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Reißerisch schreibt der Spiegel: „Der neue Tolkien ist da!“ Doch der Autor von Der Herr der Ringe und Der Hobbit ist bereits einige Jahre tot. Den Leser erwartet also eine bekannte Geschichte in neuem, bezauberndem Gewand. Dennoch ist das Lesevergnügen getrübt, denn dieses Buch ist nicht nur eine Erzählung.

J. R. R. Tolkien ist eine Autorenlegende. Man darf ihn zu Recht als den Begründer der modernen Fantasy-Literatur betrachten. Mit Der Herr der Ringe und Der Hobbit fesselte er Millionen von Lesern. Er erschuf eine einzigartige Welt, samt vollständiger Mythologie und eigener Sprachen. Die Saga von Mittelerde war seine Antwort auf die nordische Mythologie und sollte den Briten einen eigenen Mythos schenken. Tolkien ist mehr als Belletristik. Seine Werke werden wissenschaftlich untersucht, sowohl in der Sprach- als auch in der Literatur- und der Kulturwissenschaft.

Sein Sohn Christopher versteht sich als der Verwalter von Tolkiens Erbe. Wie ein eiserner Wächter wacht er über den literarischen Schatz, den sein Vater hinterlassen hat. Wie ein Weiser von Mittelerde vergräbt er sich in den Schriften, untersucht sie genauestens nach Edition und zeitlicher Abfolge und versucht so ein Gesamtbild zu schaffen, das des Werkes seines Vaters würdig ist. Aus dieser Intention heraus entstand nun auch der „neue“ Tolkien, Beren und Luthien.

Story

Die Geschichte selbst ist schnell erzählt und dennoch gehört sie zu den tragischsten Liebesgeschichten, die Mittelerde zu bieten hat. Beren ist ein Sterblicher, der eines Nachts Tinúviel, eine Elbenprinzessin, beim Tanzen beobachtet. Er verfällt sofort dem magischen Glanz, der von Tinúviel auszugehen scheint und tatsächlich gelingt es ihm, ihre Gunst zu erringen. Doch der Vater der Braut, der Elbenkönig, ist gegen diese unwürdige Verbindung und wie es sich für eine ordentliche Sage gehört, beauftragt er Beren mit einer scheinbar unlösbaren Queste.

Mit eigener Hand soll er einen Silmaril aus der Krone des dunklen Herrschers Melkor herauslösen und dem König bringen. Tatsächlich gelingt Beren das Unglaubliche, doch als er das Kleinod in der Hand hält, reißt ihm ein Wolf dieselbe ab. Ohne Silmaril kehrt er zwar zum König zurück, doch die Aufgabe, den Stein aus der Krone zu lösen, ist gemeistert. Und so erhält Beren die Hand von Luthien Tinúviel. Doch die Elbin ist unsterblich. Um ihrem Liebsten nah zu sein, opfert sie ihr unsterbliches Leben. Dies ist die wunderschöne Geschichte, die das Schicksal Arwens in Der Herr der Ringe vorwegnimmt.  

Schreibstil

Beim Schreibstil setzt das große Problem des Buches ein, denn J. R.R. Tolkien hat die Geschichte von Beren und Luthien in unzähligen Fassungen, die sich zudem alle in Details zu widersprechen scheinen, erzählt: mal als Prosa, mal als Lyrik, mal nur als schnelle Notizen in seiner unvergleichlichen Sammlung handschriftlicher Zettel. Christopher Tolkien bleibt nun nichts anderes übrig, als all diese Fassungen, die teils auch noch sehr fragmentarisch sind, aufzuarbeiten, zu kommentieren und dem Leser zu präsentieren. Dabei beschreibt er sehr ausführlich die Entwicklungsstufen und -prozesse, die die Sage bis zu dem jeweiligen Zeitpunkt durchlaufen hat. Statt einer durchgängigen und stimmigen Erzählung, erwartet den Leser also eine akribische Editionsgeschichte, teils sperrige Texte und insbesondere Gedichte, bei denen sich die Übersetzer nach Kräften bemüht haben, Versmaß, Reimschema und Rhythmus beizubehalten.

