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Mit Ruins of the Lost Realm für The One Ring (2nd Edition) erweitert Free League die Startregion aus dem Grundregelwerk um das südliche Eriador. Was hat ein leeres Land, das nur noch von den Resten vorhergehender Zeitalter zehrt, dem Schatten aus dem Osten entgegenzusetzen?

Während es in den Hobbit-Abenteuern aus The One Ring – 2nd Edition im Auenland noch erwartungsgemäß beschaulich und friedlich zugeht, bringt Free League mit Ruins of the Lost Realm den ersten vollwertigen Regionalband heraus, welcher sich den Ländern südlich des Auenlands widmet. Dieser Teil des ehemaligen Dúnedain-Königreichs Arnor ist nur noch ein Schatten seiner selbst: In den Mauern der Ruinen von ehemals prachtvollen Städten und  in Bauwerken aus früheren Zeitaltern hausen Kriminelle, Ausgestoßene oder Menschen, die sich woanders nicht zugehörig fühlen.

Aber noch nicht alle Orte sind verloren, denn die Sehnsucht und Erinnerung an bessere Zeiten hält noch einige Menschen fest, die hier in kleinen Inseln der Zivilisation versuchen, ihre Hoffnung zu erhalten und ihr Zuhause nicht aufgeben.

Ebenso wie im Grundregelwerk schreibt man aktuell das Jahr 2965 – 23 Jahre, nachdem Bilbo von seinem Abenteuer zurück ins Auenland kehrte und den Einen Ring mitbrachte.

Werkstreue

In einem Absatz wird darauf eingegangen, dass man sich in Ruins of the Lost Realms dafür entschieden hat, die Texte der Vorlage (wie beispielsweise Appendix B aus Herr der Ringe) im Sinne der Tauglichkeit für das Rollenspiel so zu deuten, dass die beschriebenen Länder nicht völlig verlassen sind, wie es Tolkien schon für das Jahr 2912 andeutete.

Aufteilung

Das Buch ist in drei Kapitel aufgeteilt. Jedes Kapitel betrachtet die Länder aus einem anderen Blickwinkel. Im ersten Kapitel werden die Region und ihre Bewohner*innen beschrieben, im zweiten Kapitel liegt der Fokus auf Fraktionen, die den Charakteren gefährlich werden könnten. Das dritte Kapitel liefert eine Auswahl interessanter Landmarken der Region, die als Handlungsorte für Abenteuer aufbereitet wurden. Das Ganze wird mit einigen Regelerweiterungen im Appendix abgeschlossen.

Kapitel 1: Fog over Eriador

Ein Teil der Brücke von Tharbad ist noch ganz

Dieses Kapitel stellt als Einleitung auf den ersten 30 Seiten die Länder vor:

  • Südlich von Bree stößt man auf die Ruinen des einstigen Königreichs Cardolan
  • Minhiriath ist der von den Elben übernommene Name für das Land zwischen den Flüssen Greyflood (Gwathló) und Brandywein
  • Südlich des Greyflood befinden sich das düstere Sumpfland und die harsche Weite des von vielen Schlachten gebeutelten Enedwaith

Der größte Teil ist der von Verfall geprägten, zu großen Teilen leerstehenden Stadt Tharbad gewidmet. In früheren Zeiten verband sie die beiden Flussseiten des Greyflood durch eine prächtige Brücke, die heute teilweise eingestürzt ist. Die Stadt bildete damit den zentralen Hafen und Knotenpunkt zwischen den See-König*innen der Númenor, dem Königreich der Zwerge aus Moria und den Elben von Hollin. Später, im zweiten Zeitalter, verband sie die Königreiche Arnor und Gondor.

Heute, nachdem die Königreiche vergangen sind und das Land durch Kriege und Flut immer mehr verfiel, hat Tharbad keinerlei politische Bedeutung mehr und wird von einem „Kapitän der Stadt“ regiert, der mehr seinen eigenen Interessen folgt, als sich für einen Wiederaufbau einzusetzen. In seinem Umkreis tummeln sich Menschen, die einerseits ihre Heimat nicht aufgeben wollen und dafür eine Herrschaft von Söldner*innen in Kauf nehmen, und jene, die hier ihren zwielichtigen Geschäften nachgehen.

Die beiden Hälften der Stadt mit ihren markantesten und zentralen Gebäuden, sowie hervorstechende und einflussreiche Bewohner*innen werden auf zwölf Seiten beschrieben und durch eine großformatige Karte (34x70cm) ergänzt, die ebenfalls noch einmal samt Legende im Vorsatz des Buches abgedruckt ist.

Karte von Tharbad

Jeweils 2-3 Seiten sind den anderen Gegenden gewidmet: Swanfleet mit seinen sprechenden Tieren und den dort lebenden, scheuen Menschen.

