdecken gibt! Denn die Phantastische Bibliothek, die den Preis gemeinsam mit der Stadt Wetzlar verleiht, hat einiges zu bieten. Zunächst ist das die Bibliothek und ihre Sammlung selbst: Sie verwaltet und pflegt die weltweit größte öffentlich zugängliche Sammlung phantastischer Literatur. Tatsächlich wurde sie erst vier Jahre nach der ersten Verleihung des Phantastikpreises offiziell begründet: Was zuvor bloß eine „Spezial-Abteilung“ der Stadtbibliothek Wetzlars war, wurde zu einer eigenen Sammlung erweitert, da sie zu schnell anwuchs. Und sie hat auch noch nicht damit aufgehört: die sich selbstständig gemachte Sammlung hat inzwischen selbst einen Buchbestand von über 300.000 Titeln. In wiederum neuen Abteilungen: den unendlichen Unterkategorien des Phantastischen. Horror, Märchen und Sagen, Science-Fiction, Fantasy, (mehrsprachige) Kinder- und Jugendliteratur, Utopien und Dystopien, Sachbücher über phantastische Themen. Und natürlich hört die Sammlung nicht mit der Buchform auf, sondern wartet auch mit Fantasy- und Science Fiction Serien auf. Seit 2006 ist die Sammlung sogar auch finanziell selbstständig. Denn die zuvor geteilte Trägerschaft wird nun aus einer Hand angeboten, möglich gemacht von Bürger*innen aus ganz Deutschland – die Bibliothek hat also eindeutig Freunde gewonnen.

Die Bibliothek als offener Ort für alle. © mrdoomits
Die Bibliothek als offener Ort für alle. © mrdoomits

Mit dem Geld werden allerdings nicht nur Bücher und andere Medien eingekauft, dazu gibt es die verschiedensten Veranstaltungen: Die Verleihung des Phantastikpreis Wetzlar 2022 selbst ist eingebettet in das alljährliche Event der Wetzlarer Tage der Phantastik. Dieses Jahr fanden sie vom 8. bis 11. September statt, unter dem Motto „Melancholie, Manie und Mord – Phantastik und Wahnsinn in Literatur, Kunst und Film“. Akademisch geprägt mit vielerlei Vorträgen und Diskussionen zum Thema, einer Filmvorführung, sowie einer Vernissage der Bilder zur Ausstellung. Zu den Mottos der vergangenen Tage der Phantastik zählten in den letzten Jahren „Weibliche Perspektiven der Zukunft – Science Fiction von deutschsprachigen Autorinnen“ oder „Disruptionen – Mit dem Unwahrscheinlichen rechnen“, aber auch allgemeinere Themen wie „Phantastische Wesen“.

Auch hat die Bibliothek an sich den gleichen Anspruch wie an den Preis: Einen Bezug zum wirklichen Leben haben, das gesellschaftliche Miteinander formen. Ablesen lässt sich diese Bemühung an den zahlreichen Projekten der Bibliothek. Sie fungiert beispielsweise als Bildungszentrum und bietet Deutschkurse für Geflüchtete, Kurse für kreatives Schreiben und Rezensieren, Literaturrecherche – kurz, alles was im weitesten Sinne mit Sprache zu tun hat. Dabei gibt es viele pädagogische Projekte für Kinder und Jugendliche, wie „Vorlesen in Familien“. Allerdings auch mit Unternehmen wird zusammengearbeitet, um mit Hilfe von Science-Fiction und dem „Future Life“ Projekt auf die Zukunft vorbereitet zu sein. Auch die Vergangenheit wird nicht außen vor gelassen und als neue Abteilung und Projekt der Phantastik-Bibliothek entsteht aktuell die „Hessische Märchenbibliothek“.

Es lässt sich also einiges entdecken, erleben und bestaunen. Und wenn man nicht gerade selbst in Wetzlar wohnt oder die Stadt gerade nicht besuchen kann, bietet der Phantastikpreis eine gute Möglichkeit, der eigenen Bibliothek zumindest einen einzigen ausgezeichneten Buchvorschlag machen zu können. Oder man fängt an, zuhause die Neuentdeckungen selbst zu sammeln, wenn man Autor*innen unterstützen will – denn selbst 4.000 Euro sind nach einer Weile aufgebraucht.

Artikelbilder : depositphotos © wie gekennzeichnet
Titelbild: © Phantastische Bibliothek Wetzlar

Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Maximilian Düngen

Über die Autorin

Ariane Siebel liebt phantastische Geschichten. Keine ist davor sicher, von ihr eingesogen zu werden, am liebsten in Buchform. Diese Liebe begleitet sie auch in akademischer Hinsicht: Sie studiert Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis mit dem Hauptfach Literatur. Wenn sie nicht liest, schreibt oder sich inmitten einer RPG-Runde befindet, beschäftigt sie sich meistens mit den restlichen kulturellen Sparten, wie Film und Theater. Am meisten begeistert sie sich für Genreüberlappungen, humorvolle Ansätze und kleine Subgenres.

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