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Seit über zehn Jahren ist Christopher Tolkien darum bemüht, die drei großen Geschichten des ersten Zeitalters von Mittelerde als alleinstehende Bücher herauszugeben. Mit Der Fall von Gondolin findet die ungewöhnliche Reihe nun ihren Abschluss. Dabei verbirgt sich hinter der fragmentarischen Heldensaga eine Geschichte über das Schreiben selbst.

Der Erfolg von Peter Jacksons Filmtrilogie vor – ist es denn die Möglichkeit? – 17 Jahren machte J.R.R. Tolkien zu so etwas wie dem literarischen Wiedergänger der Phantastik. Auch zuvor schon als Gründungsfigur der modernen Fantasy verehrt, wurde der Universitätsprofessor aus Oxford in Zeiten organisierter Fankultur vor allem eins: vermarktbar. Die Folge ist eine Flut von Neuauflagen, Sonderdrucken, Prachtausgaben und Hintergrundwerken zur Mythologie von Mittelerde, bei denen man schnell den Überblick verlieren kann. In dem Versuch, auch den letzten Euro aus der Filmeuphorie herauszupressen, die sich mit der Hobbit-Trilogie erneuerte, wurden Auszüge aus Tolkiens weniger bekannten Werken einzeln als Taschenbücher gedruckt und unter Titeln wie Feanors Fluch auf den Markt geschleudert, ohne in irgendeiner Weise Neues zu enthalten. Wenn vom „neuen Tolkien“ die Rede ist, bin ich also immer etwas skeptisch.

Hinzu kommt, dass sich die Tolkienleserschaft aus vielfältigen Interessensgruppen zusammensetzt, sodass man sich bei jeder Neuerscheinung die Frage stellen muss, wer eigentlich gerade angesprochen wird. Wer den Herrn der Ringe verschlungen hat, begeistert sich nicht zwingend für das mythendurchzogene Silmarillion; wer den Hobbit liebt, muss deswegen noch lange keinen Historischen Atlas von Mittelerde besitzen. Hobbyphilologen, die vielleicht ihre Freude an Textarbeit zum ersten Mal entdeckten, als sie Nachrichten aus Mittelerde mit dem Buch der verschollenen Geschichten abglichen, gehören genauso zum Publikum wie jene, die einfach nur für ein paar gemütliche Leseabende wieder in die vertraute Welt von Mittelerde eintauchen wollen. Wie Teilzeitheld Leander bereits im letzten Jahr festgehalten hat, gehört die Trias der drei großen Geschichten des ersten Zeitalters zu den Ausgaben für Literaturwissenschaftler, Tolkiensammler und Mittelerdehistoriker.

Einblick in die kreativen Prozesse

Genau dieses vermeintliche Manko macht Die Kinder Húrins (2007), Beren und Lúthien (2017) und das nun erschienene Der Fall von Gondolin aber erst authentisch. Sie sind kein Versuch, es allen recht zu machen, sondern gewähren einen faszinierenden Einblick in die kreativen Prozesse hinter dem großen Weltenentwurf. Dahinter steht eine Person, der die Fans viel zu verdanken haben: Tolkiens jüngster Sohn Christopher, der mit den Mythen seines Vaters aufwuchs, widmete sein Leben nach dessen Tod der Nachlassverwaltung. Dem öffentlichkeitsscheuen Mediävisten machte es nichts aus, im Schatten seines Vaters zu stehen, und so entstanden seit 1977 zahlreiche Publikationen, in denen die oft handschriftlichen Fragmente J.R.R. Tolkiens teils stark überarbeitet wiedergegeben wurden. Mit dem Hype um die Bücher und deren popkulturellen Einfluss kann er wenig anfangen.

Der französischen Tagezeitung Le Monde sagt er 2012 in einem seltenen Interview: „Tolkien ist ein Monster geworden, verschlungen von seiner Popularität und absorbiert durch die Absurdität der heutigen Zeit.“ Mit diesem Ungeheuer, so scheint es, will Der Fall von Gondolin nicht zu tun haben. Er erzählt eine ganz andere Geschichte.