Wo der Greyflood ins Meer mündet, befinden sich die Überreste der Hafenstadt Lond Daer.

Zwerge versuchen den fast versiegten Minen der Hallen von Harmelt noch die letzten Erzreste abzugewinnen und verbittern langsam ob der Erkenntnis, dass die Zeit des Reichtums sich dem Ende naht.

Am Ende des Kapitels wird kurz auf die Ruins of Cardolan, die Lone-Lands of Miniriath und Eryn Vorn, die finsteren Überreste des Waldes, der früher den Großteil der Region bedeckte, eingegangen.

Kapitel 2: A Gathering Storm

Die nächsten 27 Seiten widmen sich den Fraktionen, die jetzt oder bald erst dem Schatten dienen. Manche werden verführt und helfen Sauron mit ihrem Eigennutz, ohne sich dessen bewusst zu sein. Anderer unterstützen absichtlich die Kräfte des Schattens und hoffen davon zu profitieren. Hier findet die Spielleitung ein Dutzend NSC, die als einzelne Personen oder Gruppen mit Werten versehen sind und sich sehr gut als Antagonist*innen für eigene Szenarien eigenen. 

Dies sind die drei mächtigsten Fraktionen:

  • Black Númenórans

Von Sauron verdorbene Nachfahren des alten Volkes aus dem Westen, die in seinem Auftrag durch die Länder ziehen und nach den versteckten Zufluchten der Elben jagen.

  • Raiders from Dunland
    In Eriador plündernde Nomaden aus dem Süden.
  • White Hand of Saruman
    Saruman, mit seinem wachsenden Wissen über die Ringe und seinen vielen Agenten, stellt eine eigene Fraktion dar.

Gerade die Darstellung Sarumans ist hier sehr gut gelungen. Seinem Charakter wird in wenigen Seiten Tiefe verliehen, die ihn zu einem ebenso hilfreichen wie potenziell gefährlichen NSC macht. Im Jahr 2965 steht er zwar nicht im Dienste Saurons, hat aber schon die ersten Schritte ins Verderben getan. Er kann somit ein mächtiger Verbündeter sein oder ein Gegenspieler, wenn die SC sich seinen Interessen entgegenstellen.

Die Entwicklung der drei Fraktionen wird jeweils in einer übersichtlichen Zeitlinie der Jahre 2965 bis 2975 dargestellt. Viele der Ereignisse beziehen sich auf die Geschichten aus Herr der Ringe und Der Hobbit, erweitern diese und sind teilweise untereinander vernetzt.

Als Regionalband enthält Ruins of the Lost Realm kein fertig beschriebenes Szenario, aber die Fülle von nutzbarem Material bietet Stoff für viele Szenarien. Die Zeitleisten können als Ausgangspunkt für ganze Kampagnen dienen, die sich mit der jeweiligen Fraktion beschäftigen. Alternativ kann man die unterschiedlichen Fraktionen miteinander verbinden und damit die Gruppe in ein immer komplexer werdendes Geflecht gegenteiliger Interessen ziehen.

„Dies war der große Wachturm von Amon Sûl. Hier werden wir heute Nacht rasten“ – Aragorn bei der Wetterspitze

Kapitel 3: Landmarks

Ergänzt wird das bisher präsentierte Spielmaterial durch ein Dutzend Schauplätze, die alle auf der ausführlichen Landkarte im hexagonalen Journey-Format (zur Verwendung für die Journey-Regeln) im hinteren Vorsatz des Buches aufgelistet sind. Die Schauplätze runden die Spielhilfe ab und bilden mit 65 Seiten den größten Abschnitt. Dabei sind unter anderem die aus der literarischen Vorlage bekannte Wetterspitze, die Zuflucht der Ranger und Mount Gram.

Die Landmarken sind beschrieben nach dem Schema, welches schon im Grundbuch für einen Beispiel-Schauplatz benutzt wird:

  • Rumour

Diese Information können die SC während der Reise oder in der Fellowship-Phase erfahren. Meist eine kleine Erzählung aus Sicht der Bevölkerung, besonders bei den Menschen, die in der Nähe des Ortes wohnen.

  • Old Lore

Auf dieses Wissen kann man stoßen, wenn man zielgerichtet recherchiert, oder ebenfalls in der Fellowship-Phase. Es ist oft präziser und näher an der Wahrheit.

  • Background

Die zusammengefasste Geschichte und Hintergrund des Ortes sind hier für die SL aufbereitet. Bei bestimmen Orten erhält man hier auch Hinweise, wie die SC hineingelangen könnten.

  • Journey Events

Per Infokasten gibt es besondere Ereignisse oder Gefahren, die bei einer Reisephase in der Nähe dieser Landmarke auftreten können.

