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Nach Tomie – der Geschichte einer Femme Fatale auf der Spur des Todes – ist ein neues Werk von Itô Junji durch den Verlag Carlsen Manga herausgegeben worden. Aus mehreren Kurzgeschichten bestehend, ist für jeden HorrorManga Fan etwas dabei. Wir stellen euch den Band vor und gehen auf ein besonderes Merkmal genauer ein.

Der japanische Horror-Manga-Zeichner Itô Junji hat sich in Deutschland längst einen Namen gemacht. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Tomie, eine Serie über ein unsterbliches Mädchen, das ihre Verehrer in den Wahnsinn treibt und Uzumaki, eine Reihe über eine Stadt, die von Spiralen besessen ist. Mit Lovesickness – in Japan erstmals 2001 erschienen – ist ein weiterer Horror Manga erschienen, der zumindest genauso gut ist, wie seine Vorgänger.

Handlungen

Lovesickness – Liebeskranker Horror ist ein Sammelband bestehend aus der Hauptgeschichte Lovesickness, dem Zwei-Teiler Die seltsamen Geschwister Hikizuri und den Kurzgeschichten Das Haus der Phantomschmerzen, Die Rippenfrau und Erinnerungen an echte Scheisse.

Wer bereits mit den Werken von Itô Junji vertraut ist, für den*die ist allein die Hauptgeschichte des Bandes Grund genug, das Buch in die Hand zu nehmen, denn sie enthält einige Merkmale seiner vorherigen Werke wie Uzumaki.

Lovesickness spielt in einer Stadt, in der das „Wahrsagen an der Kreuzung“ der neuste Trend ist. Dabei stellt sich eine Person an eine Kreuzung und bittet den*die erste*n Passant*in, ihm*ihr die Zukunft vorherzusagen. Was als Albernheit der Teenager begann, eskaliert schnell, als ein schöner, schwarz gekleideter Junge an der Kreuzung erscheint und den Mädchen böswillig eine unglückverheißende Zukunft vorhersagt. Die Mädchen sind davon besessen, die Vorhersagen des Jungen zu erfüllen – und das in einem selbstzerstörerischen Ausmaß.

Fukada Ryusuke, die Hauptfigur der ersten Geschichte, hat sich als Sechsjähriger auch an diesem „Spiel“ beteiligt. Damals hat er aus einer schlechten Laune heraus, einer Frau ein unglückliches Schicksal vorhergesagt, die sich daraufhin umgebracht hat. Noch Jahre später plagen ihn deshalb Schuldgefühle, weil er glaubt, ihren Tod verursacht zu haben. Die Tatsache, dass es sich bei der Frau um die geliebte Tante seines Schwarmes Midori handelt, macht die Sache nicht einfacher. Nach einiger Zeit zieht er in seine neblige Heimatstadt zurück. Jetzt steht er wieder auf der Kreuzung und gibt nun glückverheißende Vorhersagen als Teil seiner eigenen Besessenheit und Wiedergutmachung ab.

Lovesickness weist Merkmale einer klassischen Geschichte von Itô auf: eine unheilvolle Stadt, eine Steigerung des Gruselfaktors beim Fortschreiten der Geschichte, einen verunsicherten Helden und ein katastrophales Ende. Wie schon in Uzumaki und anderen Geschichten zuvor, sind die Figuren in Lovesickness Obsessionen erlegen, die sich ihrer Kontrolle entziehen, und zwar sowohl in Bezug auf das Schicksal, das ihnen zuteilwird, als auch in Bezug auf das Wesen, das es ihnen beschert. Das Ergebnis ist eine rasante, beunruhigende Geschichte über Besessenheit, Berühmtheit und den Einfluss, den diese beiden Faktoren auf andere ausüben.

Die nächsten beiden Geschichten der seltsamen Geschwister Hikizuri handeln von einer unheimlichen Familie bestehend aus sechs Geschwistern, die ihre Freunde und sich gegenseitig auf die übelste Art auf die Schippe nehmen. Das erste Opfer ist der Freund einer der Schwestern, der wortwörtlich zu Tode erschreckt wird. In der zweiten Geschichte versuchen die Geschwister die Geister ihrer verstorbenen Eltern durch ein Seance heraufzubeschwören.

Das Haus der Phantomschmerzen ist eine düstere Geschichte, in der ein Mann einen Job bei einer reichen Familie annimmt. Der Sohn der Familie ist krank und scheint Schmerzen zu haben, die nur gelindert werden können, indem bestimmte Teile des Hauses gerieben werden.

