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Tischrollenspieler*innen wissen, dass alle Entscheidungen in einem RPG teils ungeahnte Folgen haben können. Wer sich diese Konsequenz auch für digitale Spieleableger wünscht, nach X-COM wieder Lust auf eine permanent voranschreitende Weltenbedrohung hat und Taktikgefechten gegenüber aufgeschlossen ist, könnte mit Wildermyth einen Sleeper hit verpasst haben.

Will man Neulingen das Medium Tischrollenspiel erklären, greift die Beschreibung nach dem bereits Bekannten. Man soll es sich vorstellen, wie eine gemeinsam erzählte Geschichte, die Würfel sind Entscheidungshilfen. Oder man male sich ein PC-RPG à la Pillars of Eternity oder Vampire aus – nur, dass jede Entscheidung dank dem*der SL grundsätzlich möglich ist. Nicht nur, was von den einprogrammierten Spielregeln in einem Rahmen vorgegeben wurde.

Und auch wenn gerade ein kleines Sechspersonen-Studio wie Worldwalker Games LLC ebenfalls keine unendlichen Geschichten für seinen RPG-Taktiker Wildermyth erschaffen kann, so zeigen die Texaner*innen wie man den einengenden Rahmen aufstemmen und gehörig erweitern kann! Um so Luft zu machen für spieler*innengenerierte Geschichten, welche dank zufälligen Ereignissen und permanenten Folgen jede Partie zu einem ganz eigenen Mythos wachsen lassen.

Wildermyth nimmt das Schreiben der eigenen Spieler*in-Geschichte wörtlich.

Was bedroht die Yondering Lands?

Die Reise Wildermyths startet in dem beschaulichen Örtchen Copsecatch, ein kleiner Weiler der nett-harmlosen Fantasywelt der Yondering Lands, die sich in einladender Scheren-Schnitt-Optik präsentiert. Es dauert nicht lange bis die Held*innenreise ruft, als das Dorf von fremdartigen, mutierten Kreaturen überfallen wird. Als Spieler*in winken hier erste Entscheidungen, denn ihr verkörpert keine einzelne Spielfigur, sondern stellt euch direkt zu Spielstart ein Heldentrio aus den drei Grundklassen Krieger*in, Ranger*in und Magier*in zusammen. Bereits hier könnt ihr Namen und Aussehen der zukünftigen Weltenretter*innen frei anpassen. Außerdem werden erste Entscheidungen fällig, wie diese zueinander in Beziehung stehen. Ist der im Turm gerettete Magier ein Rivale der hitzköpfigen Rangerin oder ein Jugendfreund? Pflegt die Waldläuferin zu der martialischen Kriegerin der Gruppe vielleicht sogar eine bereits bestehende Liebesbeziehung?

Schnell ist die erste Gefahr gebannt und das Dorf vorerst gerettet. Doch über die eigene Grafschaft hinaus scheint das ganze Land von der Plage bedroht. Der Held*innentruppe darf natürlich auch ein eigener Name gegeben werden – im Test wurden die Yondering Lands von den „Mighty Mummers“ gerettet. An diesem zusammengewürfelten Haufen war es fortan, hinter die Auswüchse der Plage zu kommen, Schlachten zu gewinnen und neue Mitstreiter*innen zu rekrutieren.

Kaum zum Abenteuer angetreten, hat unsere Kriegerin schon den ersten „Kratzer“ davongetragen.

Brettspiel trifft Sanduhr

Spielerisch unterteilt sich das Abenteuer in zwei große Bereiche. In den taktischen Rundengefechten wird sich mit den Feind*innen auseinandergesetzt und neu gewonnene Ausrüstung und Fähigkeiten an diesen … erprobt. Außerhalb der Schlachten winkt eine Landkarte der Welt, welche durch die Held*innen bereist und erkundet wird. Zeit spielt hierbei eine große Rolle, jede Reise nimmt mehrere Tage in Anspruch, die unerbittlich verstreichen. Unerbittlich, weil auch die Bedrohungen der Welt zeitgesteuert agieren, alle paar Wochen mutieren Monster in der Welt weiter und erhalten neue Kampfboni wie mehr Lebenspunkte oder Mehrfachangriffe. In regelmäßigen Abständen rauscht zusätzlich eine Monsterwelle über das Land hinweg und zerstört alle Ländereien in ihrem Weg, wenn sie nicht aufgehalten wird. Auch auf diese will sich vorbereitet werden.