  • Locations

Hier wird der Ort detailliert beschrieben. Einige Locations erhalten kleine Pläne. Außerdem findet man hier Information zu Schätzen, Bewohner*innen und möglichen Feind*innen.

  • Schemes and Trouble

Schlussendlich erhält man eine Einordnung der Landmarke ins größere Gesamtbild (örtlich oder geschichtliche, je nach Ort) sowie mögliche Gefahren und Ereignisse, auf die eine Gruppe hier, während der Adventuring-Phase, treffen kann.

Appendix

Der Appendix fällt mit einer Seite kurz aus und enthält ein paar kleine Regelanpassungen zu Councils, Skill Endeavours, dem Verleihen von legendären Gegenständen sowie einem Absatz zur subtilen Magie des Auges von Mordor.

Stimmung

Karte für die Spielleitung

Durch alle Kapitel zieht sich die melancholische Stimmung einer Region, die geprägt ist von Ruinen und Verfall und tief in einer glorreichen Vergangenheit wurzelt. Ihre Bewohner*innen versuchen noch von deren letzten Auswirkungen zu zehren, während das Land sehr wahrscheinlich seine beste Zeit hinter sich hat.

Das wirkt mitunter hoffnungslos, macht aber klar, warum der Schatten Saurons hier, wo die Bewohner*innen sich nach Menschen mit einer Vision für die Zukunft sehnen, wohl leichteres Spiel haben wird, als bei den beschaulichen, gutmütigen und zufriedenen Bewohnern des Auenlandes.

Erscheinungsbild

Die haptische und grafische Qualität von Ruins of the Lost Realm steht dem Grundregelwerk in Nichts nach. Die 120 Seiten des Hardcover-Bandes sind auf dem gleichen dicken und wertigen Papier gedruckt, die matt bedruckten, leicht vergilbt gestalteten Seiten sind äußerst angenehm zu lesen, und die drei doppelseitigen Gemälde, welche die Kapitel trennen, sind wieder eine echte Augenweide.

Die ebenfalls bekannten kleinen Infokästen lockern die längeren Texte auf mit knappen Beschreibungen interessanter Personen, Gegner*innen, Artefakte und SL-Hinweisen zur Verwendung in der eigenen Kampagne.

Zur Orientierung gibt es einen ausführlichen Index und ein Lesebändchen. Die große Karte von Tharbad kann wunderbar als Spielrequisite eingesetzt werden oder einfach zur Verschönerung des Spielzimmers.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Free League
  • Autor*in(nen): Gareth Hanrahan, Francesco Nepitello, Marco Maggi
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: Deutsch/Englisch
  • Format: Hardcover, PDF
  • Seitenanzahl: 120
  • ISBN: 978-91-89143-49-4
  • Preis: ab 36,95 EUR (Hardcover), 19,99 USD (PDF)
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo, DriveThruRPG, Sphärenmeister

 

Fazit

Mit Ruins of the Lost Realm erhält man für die eigene The One Ring-Kampagne einen prallen, mit Spielmaterial gefüllten Quellenband. Viele Elemente sind auf Tolkien-typische Art miteinander vernetzt, sei es über die gemeinsame Geschichte, Orte oder alte Feind- und Freundschaften. Fans können hier viele Details wiederentdecken, und Neulingen können die Texte Lust machen, sich weiter in die reichhaltige Welt zu vertiefen.

Bei all den präsentierten Informationen fällt es aber schwer, den Überblick zu behalten. Vor allem die Eigennamen muss man sich aus den Fließtexten herausarbeiten und nochmal gesondert aufschreiben. Hier wurde die Gelegenheit verpasst, die Namen zumindest grafisch hervorzuheben oder die wichtigsten Eckdaten noch einmal als Listen oder Tabellen am Ende der Kapitel oder gleich im Appendix verdichtet aufzubereiten zum schnellen Nachschlagen. Wer sich schwertut, sich Namen zu merken, hat hier Mehraufwand, der nicht sein müsste.

Als Quellenband fällt das allerdings nicht so sehr ins Gewicht, da man in jedem Fall die gewünschten Elemente für das eigene Szenario selbst aufbereiten wird.

Alles in allem wird hier eine Region präsentiert, die trotz vorgeblicher Leere und Einsamkeit voller abwechslungsreicher Geheimnisse, Gefahren und Abenteuer steckt.

  • Sehr viel Spielmaterial
  • Beschreibungen laden ein zum Erkunden
  • Hochwertige Karte
 

  • Fehlende Übersichten

 

 

Artikelbilder: © Free League
Layout und Satz: Annika Lewin
Lektorat: Rick Davids
Fotografien: Benjamin Dose
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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