Geschätzte Lesezeit: 11 Minuten

Eine seltsame, fast mystische Faszination umgibt das neueste Werk von System Matters. Keine heile Welt voller Elfen und Feen oder Dungeons mit schrecklichen Bestien, bereit von Helden bezwungen zu werden, sondern das triste Leben einfacher Menschen in einer schwierigen Zeit. Es ist kaum auszuhalten, aber dennoch packend und schön.

So tief die schwere See (kurz: Schwere See) ist ein Rollenspiel mit deutlichem Fokus auf die Erzählung. Die Charaktere und ihre Beziehung zueinander, zu anderen und zur Spielwelt bestimmen das Geschehen. Man versetzt sich in eine Zeit voller Armut und Mystik, in der der Tod an jeder Ecke wartet und man alles tut, um zu überleben.

Die Spielwelt

So tief die schwere See spielt im 19. Jahrhundert auf den britischen Inseln und erzählt die Geschichte einer Gruppe von Seefahrern, die sich gegen Bevormundung, Armut und jeder anderen Unwegsamkeit zum Trotz durchkämpfen müssen. Sie sind keine Helden, sondern einfache Menschen mit Problemen, Sorgen und einer ordentlichen Portion Aberglauben. Ihr Glück ist es, auf einem Schiff Arbeit gefunden zu haben.

Eine typische Siedlung im 19. Jahrhundert. („Part of Tenby Town and Harbour“, George Stokes, 1853)

Eine kleine, wenn auch wichtige Anmerkung: Obwohl das Regelwerk einen eng abgesteckten Zeitraum vorgibt, für den es primär vorgesehen ist und an dessen Norm- und Wertevorstellungen es sich orientiert, weisen die Autoren deutlich darauf hin, dass Diversität möglich und sogar historisch belegt ist. Sie wird den Spielerinnen und Spielern nicht aufgedrängt und kann unkommentiert gelassen oder deutlich besprochen werden; dass sie vorhanden ist, steht aber außer Frage und wird im Regelwerk zum Beispiel bei den Erklärungen zu Charakterrollen und -motiven auch umgesetzt.

Die bespielte Zeit wird in So tief die schwere See sehr genau und mit vielen Hilfsmitteln beschrieben. Zitate aus der Zeit bieten Anlass zu Beschreibungen und historische Anmerkungen verdeutlichen die Texte. Hinzu kommt ein umfangreiches Kapitel zur Folklore. 

Neben einer allgemeinen Beschreibung der Welt gibt es auch über 20 Seiten mit historischen Fakten, die tiefe Einblicke in das Leben der Menschen geben. Feste und Bräuche werden beschrieben, wie das Verbrennen der Cailleach, um den Winter zu vertreiben. Auch über die Hungersnöte und das Verhältnis zu reicheren Bevölkerungsschichten erfährt man einiges.

Bilder und Beschreibungen passen wunderbar zusammen. („What are hopes but gleams of brightness…“, Col. Henry Stuart Wortley, ca. 1870)

Alle beschreibenden Texte ziehen den Leser hinein in die Welt, bedienen sich einer passenden und einheitlichen Sprache und werden oft mit SL-Anmerkungen oder anderen hilfreichen Ergänzungen versehen. So steht im Kapitel über Folklore etwas über die Todesfeen (Banshees), die ein akzeptierter Teil der Glaubenskultur sind und den Tod einer Person gleich einem Klageweib ankündigen. Oder es wird beschrieben, wie sich der Wind auf die Reise auswirken kann – als Hindernis oder Glückswind.

Schwere See erzeugt eine dichte, intensive Atmosphäre in einer offenen Spielwelt mit vielen Details und einer unfassbaren Sogwirkung in die Tristesse einer Zeit, die einem unvorstellbar vorkommt. Die Hilfestellungen für die SL und das Einstiegsabenteuer am Ende bestätigen diesen Eindruck: Orte und Personen, sowie deren Beziehungen zueinander, bilden den Kern dessen, was einen in den Bann zieht – egal ob selbst erstellt oder, wie im Einstiegsabenteuer, vorgegeben.