Story

Beleriand nach der Nirnaeth Arnoediad, der Schlacht der ungezählten Tränen: Fingon, der hohe König der Noldor, fiel im Kampf, ebenso die Oberhäupter des ältesten Hauses der Menschen. Das Bündnis von Menschen und Elben wurde zerschmettert, der dunkle Gott Morgoth hat seinen größten Sieg errungen. In dieser Zeit wächst Tuor heran, ein einsamer Wanderer, dem bestimmt ist, die Hoffnung zurück nach Mittelerde zu bringen. Als ihm der Meergott Ulmo erscheint, macht sich der Sterbliche auf die Suche nach Gondolin, der verborgenen Stadt, in der der letzte Elbenkönig herrscht. Diesem soll er eine Warnung überbringen: Wenn Gondolin sich nicht offen gegen Morgoth stellt, wird die Stadt sicher fallen…

Die groben Züge der Geschichte dürften jedem bekannt sein, der das Silmarillion oder Nachrichten aus Mittelerde gelesen hat. Tuor erreicht sein Ziel, doch König Turgon schenkt ihm keinen Glauben. Wie alle verborgenen Reiche der Noldor fällt Gondolin durch Verrat von innen. Doch zuvor heiratet Tuor Turgons Tochter Idril Celebrindal und Eärendil wird geboren, der allen Herr der Ringe-Lesern ein Begriff sein sollte. So kehrt die Hoffnung in der Tat durch Tuor zurück, jedoch anders als von den Figuren erwartet.

Verschiedene und vertiefende Erzählperspektiven

Der Fall von Gondolin erzählt diese Sage jedoch nicht einmal, sondern gleich sechsmal, in jeder verfügbaren Form, in der sie im Nachlass vorliegt. Die Varianz unter den verschiedenen Versionen ist erstaunlich, sodass für jeden Geschmack zumindest eine dabei ist. Die 85 Seiten starke ursprüngliche Geschichte aus dem Buch der verschollenen Geschichten berichtet detailliert vom Kampf um Gondolin, dem Verlauf der Schlacht und den daran beteiligten hohen Häusern der Elben.

Daran ist nicht nur interessant, dass die großen Taten, die im Silmarillion nur angedeutet blieben, endlich eine klare Gestalt annehmen. Man ahnt nämlich auch, weshalb diese Fassung sich trotz ihres Actionreichtums nicht gehalten hat und es Tolkien offenbar schwerfiel, das Kampfgeschehen zu überarbeiten: zu ähnlich sind sich die beiden siebentorigen Städte Gondolin und Minas Tirith, zu deutlich die Parallelen. Dass das Königreich Gondor sich kulturell an das verborgene Reich der Elben anlehnt, ist soweit nicht verwunderlich, immerhin geht das Geschlecht Elendils über viele Generationen hinweg auf Tuor selbst zurück. Zugleich wird aber klar, dass das, was in der Geschichte Mittelerdes als historische Tradition waltet, die Art etwa, in der sich Figuren und Orte im Herrn der Ringe auf das erste Zeitalter beziehen, zugleich eine historische Abfolge im Schaffen Tolkiens widerspiegelt. Gondor spiegelt Gondolin, weil Gondolin in der Tat zuerst da war, sowohl in der fiktionalen Geschichte als auch im kreativen Entwurf des Autors.

Ganz anders liest sich die dreiundsechzigseitige letzte Fassung, ein verwunschener Reisebericht über Tuors Streifzüge durch die Länder Beleriands, der atmosphärisch stärker an den Herrn der Ringe erinnert, dessen Handlung aber hinter malerischen Momenten zurücktritt. Hier hat die Welt sich voll realisiert und ist nicht mehr bloß reine Kulisse für große Abenteuer, man merkt deutlich, wie sich in diesem letzten Anlauf die Erzählung vom Epischen ins Prosaische verschiebt. Jedoch bleibt auch er skizzenhaft, gerade weil die Details so viel Platz brauchen.

