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Nach einer allzu durchzechten Nacht wachen wir in einem verwüsteten Hotelzimmer auf, können uns an nichts erinnern. Schnell etwas Kleidung übergeworfen, erfahren wir, dass wir Polizist sind und in einem Mord ermitteln sollen. Ohne weitere Erläuterung schmeißt uns das Entwickler*innenstudio ZA/UM so in sein isometrisches Rollenspiel Disco Elysium.

Bereits 2019 erschien Disco Elysium und räumte mit seiner tiefgehenden Geschichte und der Vielzahl an bunten Charakteren damals zahlreiche Game Awards ab. Mit dem im März nun auch für Konsolen erschienenen „Final Cut“ legen die estnisch-britischen Entwickler*innen noch einmal nach und garnieren die über 1.000.000 Zeilen Text (mittlerweile in deutscher Übersetzung) mit einer kompletten Sprachausgabe und einigen neuen Quests. Was das, auf den ersten Blick „Old-School“ wirkende, Rollenspiel ausmacht und wie sich der Titel spielt, erfahrt ihr im Test.

The Post War Dream – Die Welt von Disco Elysium

Genau wie unser an Amnesie leidender Kommissar, lernen wir im Laufe des Spiels die Welt Elysium von neuem kennen. Disco Elysium hat seine Wurzeln im Rollenspielbereich. Es startete als eine Pen-and-Paper-Runde der Entwickelnden. So verfügt Elysium bereits über 6000 Jahre an Geschichte, bevor die Handlung des Spiels einsetzt. Das mag auf den ersten Blick erschlagend wirken, zum grundlegenden Verständnis reicht jedoch weniger:

Die Welt ist ein ziemliches Potpourri, ein „Best-of“ des 20. Jahrhunderts, wenn man so will. Der Jahreszahl nach spielen wir in den Fünfzigern, die fortgeschrittene Technik von sogenannten Funkcomputern erinnert an die Technologie der 80er- und 90er-Jahre. Kleidung und Musik sind stark den 70er-Jahren entlehnt, viele Namen und Bezeichnungen französisch.

Wir ermitteln in der verarmten Küstenstadt Revachol, die nach einer gescheiterten kommunistischen Revolution zu Beginn des Jahrhunderts von einer Koalition benachbarter Staaten besetzt und in verschiedene Verwaltungsbezirke unterteilt wurde, ähnlich dem Berlin der Nachkriegszeit.

Der Glanz vergangener Jahrhunderte blitzt in Martinaise immer wieder durch. Ansonsten ist es eine durch und durch heruntergekommene Gegend, in der wir ermitteln.

Obwohl die Welt auf den ersten Blick der Realität sehr nahe wirkt, überrascht das Spiel immer wieder mit seiner eigenen, übernatürlichen Note. So trennen die verschiedenen Landmassen nicht nur Ozeane, sondern ebenso die mysteriöse, realitätsnegierende Substanz, die einfach nur „das Grau“ genannt wird.

Insgesamt ist der dichte Hintergrund Disco Elysiums gleichzeitig Stärke und Schwäche. Beim Spielen entsteht der Eindruck einer lebendigen Welt, die nicht allein für die Story existiert. Fast alle NSC haben eine tiefergehende und spannende Hintergrundgeschichte. Dazu gibt es mehr als einige Geheimnisse in Martinaise zu entdecken. Dies kann aber auch schnell in die andere Richtung schlagen, und es herrscht Verwirrung, wer genau nochmal diese mesquische Petrofaschisten sind, von denen gerade die Rede ist. Ganz klar, Disco Elysium ist kein Spiel für zwischendurch und verlangt 110% der eigenen Aufmerksamkeit.

In diesem Fitnessstudio soll es spuken. Ob das stimmt, lässt sich nur durch klassische (und ein wenig paranormale) Ermittlungsarbeit herausfinden.

Die Story – Tatort mal anders

Die Open-World Disco Elysiums deckt das verregnete Viertel Martinaise in all seiner Tristesse ab. Die Auswirkungen der Revolution sind weiterhin zu spüren. Alternde Veteranen sitzen im Park, in verlassenen Wohnblocks finden sich Waffenvorräte, Einschusslöcher zieren das Mauerwerk der Häuser. Die Spielwelt ist überaus abwechslungsreich und reicht von kleinstädtischen Plattenbauten und Läden, über schwindelerregend hohe Hafengebäude sowie halb ausgestorbene Dörfer hin zu Promenaden und Stränden.

Die Stadt ist im Aufruhr, Arbeiter*innen protestieren im Hafen.

