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Im Zeitalter von gefühlt monatlich erscheinenden Marvel– und DC-Kinofilmen ist es selbstverständlich, dass Superhelden auch im Rollenspiel ein Thema sind. Urban Heroes schlägt in diese Kerbe und bietet Charaktere mit waschechten Superkräften. Ob sie aber auch Helden genannt werden dürfen, steht auf einem anderen Blatt…

Wer heutzutage über seine Begeisterung für Superhelden spricht, muss nicht mehr mit verständnislosen Blicken oder enttäuschtem Kopfschütteln rechnen. Die großen Verfilmungen der Comics aus dem Hause Marvel und DC haben die Capeträger salonfähig gemacht.

Auch in den Kreisen des Tischrollenspiels sind die Helden mit den übermenschlichen Kräften keine Unbekannten. Ob mit Marvel-Lizenz , von White Wolf oder mit eigenem Hintergrund, im Laufe der Jahre sind Systeme verschiedenster Couleur erschienen. Keines dieser Systeme wird aber in einem Atemzug mit den „Großen“ der Szene, etwa D&D, Shadowrun oder Cthulhu, genannt.

Der Grund hierfür könnte darin liegen, dass viele Superhelden-Systeme sich einem ganz bestimmten Problem in der Charaktererschaffung gegenüber sehen: Um das richtige Feeling zu erzeugen, muss der Charakter die Wahl zwischen verschiedensten Superkräften treffen können. Die Comicvorlagen schaffen beim Spieler diesbezüglich sehr konkrete Vorstellungen. Diese große Auswahl macht das Balancing und den Powerlevel der Charaktere zu einer heiklen Angelegenheit.

Urban Heroes lässt sich von dieser Schwierigkeit nicht abschrecken und will seinen Spielern eine Welt bieten, die dringend Helden braucht. Oder vielleicht doch eher Schurken, die tun, was getan werden muss. Im Folgenden wird sich zeigen, ob das italienische System, das seit Kurzem in englischer Übersetzung erhältlich ist, seiner Herausforderung gewachsen ist.

Die Spielwelt

So wie viele Superhelden-Settings bedient sich auch Urban Heroes der realen Welt, um die Grundlage der Spielwelt abzubilden. Das System nimmt an der jüngeren Geschichte aber eine entscheidende Änderung vor, die den Superhelden ins Spiel bringt. Am 8. September 2008 explodiert laut Hintergrund der Large Hadron Collider in der Schweiz.

Durch diese Katastrophe wird nicht nur ein radioaktives Ödland in den Alpen geschaffen, es wird außerdem die ganze Erde von Z-Strahlung, einer fiktiven vierten Kategorie der Teilchenstrahlung, durchdrungen. Diese Strahlung bewirkt genau das, was Radioaktivität immer bewirkt, wenn man den Comics Glauben schenken darf: Sie verleiht bestimmten Individuen Superkräfte.

Diese sogenannten H.E.R.O.s (Human Exposed to Radioactive Operations) beeinflussen von da an massiv den Verlauf der Geschichte bis in unsere Gegenwart hinein. Die Erde-Z, eine alternative Realität voller Helden und Schurken ist geboren.

Interessanterweise lassen die Autoren viele prägende Ereignisse der jüngeren Vergangenheit aber trotzdem stattfinden, sie werden durch die Existenz der H.E.R.O.s nur verändert. Die Katastrophe von Fukushima hat beispielsweise am selben Datum stattgefunden wie in der Realität. Sie wurde aber durch ein mächtiges Monster ausgelöst, gegen das die Amazing Men of America, das erste Superheldenteam der Welt, vor dem zerstörten Reaktor kämpfen.

An einigen Stellen erweitert das Setting die Historie aber auch um einschneidende Ereignisse. Vor allem ein einmonatiges Versagen sämtlicher Elektronik auf der Welt Ende 2012, der Blackout, gibt einige Rätsel für Spieler wie Spielleiter auf. Ominöse kosmische Kräfte werden angedeutet, aber nicht weiter erläutert. Kreative Gruppen können hier sicher die Geschichte weiterspinnen.

Die komplette Beschreibung der Spielwelt und ihrer Bewohner wird dem Leser in Form von verschiedensten Ingame-Dokumenten geliefert, die sich zwischen den einzelnen Regelkapiteln finden. Es werden prägende Ereignisse beschrieben sowie Helden und Schurken vorgestellt. Letzteres geschieht in Form von Profilen auf HeroesBook, einem fiktiven sozialen Netzwerk speziell für H.E.R.O.s und deren Fans.