Die aufgeräumte Weltkarte macht es leicht die Übersicht zu behalten.

Das Zauberwort an dieser Stelle lautet „Arbeitsteilung“. Denn wo sich am Rollenspieltisch das Motto „Niemals die Party teilen!“ wahrscheinlich schon hundertfach bewährt hat, gilt es verschiedene Figuren in Wildermyth geschickt auf Aufgaben zu verteilen. Waldläufer*innen sind namensgebend besonders gut darin neue Ortschaften zu erkunden und Gegner auszuspähen. Gerüstete Krieger*innen die schon einige Schlachtfelder gesehen haben, bekommen dagegen Boni zur Errichtung einer Brücke, die zukünftige Reisen verkürzt. Weiter können Ortschaften ausgebaut werden, um regelmäßig Rohstoffe zu produzieren, welche, ebenfalls zeitintensiv, zu neuem Equipment geschmiedet werden. Und auch neue Rekruten brauchen eine Lehrstunde zur Einarbeitung in eurer Truppe, bevor sie loslegen können. Die Mechaniken sind hier nicht allzu komplex, die Auswahl bleibt insgesamt übersichtlich. Ausbauten eines Stützpunktes winken nicht mit zig verschiedenen Upgrades, die ausgespuckten Ressourcen werden stattdessen einmal nach dem Ausbau festgelegt. Der Fokus für Spieler*innen liegt dagegen auf klugem Zeitmanagement, es geht darum die richtigen Figuren rechtzeitig an den entscheidenden Schaltstellen zu haben. Die knackigen Gefechte verlangen den Einsatz der ganzen schlagkräftigen Truppe, Einzelgänger werden nur selten eine Held*innenrente beziehen können. Auf ihren Reisen schauen die Charaktere allerdings nicht nur dabei zu, dass sie die neue Befestigung noch vor der nächsten Monsterwelle fertiggestellt bekommen. Stattdessen winken zahlreiche Storyschnipsel und Entscheidungen, vor die ihr immer wieder auf euren Reisen gestellt werdet.

Eine Story, wie keine Zweite

All das erzählt das Spiel dabei nicht in aufregenden Zwischensequenzen, sondern als statische Visual Novel. Der grundsätzliche Grafikstil sticht sicher nicht heraus, passt aber zur Atmosphäre des Spiels und unterstützt die Gesamtpräsentation. Weiter kann Wildermyth den simplen Stil in eine große Stärke verkehren, denn alle Eigenheiten der prozedural erschaffenen Figuren finden so den Weg in die Zwischensequenzen. Gerade wenn die Charaktere einiges durchgemacht haben, ihre Gesichter mit einer Augenklappe von einem verlorenen Gefecht zeugen oder eine eingefangene Mutation gleich die ganze Spielfigur verändert, erhöht dieses Gimmick die Immersion dennoch immens. Die Story-Engine zieht im Hintergrund dabei an weiteren Fäden und nutzt diese zum Zuspielen passender Ereignisse, ähnlich wie es schon eines der besten Spiele 2020 hinzauberte. Unser Erz-Magier, der sich über die Kampagne hin mehr und mehr zum Eigenbrötler entwickelte, wird über die Kampagne hinweg immer wieder in seiner Einsamkeit gezeigt. Inklusive bittersüßer Momente, wie er bei Festivitäten nach einer gewonnenen Schlacht allein auf dem Aussichtspunkt über dem Dorfe sitzt, anstatt sich den Feierlustigen anzuschließen.

Mit Zeitsprüngen über ganze Dekaden widerfahren euren Charakteren langfristige Veränderungen.