Für die Bürgermiliz Revachol (BMR), dem semiprofessionellen Polizeiapparat der Stadt, untersuchen wir den Lynchmord an einem Söldner, der sich im Hinterhof eines Hostels ereignet hat. Als wäre der eigene Gedächtnisverlust nicht schon Erschwernis genug, müssen Protagonist Harry du Bois und sein Partner Kim Kitsuragi beim Ermitteln äußerst vorsichtig vorgehen. Martinaise, welches de facto von der korrupten Hafenarbeitergewerkschaft kontrolliert wird, gleicht einem Pulverfass. Die Arbeiter*innen streiken, von Großunternehmen engagierte Söldner*innen werden als Streikbrecher*innen eingesetzt, welche nun auf eigene Faust den Tod ihres Kameraden untersuchen und dabei über Leichen gehen werden. Dies fügt dem Spiel eine zeitkritische Komponente hinzu, welches ansonsten in einzelne Wochentage unterteilt ist. Spielzeit vergeht, indem wir Konversation betreiben.

Neben der Krimigeschichte, die uns klug zwischen den unterschiedlichen Verdächtigen hin- und herflitzen lässt und lange im Unwissenden hält, werden in Disco Elysium auch viele ernste Themen wie Sucht, Missbrauch und Rassismus behandelt. Immer wieder stehen schwierige Entscheidungen an. Nehmen wir Geld vom korrupten Hafenmagnaten an, damit wir nicht im Park schlafen müssen? Liefern wir eine Zeugin, die uns mehrmals hintergangen hat, an die Behörden aus? Die Qualität der Texte ist dabei durchgehend hoch, wie ein sehr gutes und interaktives Buch, und hält viele Auswahlmöglichkeiten parat. Selbst wenn wir mal scheitern, eröffnet dies immer neue Möglichkeiten.

Hier verhören wir einen rassistischen Lastwagenfahrer. Unser Zwielicht-Skill, zuständig für Gefahrenerkennung und Drohungen aller Art, warnt uns, das Thema Rassismus bei diesem Gesprächspartner nicht weiter zu verfolgen.

Features

Die Grundlagen (der Polizeiarbeit)

Bei Disco Elysium handelt es sich um ein isometrisches Rollenspiel, wie Baldur’s Gate oder Pillars of Eternity. Die dreiviertel-Ansicht bietet einen guten Blick auf die umliegende Umgebung.

Auch sonst sind die Menüs übersichtlich gestaltet. Eine Leiste am Bildschirmrand enthält den Charakterbogen mit unseren Fähigkeiten und ein Inventar. Denn Kleidung gibt uns in Disco Elysium die unterschiedlichsten Boni, oft ist es ratsam, sich vor bestimmten Gesprächen umzukleiden. Außerdem gibt es das Tagebuch, welches eine einfache Sammlung der Quests darstellt und durch den Final Cut zusätzlich die Möglichkeit der Schnellreise bietet.

Das Gedankenkabinett stellt eine weitere Besonderheit des Regelsystems dar. Es ist eine Art Charakterbogen für Gedanken. Indem wir über Erfahrenes nachdenken und einen Gedanken verinnerlichen, erhalten wir neue Boni und mitunter Mali. Doch der Platz für Gedanken ist begrenzt. Das Verinnerlichen wie Vergessen von Gedanken kostet wertvolle Erfahrungspunkte. So müssen bei jedem dazugewonnenen Level die Möglichkeiten wohlüberlegt abgewogen werden.

In der Spielwelt gehen wir Spuren nach, erkunden die verschiedenen (Tat-)Orte und Befragen Zeug*innen. Wie wir dabei vorgehen, ist uns komplett freigestellt – es ist sogar möglich, den Fall zu lösen, ohne auch nur einmal die Leiche begutachtet zu haben.
Das Dialogfenster befindet sich an der Seite des Bildschirms und bietet die angenehme Möglichkeit, hochzuscrollen, um in den ausufernden Gesprächen nicht den Überblick zu verlieren.

In Dialogen stehen immer wieder Aussagen zur Wahl, mit denen wir unsere Affinität zu einer der vier Ideologien (Faschismus, Kommunismus, Ultraliberalismus und Moralismus) ausdrücken. Dies hat Konsequenzen, wie wir von unserer Umwelt wahrgenommen werden. Es unterstreicht den Open-World-Charakter und trägt zum Wiederspielwert der verhältnismäßig kurzen Geschichte (20 bis 40 Stunden) bei.

Kleider machen… Fähigkeiten. Hier das Outfit für ein Maximum an Schauspielkunst. Damit gelingt hoffentlich die Karaoke-Quest.