Diese Präsentation ist sehr stimmungsvoll, trotzdem fehlt das sonst obligatorische Kapitel, in dem alle Fakten der Spielwelt gebündelt werden. Um die etwas chaotische Verteilung der Informationen auszugleichen, findet sich im Anhang aber zumindest eine Chronik der wichtigsten Ereignisse der Geschichte der Erde-Z.

Wer vorhat, in der Welt von Urban Heroes Abenteuer zu erleben, sollte sich auf einen sehr erwachsenen, politisch aufgeladenen Stil gefasst machen. Strahlende Golden-Age-Helden sind absolute Mangelware, stattdessen sind anscheinend Drogen, Skandale und Verbrechen fester Bestandteil des Heldenalltags. Massenmedien und Obrigkeitshörigkeit werden thematisiert, ebenso wie radikaler Aktivismus, Verschwörungstheorien und Anarchie.

Diese real relevanten Themen werden durch die Supercharaktere zugespitzt transportiert. An manchen Stellen erinnert das Setting beinahe an den harten Stil von The Boys, ohne allerdings jemals so explizit zu werden wie die kontroverse Comicserie. Auch Alan Moores Watchmen dürfte an einigen Stellen Inspiration geliefert haben.

Die Beschreibung der Spielwelt wird in Form von Ingame-Dokumenten stimmungsvoll präsentiert.
Die Beschreibung der Spielwelt wird in Form von Ingame-Dokumenten stimmungsvoll präsentiert.

 

Die Regeln

Der grundlegende Regelmechanismus des Spiels fällt sehr simpel aus. Mit einem einzelnen Würfel muss ein festgelegter Zielwert erreicht werden. Wenn zwei Charaktere gegeneinander antreten, gibt es keinen Zielwert, stattdessen gewinnt das höhere Ergebnis.

Ein solcher Wurf basiert immer auf einem von fünf Attributen: Body, Mind, Reflexes, Social und Control. Jedem dieser Attribute ist ein Würfel, normalerweise ein W6, zugeordnet. Verfügt der Charakter über einen passenden Skill für die Probe, darf der Würfel pro Rang des Skills zum nächsthöheren Würfel aufgewertet werden.

Beispiel: Der Charakter versucht, mit einem gezielten Steinwurf eine Überwachungskamera zu zerstören. Der Wurf erfordert das Attribut Reflexes und hat einen Zielwert von 5. Der Würfel für Reflexes liegt bei 1W6, allerdings verfügt der Charakter über einen Skill-Rang von 1 in Sport: Baseball. Dadurch darf er einen W8 werfen, seine Chance erhöht sich.

Diese grundlegend simplen Regeln erweitern sich sehr stark, sobald es ins Detail geht. Die einzelnen Bestandteile der Regeln sind hierbei über die verschiedenen Kapitel des Buches verteilt, was häufig ein Wechseln zwischen verschiedenen Kapiteln nötig macht. Eine kurze Zusammenfassung und anschließende Detailkapitel hätten hier Abhilfe geschaffen, ebenso entsprechende Lesezeichen im PDF.

Im Kampf finden Regeln für Initiative, Trefferzonen, verschiedene Formen der Bewegung und diverse offensive und defensive Aktionen Anwendung. Ein Charakter kann nicht nur körperlichen Schaden nehmen, ihm drohen je nach Situation auch Erschöpfung und psychische Belastung. Zusammen mit den jeweiligen Kräften der Kampfteilnehmer wird jede Auseinandersetzung dadurch ziemlich regelintensiv.

Die Superkräfte der Charaktere haben einen eigenen Werteblock, der die Ziele und Wirkungsdauer festlegt und Auskunft gibt, wie man die Fähigkeit aktiviert. Jede Kraft hat vier Ranks und wird mit jedem dieser Ranks wirksamer. Außerdem besteht ein Flaw, eine Schwäche, die mit der Kraft einhergeht. Bei allen Würfen in Bezug auf die Kräfte eines Charakters wird immer das Attribut Control genutzt. Im Laufe der Charakterentwicklungen kann der Spieler durch Power-Ups die Kräfte seines Helden verbessern.

Beispiel: Die klassische Kraft Flight wirkt nur auf den Charakter selbst und erlaubt es ihm zu fliegen, solange er will. Je höher sein Rank, desto schneller kann er sich in der Luft fortbewegen. Die Kraft muss aber einen von sechs möglichen Flaws beinhalten. Sie könnte beispielsweise mit unmenschlichem Aussehen in Form von Flügeln einhergehen, oder den Charakter bei Benutzung schwächen.