Eine Sache, die für Spielerinnen und Spieler noch wichtig ist: Das Mystische in Schwere See ist real. Spätestens wenn man einen Charakter mit dem Motiv „andersartig“ in der Gruppe hat, wird klar, dass allerlei Unfassbares und Unaussprechliches existiert. So tief die schwere See hat einen historischen Kern, ist aber dennoch eine erdachte Welt. So entsteht eine historische Low-Fantasy-Welt.

Die Regeln

Die Regeln von So tief die schwere See basieren auf dem Apocalypse-World-System – zumeist bekannt unter: PbtA Powered by the Apocalypse, das wir euch bereits 2016 vorstellten. Wann immer eine Handlung nicht rein erzählerisch gelöst werden kann, sondern einen Wurf benötigt, bestimmt die SL einen Spielzug, der dafür passt. Es ist wichtig für das System, dass die Spielerinnen und Spieler immer versuchen, zu beschreiben, was ihre Charaktere tun. Das Auslösen der Spielzüge geschieht nur durch die SL.

Es gibt drei Arten von Spielzügen: Grundspielzüge für alle Charaktere, Sonderspielzüge für die speziellen Charakterrollen und -motive und maßgeschneiderte Spielzüge, die nach dem Aufstieg von den Spielerinnen und Spielern für ihre Charaktere erstellt werden können.

Jeder Spielzug passt zu anderen Situationen oder Handlungsweisen und manchmal gibt es mehrere Optionen. So ist der Grundspielzug „Unter Druck handeln“ nicht nur anwendbar, wenn man bei Sturm an Deck herumrennt, sondern auch bei einem Vortrag vor einem Publikum.

Sagt die SL einen Spielzug an, würfelt der Spieler oder die Spielerin zwei sechsseitige Würfel und addiert das passende Attribut zum Wurf hinzu. Bei „Unter Druck handeln“ wäre dies 2W6+Haltung. Es gibt drei Möglichkeiten, was dann passiert: man würfelt weniger als Sieben, zwischen Sieben und Neun oder Zehn und mehr. Unter Sieben ist es ein Misserfolg, das verschlimmert meist die Lage. Ab Sieben ist es ein Erfolg, wenn auch mit Einschränkungen, und ab Zehn hat man alles erreicht, was man erreichen wollte.

Das ist die Grundlage des Spiels. Theoretisch muss man als Spieler nicht mehr wissen. Als SL kommt noch das Wissen über Kämpfe und das stetige Auswählen der Spielzüge hinzu, sowie die Erstellung der Welt, also Ortschaften und NSC, durch die man im SL-Bereich geführt wird.

Kämpfe werden mit dem Spielzug „Gewalt ausüben“ bestritten und in folgende Kampfsituationen eingeteilt: Einer gegen Einen, Einer gegen Viele, Viele gegen Viele und Viele gegen Einen unterteilt. Je nach Situation kann das sehr schnell tödlich enden, denn man hat nur vier Lebenspunkte.

Ausrüstung und Waffen kann die SL frei mit Eigenschaften versehen, es gibt keine Ausrüstungstabelle mit vorgefertigten Gegenständen. Das unterstützt den erzählerischen Aspekt. Insgesamt sind die Regeln einfach und schlüssig mit einem starken Fokus auf das erzählende Element. Ein System gemacht für eine gute Geschichte.

Charaktererschaffung

In Schwere See werden Charaktere nicht gewürfelt, sondern aus einer Rolle und einem Motiv zusammengesetzt. Innerhalb einer Gruppe sind diese jeweils einzigartig. Während der Erstellung bestimmt man also, was der Charakter macht (Rolle) und was er oder sie will (Motiv).

Der Wilderer ist eine der zehn Rollen in So tief die Schwere See.

Die zehn Charakterrollen reichen vom Kapitän über den Söldner bis hin zum Schiffsarzt oder blinden Passagier. Zu jeder Rolle gibt es Vorschläge für Namen und eine Auswahl an Erscheinungsmerkmalen. Zusätzlich bekommt der Charakter besondere Ausrüstung, einen eigenen Spielzug und bis auf den Wilderer einen festgelegten Bonus auf eines der fünf Attribute. Die anderen vier (bzw. fünf) Attribute können mit vorgegebenen Zahlen in beliebiger Reihenfolge gefüllt werden.