Eine Vielzahl von abwechslungsreichen Nebenquests bietet weiterhin Ablenkung vom Polizeialltag sowie eine Auflockerung der betrübten Stimmung an. Dazu kommt eine gehörige Portion abgedrehten Humors. Hier betätigen wir uns beispielsweise als Kryptozoologe auf der Suche nach fantastischen Wesen oder helfen Jugendlichen, einen Rave-Club in einer verlassenen Kirche zu errichten.

Ansonsten können in der Welt, wie in einem Point-and-Click-Adventure, Kleidung, Bücher und Gegenstände gefunden und verwendet werden. Ebenso treten des Öfteren zufällige Gedanken oder Geistesblitze auf, die neue Ansätze liefern. Gekämpft wird nicht im eigentlichen Sinne, es bleibt meist bei den Wortgefechten. Auch Lebenspunkte und Moral sollten zwar im Blick behalten werden, sind jedoch nicht so wichtig, wie bei kampflastigeren Vertretern des Genres.

Recht schnell entwickelt das Spiel seinen eigenen Sog, bei welchem die nächste Spur, die nächste Befragung hinter jeder Ecke lockt und zum Weiterspielen motiviert.

Mitten im Verhör mit der Schlägertruppe der Hafengewerkschaft. Doch so langsam kommen wir hinter das Netz aus Lügen. Jetzt müssen taktisch kluge Fragen gestellt werden.

Wer bin ich und wenn ja, wie viele? – Die eigenen Fähigkeiten und das Regelsystem

Zu Beginn des Spiels können wir uns einen Archetypus für unseren Charakter auswählen. „Der Denker, „Der Sensible“, „Der Körperbetonte“ oder eine Eigenkreation unterscheiden sich jedoch nur in der Zusammensetzung der Attribute Harrys, nicht in seiner Hintergrundgeschichte. Ob wir einen Punkt oder fünf Punkte in die Attribute Intellekt, Psyche, Konstitution und Motorik stecken, bestimmt dann, wie hoch wir die 24 verschiedenen Fähigkeiten leveln können.

Anstelle eines klassischen Fähigkeitenbaumes präsentiert sich der Charakterbogen womöglich als eines der innovativsten Features von ZA/UMs Rollenspiel. Die 24 Fertigkeiten stellen alle Teile unseres Selbst dar. Das sind dann zum Beispiel Aspekte wie unser Empathievermögen, unser enzyklopädisches Wissen oder unsere persönliche Schmerzgrenze.

Ist in Gesprächen eine Fertigkeitenprobe vonnöten, würfelt das System zwei sechsseitige Würfel und addiert Attributs- und Fertigkeitenwert. Dieses Gesamtergebnis muss eine bestimmte Schwelle überschreiten, damit ein Erfolg eintritt. Weiße Würfelproben können später wiederholt werden, der Ausgang von roten Würfen ist hingegen endgültig.

Das Gedankenkabinett ermöglicht uns, aus Hirngespinsten mächtige Boni (und Mali) zu synthetisieren.

Jedoch werden beim Aufleveln, was durch das Führen von Dialogen oder Abschließen von Missionen erreicht wird, nicht nur Zahlenwerte verändert. Die Aspekte unserer Psyche sprechen in bester „Kleinhirn an alle“-Manier mit uns – Selbstgespräche sind ein essenzieller Teil von Disco Elysium. Unser Autoritätsempfinden fordert uns Mal um Mal auf, doch „hart durchzugreifen“ und Drastisches zu tun, während die elektrochemischen Vorgänge in Harry sich eigentlich nur in eine dunkle Ecke verziehen möchten und ein paar Drogen nehmen wollen.

Drogen sind gewissermaßen ebenso ein Feature, sie erhöhen unsere Fähigkeitengrenze, haben jedoch ganz offensichtliche Nachteile zur Folge.

Oftmals sind die Monologe der Fähigkeiten (oder unserer entsetzlichen Krawatte!) auch philosophischer Natur und drehen sich um den Sinn des eigenen Seins.

Dabei gibt es keine Fähigkeit, die nur Vorteile mit sich bringt. Ist unser enzyklopädisches Wissen sehr hoch, verliert sich Harry in trivialem Wissen und wird bombardiert mit unwichtigen Informationsfitzelchen. Ist es zu niedrig, fehlt uns wichtige Allgemeinbildung, um neue Verbindungen im Fall zu ziehen.

Die Selbstgespräche bringen nicht nur Abwechslung in die zahlreichen Befragungen, sie helfen außerdem, den eigenen Charakter besser kennenzulernen und zu gestalten.

Fähigkeiten sind nicht gleich Fähigkeiten. Denn in Disco Eylsium sprechen unsere Aspekte immer wieder mit uns und geben mal mehr, mal weniger hilfreiche Vorgehensweisen. Hier „überredet“ uns unsere konzeptbildende Fertigkeit, sich aus dem Stehgreif einen neuen Namen für unser amnesiegeplagtes Selbst einfallen zu lassen.