Entstehungsgeschichte oder Entstehung der Geschichte

Vom Herausgeber kommentiert und historisch kontextualisiert, erzählt das Buch allerdings noch eine siebte Geschichte. Es ist die Geschichte eines Schriftstellers, der sein Leben lang eine bestimmte Erzählung mit sich herumträgt, die wächst und wieder schrumpft, sich immer wieder wandelt und schließlich – unvollendet – zu dem Text wird, den man kennt. Gerade in einer Zeit, in der Autoren und Autorinnen unter großem zeitlichem Druck arbeiten, in der rasch heruntergeschriebene Erstentwürfe publiziert werden und Leser murren, wenn eine Fortsetzung länger als ein Jahr auf sich warten lässt, ist dies eine Geschichte, die eigentlich zu selten erzählt wird. Gerade Tolkien, dem Großmeister seines Genres, dabei zuzusehen, wie er an einem Text, den er immer wieder in Angriff nimmt, Mal für Mal scheitert, ihn umarbeitet, ändert, seine Aspekte in andere Texte einfließen lässt, ist eine über die Maße bereichernde Leseerfahrung.

Schreibstil

Wie oben beschrieben ist das Buch eine kommentierte Fragmentsammlung und kein durchgängiger Roman. Dabei ist der Stil der einzelnen Fragmente nicht angeglichen worden, sodass die Erzählweise gelegentlich zwischen Präteritum und Präsens schwankt. So werden die Momente gekennzeichnet, die mythisch und historisch besonders relevant sind. Die Sprache ist für Tolkien-Verhältnisse geradezu ungewöhnlich zugänglich, was vermutlich der Übersetzung durch Helmut W. Pesch zu verdanken ist. Das einleitende Gedicht über die Flucht der Noldor, mit dem Christopher Tolkien die Ausgangslage der vorliegenden Geschichte erzählt, ist vernünftigerweise zweisprachig abgedruckt. Christopher Tolkiens Kommentare meiden das Anekdotische und dienen wirklich nur der Einordnung, sind aber bei aller Sachorientiertheit höchstens populärwissenschaftlich.

Sprachliche Vielfalt und historische Einordnung

Stilistisch gewinnt Der Fall von Gondolin ebenfalls am meisten, indem es Unterschiede zwischen den Versionen sichtbar macht. Einige waren ganz offensichtlich nie dazu gedacht, überarbeitet und veröffentlicht zu werden, sondern sind grobe Skizzen des Gesamtgeschehens, an denen sich der Autor selbst orientieren wollte. Andere lassen ahnen, wie ein Roman, der daraus entstanden wäre, sich hätte lesen können. Erneut merkt man, dass auch jemand, der von vielen als literarisches Genie gehandelt wird, nicht einfach aus dem Nichts perfekte Texte in die Welt setzt.

Doch auch in anderer Hinsicht ist man unwillkürlich dankbar, dass sich dagegen entschieden wurde, die Fragmente nachträglich zu einem einzigen Roman zusammenzuschreiben: Sie sind zum Teil über siebzig Jahre alt und durchsetzt mit Motiven, die Produkt ihrer Zeit sind und in der Phantastik der Gegenwart arg überkommen wirkten. Das Böse sitzt im Osten, das edelste Menschengeschlecht erkennt man an seinem goldenen Haar, und dreimal darf geraten werden, welche Hautfarbe der böse Verräter hat, der natürlich welches Ziel hat? Genau, edle hellhaarige Frauen zu rauben. Christopher Tolkien geht auf diese Tatsachen nicht ein, doch seine Kommentare erinnern permanent daran, dass es sich hier um historische Fragmente handelt, die auch genau das bleiben sollen.