Betrachtet man den gesamten Regelkomplex, drängt sich der Eindruck auf, dass Urban Heroes nicht das ist, was es sein müsste. Der Kern des Spiels ist als Simulation angelegt und treibt mitunter extreme Blüten im Regeldetail. Es gibt etwa eine klare Regelung, wie sich Übergewicht eines Charakters auswirkt und inwieweit Diät und Fitness diese Auswirkungen aufhebt.

Die Regeln schrecken Fans überschaubarer Regelsysteme wahrscheinlich eher ab. Typische Regelfuchser werden aber auch nicht zufrieden sein, da die Charaktererschaffung stark zufällig abläuft, beziehungsweise viele Werte gar nicht aktiv beeinflusst werden können. Das Optimieren des Charakters nach einem idealen Konzept wird dadurch sehr erschwert.

Bei der großen Menge an Kräften, die im Spiel vermutlich auch dauernd gegeneinander eingesetzt werden, ergibt sich bei dem starken Simulationseffekt ein großer Aufwand für Spieler und insbesondere Spielleiter. Wirklich ausbalanciert sind die einzelnen Fähigkeiten nicht, ein narrativ geprägtes Spiel wäre hier vielleicht angenehmer.

Trotzdem finden sich beim Lesen wirklich gute Ideen. Gerade die Gestaltung und Kategorisierung der Superkräfte ist sehr gelungen. Mit einer Reduktion der zu detaillierten Regelbereiche und einigen erzählerischen Hausregeln sollte auf jeden Fall Superhelden-Flair am Spieltisch aufkommen.

Während die grundlegenden Regeln simpel ausfallen erzeugt die große Menge an Kräften einen großen Aufwand für Spieler und Spielleiter.
Während die grundlegenden Regeln simpel ausfallen, erzeugt die große Menge an Kräften einen großen Aufwand für Spieler und Spielleiter.

 

Charaktererschaffung

Es dauert nicht lange, einen H.E.R.O. zu erschaffen, und der Prozess ist auch nicht sonderlich komplex. Die neuen Charaktere stehen gerade erst auf den untersten Sprossen der Heldenleiter, der Powerlevel ist noch recht gering.

Die Charaktererschaffung in Urban Heroes geht davon aus, dass der Charakter sein Potential und seine Kräfte erst vor kurzem oder sogar noch gar nicht entdeckt hat. Deshalb wird zu Beginn nur eine Superkraft für den Charakter bestimmt, und zwar durch den Zufall. Sollte eine Origin-Story gespielt werden, kann der Spielleiter die Kraft sogar verdeckt auswürfeln.

Zuerst wird der Ursprung der Kraft ermittelt. Fünf sogenannte Origins sind möglich:

Divine: Göttliche Kräfte, zumindest wenn man ihren Trägern glaubt
Genetic: Mutationen, die von der Gesellschaft selten akzeptiert werden
Magical: Zauberei in Form von magischen Formeln und Ähnlichem
Psionic: Die Macht des (über)menschlichen Gehirns
Wielder: Die Kräfte entsprechen Divine oder Magical, sind aber an einen Gegenstand gebunden.

Die Zugehörigkeit zu einem Origin regelt nicht nur, welche Kräfte ein Charakter entwickeln kann, sie definiert auch, wie sich diese Kräfte manifestieren und wie der Rest der Welt darauf reagiert. Der Origin macht außerdem Vorschläge für die Persönlichkeit und die Motivation des Charakters. Im Anhang des Regelwerks sind einige Beispielcharaktere der verschiedenen Origins enthalten. Lediglich die Psionics sind nicht vertreten.

Nachdem also geklärt ist, woher die Kraft des Charakters stammt, wird ausgewürfelt, mit welcher Power er startet und welchen Flaw diese hat. Basierend auf dieser primären Fähigkeit kann er im Verlauf des Spiels weitere Fähigkeiten erlernen. Dadurch ergeben sich später thematisch passende Kombinationen von Kräften.

Um den Charakter zu vervollständigen, werden noch die Live Events, Schlüsselerlebnisse seines bisherigen Lebens, ausgewürfelt. Diese sind häufig nur beschreibend, können aber auch die Werte des Charakters beeinflussen. Bei beiden probeweise erschaffenen Charakteren brachten die Live Events leider keine besonders interessanten Figuren hervor. Oft sind die Events zu generisch und banal, um Inspiration zu bieten.

Im Anschluss werden noch einige Skill-Ranks verteilt. Alle anderen Werte stehen fest und werden höchstens durch Power oder Live Events modifiziert. Spieler, die gerne optimieren, werden sich schwer damit tun, so wenig Einfluss auf den eigenen Charakter zu haben.

Der Prozess einen H.E.R.O. zu erschaffen ist nicht sonderlich komplex; die HeroesBook-Profile einzelner Helden und ganzer Teams im Comic-Stil sind sehr gelungen.
Der Prozess einen H.E.R.O. zu erschaffen ist nicht sonderlich komplex; die HeroesBook-Profile einzelner Helden und ganzer Teams im Comic-Stil sind sehr gelungen.

 

Erscheinungsbild

Das PDF ist in Blautönen gehalten und wird auf 299 Seiten durch diverse Artworks im Comic-Stil aufgewertet. Vor allem die HeroesBook-Profile einzelner Helden und ganzer Teams sind sehr gelungen, die Idee, NSCs so zu präsentieren, ist grandios. Kunst bleibt Geschmacksache, aber hier sollte jeder Comic-Freund etwas finden.

Leider weist das vorliegende PDF einige Mängel auf, die beim Lesen negativ auffallen. Die Übersetzung des Texts ist an diversen Stellen von schlechter Qualität, das verwendete Englisch fehlerhaft. Das stört den Lesefluss und macht stellenweise das Verständnis ganzer Sätze zur Herausforderung. Bei einigen Beispielcharakteren wurden die Spielbegriffe auf den Charakterbögen anscheinend gar nicht übersetzt und sind noch italienisch.

Das Inhaltsverzeichnis des Dokuments ist zwar interaktiv, es fehlen aber Lesezeichen, um jederzeit schnell hin und her zu springen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Tin Hat Games
  • Autor(en): Matteo Botti, Alessandro Rivaroli
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Englisch/Italienisch
  • Format: PDF
  • Seitenanzahl: 299
  • Preis: 25,00 USD (PDF), 65,00 USD (Hardcover)
  • Bezugsquelle: DriveThruRPG, Printversion nur über die Homepage des Verlags

 

Bonus/Downloadcontent

Die Homepage des Verlags bietet Charakterbögen sowie Beispielcharaktere und NSCs mit kompletten Werten zum Download an. Der Content ist aber bereits im Grundregelwerk enthalten. Er wird lediglich als separates Dokument angeboten, da im PDF die Druckfunktion deaktiviert ist. Neue Inhalte werden also nicht geboten.

Fazit

Urban Heroes hat das Herz am rechten Fleck. Die Autoren sind ohne Frage Comic-Fans, die vor allem die ernsten Aspekte des Superhelden-Genres schätzen. Diese Begeisterung für das Thema tragen sie in ihr Grundregelwerk und zeichnen eine alternative Realität, in der Superkräfte noch lange keinen Helden machen.

Die erwachsene Spielwelt greift gekonnt kontroverse Themen unserer Realität auf und streift ihnen die Maske des H.E.R.O.s über. Das Artwork im Comic-Stil und die eingestreuten Ingame-Dokumente tragen zur beabsichtigten Stimmung bei. Wer sich auf die dunklen Töne des Settings einlassen kann, wird sicherlich eine Menge Inspiration für eigene Geschichten finden. Die handwerklichen Mängel in Layout und Übersetzung trüben diesen Eindruck allerdings etwas.

Außerdem tut sich das System schwer damit, ein wirklich funktionierendes Regelgerüst anzubieten. Die Charaktererschaffung zieht keinen Gewinn aus dem starken Zufallsmoment, die probeweise erstellten Figuren sind nicht zufriedenstellend. Die grundlegenden Regeln für die angehenden Helden zeigen Potential, gerade bei den so zentralen Superkräften, verlieren sich aber in unnötigen Details und sind dadurch ungewollt schwerfällig.

Urban Heroes konnte beim ersten Lesen durchaus unterhalten, zeigt aber leider auch Schwächen. Comic-Fans, die der Preis nicht abschreckt, können aber schon allein aufgrund des Settings und der riesigen Auswahl an Superkräften einen Blick auf die Erde-Z werfen.

 

 

Artikelbild: © Tin Hat Games, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

3 Kommentare

  1. Mein No Return Char ist sowas wie „Wolverine“ nur ohne Klauen :D aber mit seiner Widerstandsfähigkeit – Hyperbolismus (regenerationspool), Immunität gegen Toxine (3 Würfel gegen Infektionen statt nur 1)… und Power Nap – ein Schlaf von 30 Minuten der den Regenerationspool wieder auffüllt (in begrenzter menge in kurzer Zeit) :D
    Werte solala – aber ausgesprochen schwer zu töten :D

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