Wie ein expressionistisches Gemälde – Grafik und Musik

Auch der Charakterbogen weiß mit abwechslungsreichen Grafiken zu begeistern

Disco Elysium besticht mit seinem unvergleichlichen Grafikstil. Martinaise und die Charakterbilder der Anwohner*innen sind in farbenfrohen, geradezu expressionistischen Aquarell-Tönen dargestellt. Keine Person gleicht der nächsten. Dafür sind die 3D-Modelle deutlich minimalistischer gehalten, worüber jedoch hinwegzusehen ist. Denn spätestens bei den Bildern im Gedankenkabinett und der grafischen Darstellung der lebendigen Fähigkeiten übertreffen sich die Künstler*innen wieder an Detailverliebtheit.

Beeindruckende Bauwerke, wie diese doloresianische Kirche, kommen in Disco Elysiums Grafikstil gut zur Geltung..

Untermalt wird das Wandeln über die Karte durch Musik der Indie-Rock-Band British Sea Power. Diese steuerten einige ihrer eigenen Songs bei oder münzten bekannte Titel von sich um, damit sie zu Elysium passten. Der Soundtrack ist dabei nie zu aufdringlich, unterstreicht jedoch die melancholische Grundstimmung des Spiels.

Die (englische) Vollvertonung des Final Cuts verstärkt die Immersion. Denn nun ist man weniger geneigt, den Text lediglich nach Informationen zu überfliegen, sondern die sehr verschiedenen Stimmen auf sich wirken zu lassen und bedacht zu überlegen, welche Dialogoption als nächstes gewählt wird.

Die harten Fakten:

  • Entwicklerstudio: ZA/UM
  • Publisher: ZA/UM
  • Plattform: PC, PS4, PS5
  • Sprache:
  • Sprachausgabe: Englisch
  • Text: Deutsch, Englisch, Chinesisch (vereinfacht und traditionell), Spanisch, Koreanisch, Brasilianisches Portugiesisch, Französisch, Russisch
  • Mindestanforderungen:
  • Betriebssystem: Windows 7 64-bit
  • Prozessor: Intel Core 2 Duo
  • Arbeitsspeicher: 2 GB Ram
  • Grafik: DirectX 11 kompatible Grafikkarte (512 MB Speicherplatz)
  • DirectX: Version 11
  • Speicherplatz: 20 GB verfügbarer Speicherplatz
  • Genre: Rollenspiel, Adventure, Mystery
  • Releasedatum: 30. März 2021 (erweiterter Final Cut)
  • Spielstunden: 20-40 Stunden
  • Spieler*innen-Anzahl: Singleplayer
  • Altersfreigabe: USK 16
  • Preis: Ab 39,99 EUR
  • Bezugsquelle: Steam, Playstation Store, GoG

 

Fazit

Das mit der isometrischen Perspektive auf den ersten Blick vielleicht etwas angestaubt wirkende Disco Elysium entpuppt sich schnell als waschechter Geheimtipp für Freund*innen des gepflegten Rollenspiels. Von den Startschwierigkeiten, die unglaublich alte und dichte Welt in Gänze zu erfassen, abgesehen, ist Disco Elysium ein sehr unterhaltender und innovativer Titel.

Die Einbindung der eigenen Fähigkeiten als Gesprächspartner ist witzig und sorgt, wie die Nebenmissionen und Lebenseinstellungen, für Abwechslung und Wiederspielbarkeit. Die Story mag mit 20 bis 40 Stunden verhältnismäßig kurz ausfallen, hat dafür jedoch keine Längen oder mühseligen Passagen.

Musik und Grafik geben ihr Bestes, die durch die Geschichte geschaffene, trostlose Atmosphäre zu unterstützen und trotzdem mit so manchem Farb- und Tonklecks zu versehen. Dies lässt auch über die etwas gröber geratenen 3D-Modelle hinwegblicken.

Die Grundlagen der Ermittlungsarbeit und die hintergründigen Regeln des Systems sind schnell erlernt. Insgesamt spielt sich Disco Elysium wie ein guter Krimi in einem äußerst unverbrauchten Setting, von dem zu hoffen ist, dass wir es in Zukunft noch öfters zu Gesicht bekommen.

  • Unglaublich detaillierte und faszinierende Welt
  • Tiefgehende Texte, gute Vollvertonung
  • Innovative Nutzung von Fähigkeiten als NSC
 

  • Informationsflut sorgt für hohe Einstiegshürde


Artikelbilder: © ZA/UM

Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Saskia Harendt
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

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