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„Spire“, eine Stadt in einem gigantischen, uralten Turm. Seit die Hochelfen die heimischen Dunkelelfen unterwarfen, brodelt es in seinen Mauern. Als Teil einer Geheimloge agitieren die Spieler*innencharaktere gegen das imperialistische Regime. Das Rollenspiel Spire entführt in eine punkige Fantasywelt, die geprägt ist vom aussichtslosen, aber unermüdlichen Widerstand einer ausgebeuteten Unterschicht.

Der Spire.
Der Spire.

Das Rollenspiel Spire von Grant Howitt (Autor von unter anderem One Last Job und der neuen Edition von Paranoia) und Christopher Taylor erschien 2018 in englischer Sprache und 2020 auf Deutsch bei System Matters. Seither sind zahlreiche Quellenbände und Erweiterungen erschienen, drei Abenteuer wurden bereits auf Deutsch übersetzt.

Die zentrale Mission der Spieler*innencharaktere in dem als „Fantasy Punk“ betitelten System ist eindeutig: Die eiserne Herrschaft der Hochelfen – oder „Æl­fir“ – muss gestürzt werden, um die Drow von ihrem Joch zu erlösen. Dieses Ziel zu erreichen ist (so gut wie) unmöglich, doch der Weg dorthin ist ohnehin viel interessanter. Dieser führt, auf Um- und Schleichwegen, durch die zahlreichen Ebenen, Straßen, Gassen, versteckten Tempel und pochenden Untiefen des „Spire“, eines kilometerhohen Turmes unbekannter Herkunft. Dieser ist ein bunter Tummelplatz unzähliger Gestalten und Phänomene, die sich auf einer Skala von wunderschön und faszinierend bis hin zu beängstigend und abstoßend bewegen. Vieles hier wird vor allem Dungeons & Dragons-Spieler*innen und Fans klassischer Fantasy bekannt vorkommen, doch der Spire gibt bekannten Motiven seinen ganz eigenen, rebellischen Dreh.

Hier erhaltet ihr einen Einblick in die deutsche Version des Grundregelwerkes.

Die Spielwelt

DIE WELT IST NICHT NETT. Wohl gibt es auch hier sanfte Dinge, zarte Dinge, ein behagliches Leben – eures aber ist kein solches. Die Schicht, in die ihr geboren seid, stellt noch innerhalb der Unterschicht die Unterschicht dar. (Grundregelwerk S.12)

Die Beschreibung der Spielwelt nimmt (zuzüglich einiger Anhänge) fast die Hälfte des Buches in Anspruch. Auch aufgrund gewisser Probleme bezüglich der Übersichtlichkeit ist es am zielführendsten, diese Beschreibungen eher als bunten Fundus zu verstehen und weniger als etwas, das unbedingt alle wissen müssen.

Unterwerfung und Fron – Politik im Spire

Eine Gruppe Ælfir
Eine Gruppe Ælfir

Da das Spiel einzig und allein in seinen Mauern stattfindet, ist die Umgebung des Spire weitgehend irrelevant. Welchen Ursprung er hat oder welchem Zweck er dient, liegt im Dunklen und ist Anlass nie endender Spekulationen. Die Hochelfen – im Folgenden „Ælfir“– führten einst ihre Armeen aus der Kälte des hohen Nordens hinab, unterwarfen die Drow und errichteten eine drakonische Herrschaft.

Gibt es auch nominell keine Sklaverei, so sind doch alle Drow ab dem 16. Lebensjahr dazu verpflichtet dem Höchstbietenden einen Frondienst zu leisten. Wer Glück hat, dient als Ministrant, Privatsekretär oder – eine zweifelhafte Freude – wird als Schoßdrow zur Schau gestellt. Weniger Glückliche schuften als einfache Arbeiter oder müssen als Soldaten ihr Leben riskieren. Anschließend bleiben sie entweder in Diensten der Ælfir oder müssen sich anderweitig durchschlagen. Jedes kleine Vergehen kann dazu führen, dass man als Strafe wiederum in die Fron treten muss.