Der Autor

J.R.R. Tolkien muss in einem Phantastikmagazin eigentlich nicht vorgestellt werden. Der Philologe wurde 1892 in Bloemfontein, Südafrika, geboren, wuchs aber in England auf. Bereits als Kind erfand er Geschichten und sogar eigene Sprachen. Die von ihm erdachte Welt von Mittelerde prägte die Phantastik in einzigartiger Weise. Tolkien starb 1973 in Bournemouth. Wer sich für das Leben des Oxfordprofessors interessiert, dem sei zum Einstieg die Biographie von Humphrey Carpenter und zur Weiterführung insbesondere John Garths Monographie Tolkien und der erste Weltkrieg ans Herz gelegt.

Erscheinungsbild

Das Erscheinungsbild ist wie bei den beiden Vorgängerveröffentlichungen spektakulär und macht das Buch vom reinen Liebhaberstück für absolute Tolkiennerds zum Schmuckstück für jedes Bücherregal. Es enthält acht hochwertige Aquarelle und zahlreiche Illustrationen von Alan Lee, einem der bekanntesten Tolkienkünstler der Welt. Seit den 80er Jahren ist der britische Designer, der auch bei der Verfilmung des Herrn der Ringe mitwirkte, auf Tolkienmotive spezialisiert. Der goldgeprägte Schutzumschlag zeigt Tuors Ankunft im verborgenen Tal von Gondolin.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Klett-Cotta
  • Autor: J.R.R. Tolkien (herausgegeben von Christopher Tolkien)
  • Erscheinungsdatum: 30. August 2018
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Englischen übersetzt von Helmut W. Pesch)
  • Format: gebunden
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN: 978-3-6089-6378-6
  • Preis: 22,00 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

Bonus/Downloadcontent

  • Der umfangreiche Anhang enthält ein Namensverzeichnis, einige nachträgliche Anmerkungen zu Tolkiens Mythologie und zwei Stammbäume.
  • Dem Buch liegt eine entnehmbare Karte von Beleriand bei.

Fazit

Die drei großen Geschichten des ersten Zeitalters sind ein letztes Aufbegehren gegen die Kommerzialisierung und damit Profanisierung eines der größten Autoren des 20. Jahrhunderts. Statt die Fragmente seines Vaters massentauglich zu vollendeten Romanen umzuarbeiten, nimmt Christopher Tolkien uns mit in die Schreibwerkstatt seines Vaters und stellt uns die verschiedenen Stadien vor, die die Geschichten durchlaufen haben. Der Fall von Gondolin ist für dieses Vorgehen besonders geeignet, denn es enthält im Gegensatz zum Vorgänger Beren und Lúthien kaum lyrische Entwürfe und während die Handlung ähnlich bleibt, weichen Erzählweise und Fokus stark voneinander ab. So enthält dieses Buch nicht nur die Geschichte von Gondolin, sondern zwischen den Zeilen zudem eine Geschichte über das Schreiben als Handwerk.

Besuch in der Schreibwerkstatt

Fragmentarisch und historisch kommentiert ist vielleicht der einzige Weg, auf dem man heute noch einen „neuen“ Tolkien veröffentlichen kann, doch das ist weiß Gott kein Grund zur Klage. Vielmehr ist es erstaunlich, dass sich ein Verlag traut, seinen Lesern eine populärwissenschaftliche kritische Edition anzubieten, deren Unterhaltungswert nicht durch den spannenden Plot oder die einfühlsame Figurenzeichnung zustande kommt, sondern durch aktives Mitarbeiten, durch Nachvollziehen und Vergleichen verschiedener Geschichten.

Sicher, diese ungewöhnliche Textsorte verlangt einem etwas mehr ab, als man es von Unterhaltungsliteratur gewohnt ist, aber wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt. Nicht nur Tolkien-Fans und Philologen, sondern Literaturliebhaber aller Art, vor allem aber Schriftsteller und solche, die es vielleicht noch werden wollen, werden den Einblick in die kreativen Prozesse sicher zu schätzen wissen. Man kann vom Meister eben doch noch einiges lernen.

 

Artikelbild: © Klett-Cotta, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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