Lyrikübersetzungen sind unglaublich schwierig, und für das, was sich die Übersetzer vorgenommen haben, ist das Ganze auch recht gut gelungen. Auch wenn die Übersetzung einem Vergleich mit Tolkiens Originaltexten keinesfalls standhalten kann. Hier liegt das zweite Problem des Buches: Wenn man den ungeschliffenen und unmittelbaren Geist der Textentwicklung dieser großartigen Sage erspüren möchte, kann man das mit einer Übersetzung nur sehr schwer tun und es empfiehlt sich, so es eben möglich ist, der Griff zum Original. Ansonsten ist der Prozess etwas ad absurdum geführt.

Der Autor

In diesem Buch ist es schlichtweg nahezu unmöglich von Tolkien als „dem Autor“ zu sprechen. Viele der Textfragmente waren nie zur Veröffentlichung bestimmt. Hinzu kommt die editorische Arbeit und die vielen Texte, die Christopher Tolkien, dessen Lebenswerk sich ganz auf das Editieren und Kommentieren der Werke seines Vaters zu beschränken scheint, hier beigetragen hat.

Und gerade weil Lyrik-Übersetzungen nahezu unmöglich sind, ist auch der Verdienst von Hans-Ulrich Möhring und Wolfgang Pesch hervorzuheben, die eine mühselige und anstrengende Arbeit auf sich genommen haben. Tolkien selbst ist für seine unsterblichen Schriften Der Herr der Ringe, Der Hobbit und Das Silmarilion weltberühmt und aus der modernen Fantasy nicht wegzudenken.

Erscheinungsbild

Die Gestaltung des Bandes ist liebevoll. Der Umschlag ist vom Layout perfekt in die aktuelle Ausgabe der verschiedenen Tolkien-Titel eingefasst, mit seinen zarten, elbisch anmutenden Goldprägungen. Ein silbernes Lesebändchen macht die Orientierung im Buch leicht. Doch was diese Ausgabe tatsächlich bezaubernd macht, sind die zarten und stimmungsvollen Illustrationen von Alan Lee, einem erfahrenen Tolkien-Künstler, der auch an der Verfilmung des Herrn der Ringe beteiligt war und viele elbische Designs beigesteuert hat.

Mit den Illustrationen erhält das Buch etwas Andersweltliches, es wird gleichsam selbst zu einem Kleinod. Schade, dass die deutsche Übersetzung im Format deutlich kleiner ist, als die englische Originalausgabe. Das raubt den Bildern ein ganz kleines Stück ihrer Wirkung. Dafür ist die Papierqualität der deutschen Ausgabe wertiger.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Hobbit Presse / Klett-Cotta
  • Autor(en): J. R. R. Tolkien, Christopher Tolkien (Herausgeber)
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Gebunden
  • Seitenanzahl: 305
  • ISBN:978-3-608-96165-2
  • Preis: 22,00 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Fazit

Beren und Luthien ist ein sehr schwieriges Buch, denn es täuscht vor etwas zu sein, was es eigentlich nicht ist. Der Leser erhofft sich eine in sich geschlossene Geschichte und zwar nicht mehr und nicht weniger, als die schönste Liebesgeschichte Mittelerdes. Stattdessen erwarten ihn Textfragmente, Gedichte, Lieder und sich zum Teil deutlich widersprechende Textfassungen, eingerahmt in die sicher spannenden, manchmal aber eigentümlich ratlos erscheinenden Kommentare von Tolkiens Schatzmeister, seinem Sohn. Literaturwissenschaftlich ist das Buch sehr interessant und optisch ist es, mit den feinen Illustrationen von Alan Lee, ein absolutes Meisterwerk. Doch leider ist es im klassischen Sinne kein belletristisches Werk.

Es ist Wissenschaft, es ist Editionsgeschichte und es ist ein meisterhaftes Beispiel für die Schwierigkeiten der Lyrikübersetzung. Dem Literaturwissenschaftler, dem Tolkiensammler und dem Mittelerde-Historiker steht dieses Werk sicher gut zu Gesicht, jedoch ist von diesen fast zu erwarten, dass sie zur englischen Originalfassung greifen werden. So bleibt die Frage, wer diesen Titel nun in sein Regal stellen sollte. Die Antwort ist klar: der Reisende zwischen den Welten, der sich an schönen Dingen erfreuen kann, der sich die kindliche Neugier am Stöbern und Staunen bewahrt hat, der schönen Worten und einfühlsamen Illustrationen etwas abgewinnen kann.

Artikelbilder: Klett-Cotta
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

2 Kommentare

    • Ich habe sie nicht als unmöglich, sondern als nahezu unmöglich bezeichnet. Und jede Übersetzung von Lyrik ist imho Interpretation.

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