Der Spire wird von einem Stadtrat regiert, wobei Recht und Gesetz dehnbare Begriffe sind. Beispielsweise ist die Todesstrafe verboten. Wenn nun aber das Dasein einer Person ein zu großes Ärgernis für die Herrschenden darstellt, so wird sie schlichtweg von der Bestattergilde für tot erklärt. Wenn die besagte Person nun immer noch herumläuft, muss es sich wohl um einen administrativen Fehler handeln, der behoben werden muss.

Elfen und der ganze Rest – Spezies des Spire

Eine Plausch unter „Freunden“
Eine Plausch unter „Freunden“

Die dominierenden Rassen beziehungsweise Spezies des Spire sind Drow und Ælfir. Einzig spielbare Rasse sind die ursprünglich höhlenbewohnenden Drow, die den Großteil der Bevölkerung stellen, und die unter einem Fluch leiden, der das Licht der Sonne unerträglich für sie macht. Wer sich nicht angemessen verhüllt, erhält potenziell tödliche Brandverletzungen. Unter den Drow herrscht eine weitgehende Solidarität, die auch durch die Aufzucht des Nachwuchses bestimmt ist, der in Eiersäcken heranwächst. Diese werden von der einflussreichen Kaste der Hebammen bis zum Schlüpfen mit Blut „gefüttert“. Bis auf wenige Opportunisten lebt der Großteil der Drow in absolutem Elend.

Die Ælfir mögen wunderschön sein, ihnen fehlt es jedoch fast gänzlich an Gemeinschaftssinn oder Emotion. Wie ihre nördliche Heimat sind sie – bis auf wenige Ausnahmen – kalt und herablassend und verstehen sich als natürliche Herrscher über alle anderen Spezies. Tagein, tagaus schwelgen sie in exzessiven Festlichkeiten. In der Gesellschaft der Ælfir ist es dabei nicht nur Etikette, sondern eiserne Regel, das eigene Gesicht mit einer Maske zu verdecken. Wer besonders modebewusst ist, verfügt über eine Maske für jede Gelegenheit.

Weitere Völker sind: die hyänenartigen Gnolle, in Spire besonders begabte Dämonologen, die ewig mit den Ælfir im Krieg liegen; die technikaffinen Menschen; und zuletzt das sogenannte „Kroppzeug“ – vogelfreie Mutanten, degenerierte Kreaturen und goblinartige Wesen, die die unteren Ebenen bevölkern.

Die Stadt … und sonst nichts – Der Spire an sich

Eine Karte des Spire
Eine Karte des Spire

Die siebzehn Ebenen tragen Namen wie „Amaranth“, „Sonnenbasilika“, „Kreis der Heiligen Petra“ oder „Derelictus“. Auf den oberen Ebenen befinden sich die Herrscherviertel der Ælfir, zusammen mit deren religiösen Kultstätten. Hier regieren sie von hochgesicherten Ratssälen aus und kühlen Blut und Gemüt in Eisbädern. Der Transport von Waren und Personen erfolgt durch riesige „Himmelswale“, enormen Insekten, die dank ihrer Gasblasen durch die Lüfte schweben, und sogenannten Megacorviden, übermannsgroßen Rabenvögeln.

Unter der Erde fristen die Armen ihr Leben, während sich gut Betuchte im „L’enfer noir“ den exquisitesten und ungewöhnlichsten körperlichen Vergnügungen hingeben und kannibalische Ghoule ihr grausiges Werk verrichten. Tief unter der Stadt schlägt „das Herz“, wie das Regelwerk es ausdrückt, „eine glühende, ansteckende Fäulnis von jenseits dieser Welt“. Hier löst sich das Gefüge der Realität auf und kaum jemand anderes als die schreckenerregenden Bluthexen wagt es, hier dauerhaft zu leben. Diesem Teil der Stadt und den darunterliegenden Tiefen widmet sich das Rollenspiel Heart: the City Beneath der gleichen Autoren.

Die dreifaltige Damnou
Die dreifaltige Damnou

Die gesamte Stadt ist zudem bevölkert mit einer Unzahl verschiedener Kulte. Für das Spiel am bedeutendsten ist die Tempelloge „Unserer Herrin im Verborgenen“ und damit der Verehrung von Lombre, der dunklen Seite des Mondes, eines offiziell verbotenen Teil der dreifaltigen Mondgöttin Damnou. Hier organisiert sich der untergründige Widerstand gegen das System, dem die SC als Laientempler angehören.