Auch Charaktertoden kommt eine veränderte Rolle zu. Ähnlich eines X-COMs herrscht in dem Spiel Permadeath. Welche Held*innen das Ende der Kampagne sehen, liegt im taktischen Kampfgeschick und den Entscheidungen der Spieler*innen. Verstorbene Mitstreiter wirken, gerade bei engen Banden, nicht nur ebenfalls in weiteren Events nach. Sie finden auch Einzug in die „Legacy-Halle“, ein separater Spielmodus, welcher nur aus den Gefallenen gespeist wird. Zusammen mit weiteren Kniffen wie Rivalitäten, Freundschaften und Familienbanden unter den Charakteren aber auch Flüchen, Mutationen und Segen, zaubert Wildermyth hier mit einfachsten Mitteln ein wahres Brett zusammen. Dabei stellt sich nie die Frage wie gut die daraus entstehende Story mit einem maßgeschneiderten Abenteuer der Marke Mass Effect oder gar eines Disco Elysiums mithalten kann. Stattdessen lebt Wildermyth hier die eigene Kernidee im Vollen: Der eigene Spieltisch und die eigene Held*innengruppe wird immer eine eigene Dynamik haben und völlig andere Ereignisse sehen, als die der nächsten Spieler*in. Fast so wie am heimischen Rollenspieltisch.

Da stört es wenig, dass der gute Soundtrack nur vor sich hinplätschert, anstatt in den richtigen Momenten zu krachen, genauso wenig wie die fehlende Sprachausgabe. Lust zu lesen, sollte man durchaus mitbringen, die Erzählschnipsel halten sich recht knackig, obendrauf sind die meisten sehr gut geschrieben. Die eingestreute Prise Humor zieht und Wildermyth findet trotz des weltbedrohlichen Szenarios immer wieder seinen augenzwinkernden Charme. Das Spiel als auch die Charaktere selbst, nehmen sich nicht zu ernst – so wird eine entscheidende Prophezeiung schon mal durch ein sprechendes Hausschwein verkündet.

Oh mächtiges Schwein, verrate unserem Helden, wieso er nicht mehr lachen kann?

Papierne Schnitzel-Scharmützel

Den gleichen Zeitanteil wie auf der Weltkarte und mit der Entscheidungsfindung für die Figuren, verbringt ihr in den taktischen Gefechten des Spiels. Wer bereits den*die ein oder anderen Taktiker*in spielen konnte, dürfte sich vom ersten Moment an wie zu Hause fühlen. Krieger*innen haben satte Lebenspunkte und Rüstung, Jäger*innen greifen aus dem Hinterhalt an und Zauberer*innen können sich in Richtung Heiler oder Angriffsmagie entwickeln. Direkt neu dagegen ist lediglich erst einmal die Optik, Wildermyth inszeniert seine Gefechte hier in Form von Pappaufstellern, die sich durch eine Scherenschnittwelt manövrieren. Der Stil passt und präsentiert sich selbstbewusst, gerade bei dem Spiel mit Licht und Schatten kann die Optik überzeugen. Grundsätzlich herrscht stilbedingt eher Animationsarmut, auch krachende Spezialattacken werden lediglich mit viel Gewackel der Figuren inszeniert.

Fast wie am eigenen Spieltisch am Sonntagnachmittag. Nur die Kekskrümel fehlen auf dem Brett.

Krachen tut es dabei recht schnell, denn Wildermyth legt in seinen Fähigkeiten Wert auf zerstörbare Umgebungsobjekte. Dies zeigt sich insbesondere mit den arkanen Klassen, diese können sich mit Wanddekorationen und Barrikaden „verbinden“ und durch diese Magie wirken. Lagerfeuer werden so zu Blendgranaten umfunktioniert und die Palisade explodiert in einen Splitterhagel, der auf die fiesen Monster nieder geht. Diese taktische Spielerei ist nett, hier und da aber leider etwas fummelig geraten. Gerade bei mehreren ausgewählten Objekten ist es mitunter undurchsichtig, durch welches die Fähigkeit genau gewirkt werden kann, ebenso ist die Mischung aus freien Aktionen und Aktionspunkten wenig intuitiv, sodass die Steuerung des*der eigenen Magier*in hier und da für kleine Ärgernisse sorgt.