Besonders interessant ist diese Geschichte aufgrund des Verhältnisses von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, wie sie oft in Japan anzutreffen ist. Die Arbeiter in der Geschichte versuchen die Schmerzen des kranken Jungen zu lindern und nehmen dafür sogar eigene Schmerzen in Kauf, was letztendlich sogar zu ihrem Tod führt. Dies könnte sinnbildlich für karôshi (Tod durch Überarbeiten) stehen. In Japan herrscht in vielen Unternehmen ein hoher Arbeitsdruck und bei den Arbeitnehmern herrscht oft eine hohe Arbeitsdisziplin. Die Interessen des Unternehmens stehen dabei an erster Stelle.

Die Rippenfrau ist eine Geschichte über ein Teenager-Mädchen, das mit ihrem Aussehen bzw. ihrer fehlenden Taille unzufrieden ist. Sie möchte sich daraufhin durch eine Operation einige Rippen entfernen lassen. Nachts wird sie von einer merkwürdig klingenden Melodie heimgesucht. Bei dem Versuch herauszufinden, woher diese Melodie kommt, macht sie eine verstörende Entdeckung. Auch diese Geschichte kann als Gesellschaftskritik bzw. Kritik am Schönheitswahn, der bei jungen Mädchen und Frauen immer schlimmer zu werden scheint, aufgefasst werden. 

Die größte Überraschung von Lovesickness ist die sehr kurze Geschichte Erinnerungen an echte Scheisse. Auf dem ersten Blick ist es ungewöhnlich, dass in einer Sammlung von Geschichten, die vor den Gefahren von Besessenheit warnen und Themen wie die giftige Ansteckungskraft von Schmerz und unausgesprochenen Gefühlen behandeln, eine der besseren Geschichten, eine Geschichte eine über „Scheiße“ ist. Sie handelt von einem Jungen, der auf einem Herbstfest eine erstaunliche Entdeckung macht: einen Stand, an dem hyperrealistische Fäkalien verkauft werden. Nun überlegt er ob und wie er diese Fäkalien kaufen soll. Zwar ist der Gruselfaktor im Vergleich zu den anderen Geschichten nicht besonders ausgeprägt, jedoch vereint es die Art und Weise der Geschichtenerzählung von Itô Junji mit einem Hauch Komik. 

Zeichenstil und Erscheinungsbild

Dass Manga traditionellerweise schwarz-weiß sind, ist nichts Neues. Itô Junji nutzt eben dieses Merkmal, um unheimliche Bilder und leblose Figuren und Gestalten zu schaffen. Die Figuren sind bleich und besitzen realistische, detaillierte Gesichtszüge. Die Charaktere behalten trotz allem ihre bizarre Erscheinung. Dies verursacht ein Gefühl der „Entmenschlichung“, welches ein häufiges Thema in seinen Manga ist, und es trägt zur Gesamtatmosphäre seiner Geschichten bei.

Darüber hinaus ist ein besonderes Merkmal die Art und Weise der Schraffierung. Schattierungen werden bei Itô Junji oft durch parallele Linien angedeutet, was den dramatischen Effekt steigert. Sein Zeichenstil setzt auf starke Kontraste, sowohl bei den Charakteren als auch bei der Umgebung. Die Verwendung von Schwarz und Weiß – ohne viele Graustufen – trägt dazu bei, ein Gefühl von Tiefe zu erzeugen, was den unheimlichen Realismus seiner Arbeit noch verstärkt.

Die Panels sind sauber getrennt und gerahmt, jedoch stechen einzelne Szenen mit großen halb- bis ganzseitig Zeichnungen heraus. Dabei handelt es sich meist um schockierende und düstere Inhalte.

Die Verbindung von traditionellem japanischem Theater und Horror

Bei der Gelegenheit sollen an dieser an dieser Stelle zwei Formen des traditionellen japanischen Theaters – das Nô-Theater und das Kabuki – und ihre Auswirkungen auf den Horror betrachtet werden. Hiermit soll kein kausaler Zusammenhang erklärt werden, denn selbst die Forschung ist sich da uneinig und möglicherweise gibt es nicht den einen Ursprungspunkt. Was aber gesagt werden kann, ist, dass es zumindest eine Verbindung zwischen Nô-Theater und gewissen Horror-Elementen, die sowohl im Film als auch der Literatur verwendet werden, gibt.

Das Nô-Theater entwickelte sich seit dem vierzehnten Jahrhundert und zeichnet sich durch die Verwendung von Masken aus. Zudem ist es eine Verschmelzung von Gesang, Tanz und Musik.

Zu den Themen des Nô-Repertoires gehören unter anderem Liebe, Eifersucht, Rache und Geister. Jay McRoy nennt in seinem Buch Japanese Horror Cinema fünf Oberkategorien für die Themen der Nô-Stücke. Eine dieser Kategorien beinhaltet kyojo-mono (Verrückte-Frau-Stücke) oder kurui-mono (Rausch-Stücke). Dazu gehören Unterkategorien wie shunen-mono (Rachestücke) und kyoran-mono (Wahnsinnsstücke), in deren Mittelpunkt gesteigerte Emotionen stehen. In vielen Stücken steht eine archetypische Frauenfigur im Mittelpunkt, die durch einen Trauerfall in den Wahnsinn getrieben wird. Im Todesfall kehrt sie als Geist wieder, der sich an denen rächen will, die ihr im Leben Unrecht getan haben.[1]

Kabuki, eine weitere Form des traditionellen japanischen Theaters, welches seit dem siebzehnten Jahrhundert auf dem Vormarsch ist, ähnelt bezüglich der stilistischen Aspekte, dem Nô-Theater. Noch heute hat Kabuki einen großen Einfluss auf das zeitgenössische Theater. Ein besonderes Merkmal des Kabuki ist die Theatralik: aufwendige Kostüme, bemerkenswerte Bühneneffekte.

Der Theaterwissenschaftler Samuel L. Leiter erklärt zur dämonischen Frauengestalt im Kabuki (frei übersetzt) Folgendes:

„Eine der wichtigsten Arten, wie Frauen, auf denen herumgetrampelt wurde, Macht erlangen, ist, dass sie sich nach ihrem Tod in rachsüchtige Geister verwandeln. Die ganze Welt der egoistischen, untreuen Ehemänner und Liebhaber muss in Deckung gehen, wenn eine dieser Frauen aus dem Jenseits zurückkehrt, um sich an jenen zu rächen, die ihr Unrecht getan haben.“[2]

In Lovesickness findet diese Gestalt der rachesuchenden Frau vermehrt Anwendung. Sei es Rache für die in den Selbstmord getriebene Tante oder die Trauer über eine verlorene Liebe, viele weibliche Charaktere wollen Vergeltung für das Unrecht, das ihnen widerfahren ist.

Was die Erscheinungsform angeht, haben viele dämonische Frauen im japanischen Theater langes, schwarzes Haar. Dieses Attribut wird sowohl im zeitgenössischen japanischen Horrorkino (z.B. Ringu) verwendet, als auch in Horror Manga, wie hier bei Lovesickness oder auch bei Uzumaki.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Carlsen Verlag
  • Autor: Junji Ito
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Hardcover 215mm (Höhe) x 148mm (Breite)
  • Seitenanzahl: 418
  • Preis: 24,00 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Carlsen Manga, Amazon, idealo

 

Fazit 

Lovesickness – Liebeskranker Horror ist bei weitem die beste Geschichte in Itô Junjis neuester Veröffentlichung, und für mich war es eine der wenigen Erzählungen, von der ich sagen kann, dass ich sie von Anfang bis Ende gerne gelesen und genossen habe. Glücklicherweise nimmt sie einen großen Teil des Buches ein, so dass es sich auf jeden Fall lohnt, den Band nur wegen dieser Geschichte zu lesen. Die Themen, die darin behandelt werden und wie Itô diese Geschichte mit unserer Gesellschaft verbindet, wenn auch etwas bizarr, ist unglaublich.

Da die erste Geschichte so stark ist, kann die darauffolgende Geschichte Die seltsamen Geschwister Hikizuri, die mehr Slapstick ist, nicht mithalten und verblasst im Vergleich. Die Charaktere der Geschichte haben auf Dauer genervt und die Leseerfahrung wurde dadurch geschmälert.

Die Tatsache, dass der Band bis auf die Hauptgeschichte mehr Kurzgeschichten beinhaltet, führt leider dazu, dass zweitere nicht sonderlich einprägsam sind. Die Handlungen und die Charaktere sind nicht besonders ausgereift. Zudem erschienen die Übergänge zu den verschiedenen Geschichten etwas abrupt, so als wäre die vorherige Erzählung nicht zu einem wirklichen Schluss gekommen.

Fans von Itô Junji werden genau wissen, was sie von Lovesickness erwarten können: guten, intensiven Horror im Üblichen Stil. Hier wird nicht wirklich Neuland betreten oder etwas ganz besonderes geboten, dennoch sollte es von Itô Junji Fans auf keinen Fall ausgelassen werden. Auch für neue Fans, die noch nie einen Manga von ihm gelesen haben, ist dieser Band geeignet und macht sicherlich Lust auf Mehr.

  • Bizarre, interessante Gruselgeschichten
  • Ausdrucksstarker Zeichenstil
  • (nicht so) versteckte Gesellschaftskritik
 

  • Einige Geschichten zu kurz
  • Abruptes Ende

 

Fußnoten
[1] McRoy, Jay (2005): Japanese Horror Cinema. University of Hawai’i Press.

[2] Leiter, Samuel, L. (Hrsg.) (2002): A Kabuki Reader: History and Performance. Sharpe.

Artikelbilder: © Carlsen Verlag
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Susanne Stark
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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