Das Problem der Übersichtlichkeit – Kritik

Größter Wermutstropfen der Weltbeschreibung von Spire ist die Unübersichtlichkeit.

Abgesehen von einer einseitigen Karte im Regelwerk gibt es keinen systematischen Überblick über die Ebenen des Turmes. Stattdessen wird nach „Stadtvierteln und Gruppierungen“ vorgegangen. Diese Kategorisierung wäre eine gute Idee, wäre sie denn auch einheitlich. Stattdessen findet sich letzten Endes zu allem überall etwas. Bestes Beispiel sind die Religionen, zu denen man nicht nur Informationen in „Stadtviertel und Gruppierungen der Religion“ erhält, sondern auch im Rahmen der Einführung, bei den Charakterklassen und bei den besonderen Talenten. In letzterem Abschnitt wird zum Beispiel die „Glückspriesterin der Stols“ genannt. Um was für einen Kult es sich hier handelt, kann man nicht im Index nachsehen, in dem nur der Abschnitt zu den Talenten als „Glückspriesterin der Sols“ (sic!) aufgeführt ist. Glücklich also, wer über das PDF verfügt und hier per Suchfunktion stöbern kann.

Gleicht man die Beschreibung der Stadt im Regelwerk mit der Karte ab, verliert man schnell die Orientierung. Was auf welcher Ebene des Turmes liegt, wird häufig nicht beschrieben und manche Ebenen wie die „Ungebändigten Bereiche“ werden an keiner Stelle im Fließtext aufgeführt. Ein Beispiel: Im Fließtext ist vom „Blauen Hafen“ die Rede, der auch „Südhafen“ genannt wird. Dieser ist allerdings nicht auf der Übersichtskarte zu finden. Stattdessen wird auf der Karte der „Blaue Markt“ aufgeführt, der im Inhaltsverzeichnis und in der Beschreibung als „Basar“ bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um keinen Einzelfall. Vielleicht sind die vorhandenen englischsprachigen Zusatzmaterialien der Schlüssel, Lesende des Grundregelwerkes bleiben indes ratlos zurück.

In der Welt von Spire mischen sich auf originelle Weise düstere Aspekte von abgründiger Magie und okkulter Perversion mit leichtgängigen Fantasy-Elementen. Insbesondere das Gewirr an religiösen Traditionen ist dabei witzig, interessant und erinnert an das Werk des großartigen Terry Pratchett, der als Inspiration angeführt wird. Nur leider fehlt es dem Regelwerk dort, wo es vor Ideen übersprudelt, an der Stringenz und Klarheit, die man von einem Grundregelwerk erwartet.

Die Regeln

Die Regeln des Systems sind knapp und verdeutlichen, dass der Fokus des Systems auf der Narration liegt. Zum Spiel benötigt man 4W10 als Fertigkeitswürfel, einen W8, W6 und W3 – das heißt, einen W6, dessen Wurf halbiert wird. Gewürfelt wird nur in spielentscheidenden Situationen, Beschreibung und Spielflow haben Vorrang. Wenn notwendig wird mit einem W10 gewürfelt. Hinzu kommen weitere W10 je nach Fertigkeiten, Kompetenzen und eventueller Auszeichnung, also Erleichterungen. Man würfelt also maximal 4W10.

Bei den neun Fertigkeiten handelt es sich unter anderem um „Ermitteln“, „Kämpfen“ oder „Verbergen“, also grundlegenden Fähigkeiten des SC. Neun Kompetenzen wie „Akademie“, „Technik“ oder „Verbrechen“ beziehen sich auf das Umfeld, in dem ein SC aufgewachsen ist und das Vorwissen, das er dementsprechend mitbringt.

Bei einem Wurf wird lediglich der Würfel mit dem höchsten Ergebnis gewertet. Dabei geht man nach einer Ergebnistabelle vor: Kritischer Misserfolg – Misserfolg – Erfolg mit Anstrengung – Erfolg – kritischer Erfolg. Den Würfelpool kann die SL je nach Schwierigkeit der Situation um bis zu 2 Würfel, auf maximal einen Würfel verringern. Wenn weiter erschwert wird als ein SC Würfel hat, führt die überschüssige Erschwernis zu einer Herabstufung des Ergebnisses gemäß der Tabelle.

Die Ergebnistabelle
Die Ergebnistabelle

„Belastung“ und „Konsequenzen“ sind die zentralen Schlagworte des Regelsystems. Hier werden die fünf Widerstandskategorien Blut, Geist, Silber, Deckmantel und Leumund relevant. Je nach Situation wird die Belastung mit einem W3, W6 oder W8 ausgewürfelt. Man unterscheidet zwischen der Belastung der unterschiedlichen Widerstände und der zusammenaddierten Gesamtbelastung, die für die Konsequenzen relevant ist.

Nach jedem Anstieg der Belastung würfelt die SL auf Konsequenzen. Hier muss sie ein Ergebnis höher als die aktuelle Gesamtbelastung erzielen, sonst hat dies je nach Gesamtbelastung geringe, mittlere oder größere Konsequenzen zur Folge. Der Widerstandswert wird gegebenenfalls von der entsprechenden Belastung abgezogen.

Eine geringe Konsequenz auf Geist kann zum Beispiel eine panische Reaktion des SC sein, eine mittlere Konsequenz Gedächtnislücken und größere ein ganz grundlegender Bruch des Geistes und ein Wandel in der Gesinnung. Selbstverständlich können Belastung und Konsequenzen wieder abgebaut werden. Wenn für etwas mehr Spannung gesorgt werden soll, verzeichnet nur die SL die aktuelle Belastung und beschreibt den Spielenden den Zustand ihrer SC.

Der Kampf basiert ebenfalls auf diesem Würfelsystem, wobei Rüstung als Widerstand vor Belastungen auf „Blut“ fungiert und Waffen potentielle Zusatzeigenschaften mit sich bringen. Die Initiative wird nicht ausgewürfelt, sondern sollte sich aus der Situation ergeben und von der SL festgelegt werden. Für Gegner*innen wird nicht gewürfelt: Die SC reagieren, indem sie beispielsweise versuchen auszuweichen oder anderweitig zu reagieren.

Spire bietet ein übersichtliches und an zahlreichen Beispielen erklärtes Regelsystem. Das Prinzip der „Belastung“ und der „Konsequenzen“ erfordert zwar einiges an Buchführung durch die SL und vielleicht ein wenig Eingewöhnung. Dafür illustriert es aber sehr schön, dass jede Handlung der SC potentiell Konsequenzen hat und geht somit mit der narrativen Ausrichtung des Spiels Hand in Hand.

Charaktererschaffung

Der Charakterbogen
Der Charakterbogen

Charaktere und Charakterbau in Spire sind simpel und werden auf einem übersichtlichen, einseitigen Charakterbogen festgehalten. Vor der Wahl der Klasse legen die Spielenden fest, wo sie ihren Frondienst abgeleistet haben. Aus dieser Wahl ergeben sich diverse Boni, so erhält der Arbeiter +2 auf Blut und die Fertigkeit „Standhalten“, oder der Schoßdrow +2 auf Silber und die Kompetenz „Bessere Gesellschaft“.

Im Anschluss wählt man eine von zehn verfügbaren Klassen mit speziellen Fähigkeiten, Kontakten und Ausrüstung. Die Charakterklassen in Spire sind durchaus etwas Besonderes und weichen in ihrer Ambivalenz von der klassischen Fantasykost ab. Drei besonders markante Klassen sind „Aufwiegler“, also geborene Rebellen, die jede (Menschen-)Menge fest im Griff haben. Des Weiteren gibt es „Hebammen“: spinnenblütige Verteidiger, die sich fürsorglich der Eier der Drow annehmen und sich allen Bedrohungen entgegenstellen – auch gerne mit ein paar Gliedmaßen mehr als gewöhnlich. Dann sind da noch die „Ladhjann“, Priester der Mondgöttin, deren Licht und heilenden Einfluss sie beschwören können.