Insgesamt finden die knackigen Gefechte eine sehr gute Balance, fühlen sich nie zu lange an und fordern durch unterschiedliche Gegner*innentypen mal offensiveres, mal defensiveres Gameplay. Die zerstörbare Umgebung und verschiedenen Fähigkeiten, wie Pfeilhagel, gestellte Fallen oder Schlachtrufe fügen sich sehr gut mit ein. Allerdings setzt Wildermyth hier auf Bewährtes und erfindet das Rad nicht neu – stattdessen sind die Taktikschlachten als Erweiterung des Geschichtengenerators des restlichen Spiels zu betrachten. Auch das ein mögliches Scheitern seitens des Spiels miteingeplant ist, nimmt den Frust aus zu schweren oder verlorenen Gefechten. Entkommt eure Gruppe nur mit Mühe und Not aus einer Niederlage, lässt sogar gefallene Gefährt*innen zurück, so wird dies beim Neuversuch nach gesammelter Kraft durch Ereignisse und Boni kommentiert. Sie mögen eure Gruppe das letzte Mal geschlagen haben, aber dieser Tag, wird euch gehören!

Die harten Fakten:

  • Entwicklerstudio: Worldwalker Games LLC
  • Publisher: WhisperGames
  • Plattform: PC, Mac OS
  • Sprache: Deutsch, Englisch, Chinesisch
  • Mindestanforderungen:
    • Setzt 64-Bit-Prozessor und -Betriebssystem voraus
    • Betriebssystem: Windows 7+
    • Prozessor: i3 or better
    • Arbeitsspeicher: 3 GB RAM
    • Grafik: Open GL 3.2
    • Speicherplatz: 2 GB verfügbarer Speicherplatz
  • Genre: Rollenspiel
  • Releasedatum: 15. Juni 2021
  • Spielstunden: 30
  • Spieler*innen-Anzahl: 1
  • Altersfreigabe:
  • Preis: 20,99 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, MMOGA, itchi.io, Steam, Epic Games

 

Fazit

Rollenspieler*innen die bis zum Erscheinen des nächsten großen Krachers eine Überbrückung suchen, könnten mit Wildermyth ein echtes Kleinod übersehen haben. Abseits der großen Wucht epochaler Rollenspiele, spinnt der Geschichtengenerator sein eigenes kleines Märchen für Spieler*innen, das mit seiner Individualität zu punkten weiß. Die toll geschriebenen Mini-Geschichten verbunden mit den zufallsgenerierten Aspekten geben jedem Abenteuer das starke Gefühl, hier eine ganz eigene Erzählung erlebt zu haben.

Der Starttbildschirm.

Für ein erstes Spiel eines noch jungen Studios verzahnen die Entwickler*innen bereits sehr selbstbewusst alle Mechaniken des Spiels miteinander. Die taktischen Kämpfe sind rudimentär, leben aber von den gesammelten Fähigkeiten der eigenen Figuren; strategische Planungen auf der Weltkarte locken nicht durch eine komplexe Tiefe, sondern verlockenden Erzählungen am Wegesrand, auf die man die eigenen Helden nur zu gerne schicken möchte.

Selbst wenn Wildermyth in der Optik manchem zu simpel sein könnte und das Spiel bewährte Facetten lieber mischt, anstatt komplett neue Innovationen aus dem Boden zu stampfen, erschafft es genau in dieser bewussten Entscheidung etwas für sich komplett Eigenes. Und ist für Rollenspieler*innen auf jeden Fall einen Blick wert!

  • Völlig neuartiger Geschichtengenerator
  • Knackige Taktikgefechte
  • Schön verfasste Erzählungen
 

  • Fehlender Wumms im Soundtrack
  • Hier und da Bedienschwierigkeiten

 

Artikelbilder: © Worldwalker Games LLC
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Sabrina Plote
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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