Zusätzlich füllt man, wenn alle Spielerinnen und Spieler mit der Erstellung fertig sind, zwei bis drei der Bande mit Spielercharakternamen. Bande sind Beziehungen zwischen Charakteren. Der Charakter kann sich einem anderen überlegen fühlen oder diesen respektieren, vielleicht finden sich die Charaktere attraktiv oder beide hören nach der Dämmerung seltsame Geräusche und teilen dadurch schlaflose Nächte. Diese Bande können sich dann im Laufe des Spiels auch verändern und es kommen neue hinzu.

Die Rollenkarte des alten Seebären.

Ein Beispiel: Wir möchten einen alten Seebären (Rolle) spielen und nennen ihn nach einem Blick auf die Namensliste Bart Brook. Aus der Liste für die äußere Erscheinung wählen wir: männlich, argwöhnischer Blick, wettergegerbtes Gesicht, sehniger Körper und ausgefranste Walfängermontur. Die Ausrüstung steht bereits auf dem Charakterblatt und sein besonderer Spielzug ist „Die See spricht“, welcher ebenfalls darauf beschrieben wird. Das Bonusattribut für den Seebären ist „Jenseits“ und er erhält darin +2. Jetzt dürfen wir noch die Werte +2, 0, 0 und -1 auf die Attribute Haltung, Kraft, Schönheit und Verstand verteilen. Mit der Verteilung der Bande warten wir auf den Rest der Gruppe und widmen uns dem Motiv unseres Charakters.

Das Motiv des Liebenden mit dem besonderen Spielzug.

Nachdem man weiß, was der Charakter macht, wählt man ein Motiv. Diese liefern nicht nur einen Einblick in die Vergangenheit, Wünsche und Normen des Charakters, sondern liefern auch neue Bande und spieltechnische Besonderheiten. So kann ein liebender Charakter die geliebte Person beschützen, indem er oder sie sich selbstlos in eine Situation hineinwirft. Ein geächteter Charakter hat eine Sünde, die sie oder ihn verfolgt, und muss in der Öffentlichkeit immer wieder entscheiden, diese zu verbergen oder offen zur Schau zu tragen. Dafür ist der Spielercharakter es gewohnt, allein dazustehen, und bekommt besondere Vorteile in gefährlichen Situationen, in denen er keine Hilfe annimmt oder erwarten kann.

Für jedes Motiv gibt es ein Merkblatt. Dieses hier zeigt Informationen zum Motiv des Vertrauten.

Anhand unseres Beispiels könnte das so aussehen: Bart Brook ist nicht nur ein Seebär, sondern ein vertrauter Seebär (Motiv „Vertrauter“). Er sammelt Geheimnisse und kann diese für besondere Aktionen eintauschen. Vielleicht bringt er jemanden in Misskredit, indem er dieses Geheimnis verwendet. Erhält unser Seebär die Dankbarkeit eines anderen oder wahren wir dessen Vertrauen, erhalten wir ebenfalls Boni. In intimen Momenten kann man sogar besondere Geheimnisse lüften. Nun sind sicherlich auch die anderen der Gruppe fertig und wir können gemeinsam unsere Bande besprechen und verteilen. Außerdem werden wir ein Schiff erstellen und danach heißt es: Leinen los!

Damit ist die Charaktererschaffung auch schon abgeschlossen. Insgesamt dauert das keine zehn Minuten, fünfzehn mit dem Schiff, und es kommen spannende Geschichten dabei heraus. Genau das soll auch angepeilt werden: eine Geschichte.

Der Aufstieg eines Charakters verläuft ebenso strukturiert und einfach. Man kann das Motiv wechseln, neue Bande knüpfen und eigene Spielzüge entwerfen, ja sogar Attribute neu verteilen. Nach fünf Geschichten ist dann aber jeder Spielercharakter ein NSC, und man erstellt sich den nächsten Charakter.

Erscheinungsbild

Das Regelwerk von So tief die schwere See lag als PDF vor, deswegen kann zur Qualität des Druckes an dieser Stelle keine Aussage getroffen werden.