Die Hebamme
Die Hebamme

Alle Klassen haben Zugriff auf bestimmte Grundfähigkeiten. Hinzu kommen bescheidene, bemerkenswerte und bewunderungswürdige Talente. Beim Bau des Charakters darf man zwei bescheidene Talente wählen. Ein bescheidenes Talent der Hebamme sind beispielsweise die „Augen der Ishkrah“. Diese ermöglichen es dem SC, zusätzliche Augen auszuprägen, durch die okkulte, also nicht-göttliche, Magie gesehen und zu ihrem Ursprung verfolgt werden kann. Ein bemerkenswertes Talent ist der „Kokon der Wiedergeburt“, bei dem eine Person in einen magischen Kokon eingesponnen wird, um binnen einer Woche von allen geistigen und körperlichen Konsequenzen geheilt zu werden. Bewunderungswürdige Talente sind extrem machtvoll, so erlaubt es die „Gestalt der Ishkra“ einer Hebamme, sich in ein Mischwesen aus Spinne und Drow zu verwandeln.

Der Aufwiegler
Der Aufwiegler

Ein Erfahrungspunkte- oder Stufensystem gibt es nicht, stattdessen ist die Entwicklung der SC abhängig von ihren Handlungen. Beeinflussen die Handlungen eines Charakters den Spire ein wenig, dann verdient er sich ein bescheidenes Talent. Eine auffällige Veränderung eröffnet Zugang zu bemerkenswerten und eine enorme und eventuell dauerhafte Veränderung zu den bewunderungswürdigen Talenten. Statt bescheidener Entwicklungen können zudem Fertigkeiten sowie Kompetenzen erworben und Widerstände verbessert werden. Schließlich ist es auch möglich, eine Zweitklasse zu wählen und Talente aus dem Fundus anderer Gruppierungen und Kulte zu wählen, sollte man sich diesen im Spiel angeschlossen haben.

Die Talente bieten auf regeltechnischer Basis umfassende Möglichkeiten zur Weiterentwicklung. Dass keine EP vorhanden sind, sondern jeder Aufstieg an die Verdienste des SC gekoppelt ist, verknüpft Rollenspiel und regeltechnische Charakterentwicklung auf gelungene Weise.

Erscheinungsbild

Auf der Frontseite des dunkelblauen Din A4-Hardcovers wird eine Szene aus dem städtischen Leben des Spire gezeigt – inklusive vermummter Gestalten, die sich im Schatten verbergen. Für die zahlreichen, vollfarbigen Illustrationen des Regelwerkes zeichnet Adrian Stone verantwortlich. Der Illustrator erweckt mit seinem düsteren und plakativen Comic-Stil die Welt und vor allem die Charaktere des Spire zum Leben. Das gewünschte „Fantasy-Punk“-Gefühl, eine düstere Mischung aus klassischer Fantasy, Technik und Industrialisierung, wäre ohne diese Illustrationen nicht annähernd so nachvollziehbar.

Der Aufbau des Regelwerkes erscheint zunächst logisch: eine Einführung, einige Abschnitte zu Regeln- und Charakterbau, Weltbeschreibung, Hinweise für die SL und schließlich Anhänge. Wie oben schon erwähnt wurde, verspricht dieser Anschein mehr, als er halten kann. Vor allem in der Weltbeschreibung geht inhaltlich einiges durcheinander. Da hilft auch der Index am Ende des Buches nur bedingt weiter. Das PDF, in dem man sich dank Suchfunktion schneller zurechtfindet, sei hier dringend empfohlen. Für eine bessere Orientierung innerhalb des Regelwerkes wäre es zudem sinnvoll gewesen, das Buch in größere Überkapitel einzuteilen. Auch auf den Seiten selbst wäre mehr Übersichtlichkeit im Satz vorteilhaft. So würde es beispielsweise die Orientierung erleichtern, Unterüberschriften einzurücken, anstatt diese auf gleicher Ebene mit den anderen Überschriften zu belassen.

Ein Manko des Regelwerkes sind auch kleinere Fehler im Lektorat und zweifelhafte Entscheidungen der Übersetzungen. Einige Übersetzungen scheinen etwas holperig und kleinere Rechtschreibungs- („ddu“ auf S. 61, „gebe“ statt „gäbe“ auf S.89) oder Grammatikfehler wie „gebe“ statt „gib“ (als Imperativ von „geben“ auf S.178) wären schlicht und einfach vermeidbar gewesen und stellen ein Ärgernis dar.

Himmelswale und Corviden
Himmelswale und Corviden

Hinzu kommt ein absolut uneinheitlicher Umgang mit dem Gendern: Das Regelwerk gibt an, das generische Femininum zu verwenden und verweist beispielhaft auf das Wort „Spielerinnen“. Tatsächlich wird dies aber nicht einmal bei diesem Wort eingehalten. An anderer Stelle, zum Beispiel im Falle der Klassen, wird durchgehend das generische Maskulinum verwendet. Etwas schwierig ist auch, dass die gelegentliche, aber nicht einheitliche Verwendung des Pronomens „siere“ an keiner Stelle erklärt wird. Es handelt sich um eine Mischung aus „seine“ und „ihre“ als Ersatz für das englische „they“, die nicht unbedingt allgemein bekannt ist. Es soll hier nicht darum gehen, das Konzept des Genderns an sich zu diskutieren. Unstrittig ist allerdings, dass das Gendern innerhalb eines zusammenhängenden Textes einheitlich sein sollte, vor allem dann, wenn weniger bekannte Formen verwendet werden. Nur so kann ein guter Lesefluss entstehen und Irritationen bleiben aus.

So schön die Illustrationen des Regelwerkes also sind, desto kritischer ist dessen Übersichtlichkeit zu bewerten. Die deutsche Version weist zudem Uneinheitlichkeiten und Fehler auf, die nur mit mangelnder Sorgfalt im Lektorat zu erklären sind.

Die harten Fakten:

  • Verlag: System Matters (Englische Ausgabe bei Rowan, Rook and Decard)
  • Autor*in(nen): Grant Howitt, Christopher Taylor
  • Erscheinungsjahr: 2018 (Englische Erstausgabe)/2020 (Deutsche Erstausgabe)
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Hardcover (DIN A4)
  • Seitenanzahl: 220
  • ISBN: 978-3-96378-058-5
  • Preis: 54,95 EUR (Buch + PDF), 39,95 EUR (Buch), 24,99 EUR (PDF)
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo, DriveThruRPG, Sphärenmeister

 

Bonus/Downloadcontent

Auf der Website des System Matter Verlags lässt sich der deutschsprachige Charakterbogen herunterladen. Im Shop des Verlags können zudem drei Abenteuer auf deutscher Sprache erworben werden. Auf Tabletopaudio.com finden sich zudem sieben Audiospuren, die als Untermalung für einige Viertel der Stadt dienen können.

Im Shop des Verlags Rowan, Rook & Decard, der das englischsprachige Original veröffentlichte, können neben dem Grundregelwerk auch Karten, Quellenbücher, Abenteuer und weitere Zusatzmaterialien erworben werden, hier natürlich nur auf Englisch.

Fazit

Spire ist ein System mit zugänglichen Regeln, die sich hervorragend dazu eignen, eine abwechslungsreiche, wilde Geschichte über revolutionäre Akte und deren Konsequenzen zu erzählen. Charaktere tanzen dabei stets auf Messers Schneide: Ist tatsächlich jeder Hochelf ein Monster? Wie weit und über wie viele Leichen darf der Widerstand gehen? Kann ich meinen Freund*innen und meiner Familie vertrauen oder werden sie mich verraten, sobald ich mich umdrehe? Die organische Spielwelt steckt voller origineller Ideen und Neuinterpretationen bekannter Klischees. Vor allem kann das System mit interessanten Charakterklassen und deren Talenten punkten, die jede Menge Spaß im Spiel versprechen.

Schwerwiegendes Manko des Systems sind das bisweilen äußerst unübersichtliche und chaotische Regelwerk und die wiederholten Mängel im Lektorat des Buches. Diese Faktoren führen dazu, dass leider keine bessere Bewertung zustande kommen kam. Glücklicherweise ist die Grundprämisse von Spire interessant genug, um sich durch diese Kritikpunkte die Lust aufs Ausprobieren nicht verderben zu lassen, also dann: Nieder mit der Stadt – es lebe die Revolution!

  • Interessante Spielwelt
  • Originelle Charakterklassen und Talente
  • Simple Regeln mit Fokus auf Narration
 

  • Häufiges Aufgreifen von Klischees
  • Mängel im Lektorat
  • Unübersichtliches Regelwerk

 

Artikelbilder: © Grant Howitt and Christopher Taylor (Rowan, Rook and Decard)
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Alexa Kasparek
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

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