Die digitale Version kann sich aber sehen lassen. Die 245 Seiten sind durchgehend farbig und mit einer verwaschen-dreckigen Hintergrundgrafik bestückt. Den unteren Rand jeder Seite ziert ein Wellenmotiv und beides passt sehr gut zum Setting.

Die Grafiken stammen von Gemälden und Highland-Fotografien aus Schottland und Irland und aus verschiedenen Epochen. Sie fügen sich hervorragend in das Gesamtbild des Regelwerkes und die raue Schönheit der Landschaft spiegelt die Dualität des Inhaltes wider.

Der Sprachstil ist in den erklärenden Passagen locker und zugänglich, während in den (Schein-)Zitaten ein anderer Stil genutzt wird, der das nachahmt, was man sich unter Sprache aus der Zeit vorstellt. Natürlich ist das ein Konstrukt, aber eines, das funktioniert.

Durch viele Zwischenüberschriften, ein Inhalts- und Stichwortverzeichnis und gute Gliederung ist das Regelwerk angenehm zu lesen und ordentlich strukturiert.

Die harten Fakten:

  • Verlag: System Matters Verlag
  • Autoren: Hayley Gordon, Vee Hendro; Tina Trilitzsch, Verena Busch, Patrick Wittstock, Maria Hecher, Stefan Droste
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Hardcover/PDF
  • Seitenanzahl: 245
  • ISBN: 978-3-96378-037-0
  • Preis: 39,95 EUR (Hardcover), 24,99 EUR (PDF), 54,99 EUR (Bundle: Hardcover und PDF)
  • Bezugsquelle: System Matters

 

Bonus/Downloadcontent

Aus aktuellem Anlass spendet System Matters von jedem PDF 50 Cent und von jedem gedruckten Buch einen Euro an Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer.

Die englische Vorlage von So tief die schwere See ist 2017 unter dem Titel Alas for the Awful Sea bei Storybrewers Roleplaying erschienen.

Fazit

So tief die schwere See ist ein Rollenspiel mit dem Schwerpunkt auf die Erzählung. Es wird eine Welt voller Schwierigkeiten und Traurigkeit vermittelt, in der mystische Folklore, raue, schöne Natur und das harte, gefährliche Leben der einfachen Leute des 19. Jahrhunderts zusammen eine fesselnde Welt entstehen lassen. Die britischen Inseln bieten dafür eine hervorragende Kulisse.

Die Regeln sind einfach und auf die Narration fokussiert, doch man benötigt etwas Vertrauen in die SL, da man selbst niemals einen Würfelwurf einleitet. Wie die Regeln ist auch die Charaktererschaffung unkompliziert und auf das Wesentliche reduziert, um die Spielwelt zu unterstützen und nicht davon abzulenken.

Die Gestaltung des Regelwerkes ist sehr passend zur Spielwelt ausgesucht und durch Bilder und Zwischenüberschriften angenehm zu lesen. Durch ein Inhalts- und Stichwortverzeichnis findet man schnell, was man sucht.

Das Low-Fantasy-Setting von Schwere See ist für all jene Spielerinnen und Spieler etwas, die eine gute Erzählung genießen, die Beziehungen zwischen Charakteren ausspielen wollen und britische Folklore sowie das Flair der Seefahrt schätzen.

Wer sich in eine lange Kampagne stürzen und mit einem einzelnen Charakter unzählige Abenteuer bestreiten will, kompliziertere Regelsysteme oder weniger narrativ angelegte Systeme bevorzugt, sollte ebenso die Finger von diesem Werk lassen wie die, die eine Spielwelt mit positiver Stimmung suchen. Diese werdet ihr hier nicht finden.

So tief die schwere See ist allein durch die Lektüre eine intensive Erfahrung und ein reizvolles Setting, das bezahlbar ist und sich für spontane Runden oder kurze Kampagnen außerordentlich gut eignet. Lang angelegte Kampagnen werden in diesem System aber eher schwer zu erreichen sein.

Das Produkt lag als PDF vor Veröffentlichung vor.

Der Ersteindruck basiert auf der ausführlichen Lektüre des Regelwerkes.

 

 

Artikelbilder: © System Matters Verlag, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein