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Leider noch nicht auf Deutsch erschienen, ist Fonda Lees Green-Bone-Trilogie ein herausragendes Beispiel für neue ostasiatisch inspirierte Phantastik. Die packende Familiensaga mit liebevoller Figurenzeichnung über einen Kung-Fu-Clan mit magischen Kräften, der sein traditionsbelastetes Selbstverständnis in die moderne Welt retten muss, hält uns allen den Spiegel vor.

Wenn ein renommierter Phantastikroman es trotz internationalen Erfolgs nicht auf den deutschen Buchmarkt schafft, gibt es für gewöhnlich Faktoren, mit denen ich mir diese Leerstelle erklären kann: zu experimentell, zu politisch, zu kulturspezifisch oder ganz allgemein nicht geeignet für die kaufkräftige weiße und männliche Leserschaft. Dass wir hierzulande einfach nicht bereit waren für Charlie Jane Anders’ gewitzte Coming-of-Age-Science-Fiction oder Annalee Newitz’ feministischen Cyberpunk, muss man wohl vorerst hinnehmen. Dass aber nach wie vor niemand ankündigt, Fonda Lees großartige Green Bone-Saga ins Programm zu nehmen, gibt mir Rätsel auf. Wie kann es sein, dass eine an Coolness kaum zu überbietende Kung-Fu-Gangsterfantasy, die zugleich ein episches Familiendrama über mehrere Generationen ist, bei uns nicht auf Interesse stößt?

Asiatische Phantastik jenseits der Klischees

Ein möglicher Grund könnte sein, dass Jade City, der 2018 mit dem World Fantasy Award ausgezeichnete erste Teil der Reihe nicht in die eher starren Kategorien für asiatische oder asiatisch-amerikanische Phantastik passt, die bei uns momentan bedient werden: Auf der einen Seite steht der kleine Boom chinesischer Phantastik, die dank Cixin Lius Die drei Sonnen besonders an Fans sogenannter harter Science-Fiction vermarktet werden kann. Auf der anderen Seite wirken etwa die Cover und Einzeltitel von R. F. Kuangs Im Zeichen der Mohnblume auf Deutsch wie eine Mischung aus Trudi Canavan und Lian Hearn: an Frauen und junge Erwachsene vermarktete Fantasy mit asiatisch angehauchtem Setting in Weißer Erzähltradition – was nebenbei bemerkt schade ist, denn Kuangs Epos über die Logik von Gewalt und Gegengewalt hat mit diesen Vorbildern wenig zu tun.

Jade City - Fonda Lee © Orbit
Jade City – Fonda Lee © Orbit

Hingegen erinnern im englischsprachigen Bereich immer mehr Stimmen daran, dass es so etwas wie typisch asiatische Phantastik nicht gibt und der Kreativität asiatischer und asiatisch-amerikanischer Autor*innen keine Grenzen gesetzt sind, wenn sie in ihren Büchern kulturelle Einflüsse und individuelle Erfahrungen heranziehen. Von Yoon Ha Lees koreanisch inspirierter Science-Fiction (Machineries of Empire, 2016-2018) über Zen Chos Auseinandersetzung mit ihren malaiischen Wurzeln (Black Water Sister, 2021) bis hin zu Xiran Jay Zhaos und Shelly Parker-Chans je völlig unterschiedlicher Bearbeitung chinesischer Geschichte (Iron Widow und She Who Became the Sun, beide 2021) lässt sich asiatische Phantastik nicht als Monolith fassen, sondern deckt die Gesamtheit des Genres mit all seinen Möglichkeiten ab. Einen besonderen Höhepunkt stellt in der Hinsicht Ryka Aokis Light From Uncommon Stars mit seiner Liebeserklärung an die asiatisch-amerikanische Community im kulturellen „Melting Pot“ Los Angeles dar.

Auch Fonda Lee ist Teil dieser Entwicklung. Die kanadische Autorin mischt völlig unverkrampft westliche und ostasiatische Einflüsse und kreiert eine Welt, die in ihrer Eigenständigkeit alle naiven Vorstellungen von asiatischer Phantastik sprengt. Weder verkopft-kühle Weltraumprosa noch verträumt-kirschblütige Samuraischmonzette, sondern eine moderne mafiaeske Familiensaga mit Magie und Kampfkunst  ist die Green Bone-Trilogie ein echtes Erlebnis, das seinesgleichen sucht.

Kung-Fu trifft Der Pate

Green Bone spielt im fiktionalen Inselstaat Kekon, dessen Clans sich vor einer Generation zusammentaten, um erfolgreich die Besatzung durch Invasoren zu verhindern. Die dauerhafte Eigenständigkeit verdankt Kekon seinen einzigartigen Bodenschätzen. Die magische grüne Jade, die hier gefunden werden kann, verleiht ihren Träger*innen übermenschliche Fähigkeiten und stärkt ihre Sinne, kann jedoch nur von Einheimischen gefahrlos eingesetzt werden. Diese bauen von Kindesbeinen an eine natürliche Jadetoleranz auf, was sie zu sogenannten Green Bones macht. Nun steht die aufstrebende Nation an der Schwelle zu einer neuen Zeit: Der internationale Handel floriert, der technische Fortschritt verspricht Wohlstand und die gewaltvolle Vergangenheit könnte längst ruhen – wäre nicht die Hauptstadt Janloon Schauplatz eines erbitterten Kriegs zwischen den beiden größten Clans.

Die Trilogie verfolgt das Schicksal der Kaul-Familie, die an der Spitze des No-Peak-Clans mal auf gewaltsamem, mal auf politischem Wege versucht, die Oberhand über den gegnerischen Mountain-Clan zu gewinnen. Clanmitglieder verfügen meist über besonders ausgeprägte Jadetoleranz und liefern sich dramatische Kung-Fu-Duelle, in denen Lees Liebe zum Kampfsport (die 43-jährige hat selbst den schwarzen Gürtel) durchscheint. Doch wie jede gute Mafiasaga lebt auch Jade City vor allem von der spannungsreichen Figurenkonstellation. Drei Kinder hinterlässt der alternde Patriarch Kaul Sen, und drei Führungspositionen gilt es zu besetzen. Doch das innere Gleichgewicht der Familie ist von Anfang an gestört, denn die einzige Tochter Kaul Shae studiert im Ausland und möchte mit den rigiden Strukturen und Traditionen des Clans nichts zu schaffen haben. Deshalb schlägt sie die Position als Beraterin und rechte Hand ihres ältesten Bruders aus – eine Entscheidung, deren schwerwiegende Folgen einem erst im Laufe der Lektüre langsam dämmern. Einmal aus den Fugen geraten, lässt sich die Balance zwischen den Geschwistern nie wiederherstellen.

So liegt die unausgesprochene Tragik einer dysfunktionalen Familie, in der niemand so ganz die Rolle bekleidet, die ihm oder ihr eigentlich entsprechen würde, über der gesamten weiteren Handlung. Ob Kaul Lan, der um seine Autorität als Clananführer fürchten muss, weil seine Frau ihn verlassen hat, Kaul Hilo, der eine Frau ohne Jadefähigkeiten liebt, oder Cousin Emery Anden, der mit seiner magischen Begabung zum perfekten Killer heranwachsen könnte, alle Figuren ringen mit überzogenen Erwartungen und fühlen sich nicht bereit, die Nachfolge ihrer überlebensgroßen Elterngeneration anzutreten. Dass man die Kaul-Familie nicht nur im Kampf gegen ihre Rivalen – der sich im Übrigen als genauso actiongeladen und unterhaltsam gestaltet, wie man es von der Prämisse Kampfkunst trifft Der Pate erwarten kann –, sondern auch durch ihr sonstiges Leben zwischen schwelenden Familienkonflikten und persönlichem Wachstum begleitet, haucht der Geschichte Leben ein. Werden die Kauls dem Zahn der Zeit trotzen, oder sind sie im Niedergang begriffen, wie eine Art magiebegabter Kung-Fu-Buddenbrooks?

Verlockende Traditionen

Lees Figurenzeichnung ist exzellent, was in Anbetracht des Umfangs ihrer Trilogie auch nötig ist. Über 1500 Seiten verbringt man mit den Kauls, lebt und leidet mit ihnen, wohnt ihren größten Triumphen und bittersten Verlusten bei. Die Handlung bleibt in ihren mutigen Wendungen unberechenbar und lässt jenes beklemmende Gefühl von Kontingenz aufkommen, das Game of Thrones so populär gemacht hat. Einen beschleicht bald das Gefühl, jede Figur könnte jeden Augenblick durch eine unglückliche Verkettung von Ereignissen ums Leben kommen, und die Geschichte würde einfach ohne sie weitergehen. Als eine der mächtigsten Familien des Landes genießen die Kauls natürlich eine gewisse Sicherheit, sind jedoch zugleich exponierte Ziele für Anschläge und Duelle, die ihre Position gleich weniger glamourös wirken lässt.

Jade War - Fonda Lee © Orbit
Jade War – Fonda Lee © Orbit

Dies wird besonders relevant, sobald die Kaul-Familie im zweiten Band, Jade War, zu expandieren beginnt und versucht, auch jenseits von Kekon Fuß zu fassen. Hatte man gerade erst einen Überblick über die Regeln der Welt gewonnen, wird einem nun gemeinsam mit den Figuren erneut der Boden unter den Füßen weggezogen, wenn sie sich plötzlich international behaupten müssen. Fragen nach dem Verhältnis zwischen Tradition und Fortschritt, Abschottung und Öffnung, die zuvor auf Familienebene verhandelt wurden, kommen nun auf Landesebene erneut auf. Die Haltung der Kauls mag in Janloon als fortschrittlich gelten, doch der Rest der Welt sieht sie weiterhin als Bewohner einer konservativen und politisch unbedeutenden Insel, sodass sie größere Risiken eingehen und gezwungenermaßen mit Grundsätzen ihrer Kultur brechen.

Insbesondere die Tradition der Jadekrieger*innen wird im Laufe der Geschichte immer stärker problematisiert. Während die beiden Clans sich für ihre Fehde rechtsfreie Räume schaffen, bewegt sich die Welt weiter. Duelle, Tribute und ein patriarchales Familiendenken wirken zunehmend antiquiert. Hier gelingt Lee ein ganz besonderer Kunstgriff, indem sie uns die Fehler dieser guten alten Zeit, als Janloon noch ganz den Clans gehörte, vor Augen führt, wir jedoch nicht umhinkommen, uns ein wenig dorthin zurückzusehnen. Natürlich sehen wir, dass die Selbstjustiz unserer Held*innen, die sich mitunter eher wie Antiheld*innen gebaren, falsch ist, aber ein Zweikampf vor Zeugen oder ein minutiös geplanter Racheplot sind nun einmal viel interessanter zu lesen. So finden wir uns als Phantastikfans heimlich immer eher auf Seiten der Tradition.

Ironischerweise verkörpert niemand den toxischen Mythos der Green Bones so sehr wie die Figur des Kleinkriminellen Bero, ein untalentierter Opportunist aus dem Bodensatz der Gesellschaft, dessen elendes Leben von der Sehnsucht nach Jade und einem tiefen Hass auf die Kaul-Familie bestimmt wird, ohne dass diese überhaupt von ihm Notiz nimmt. Er ist vielleicht die tragischste, mit Sicherheit aber die interessanteste Figur des Epos, ein von Riesen geworfener Schatten, der weiter lauert, nachdem die Riesen längst weitergezogen sind.

Das Ende der Endgegner

Dass Lee die Trilogie letztes Jahr mit Jade Legacy zu einem durch und durch befriedigenden Abschluss bringen konnte, grenzt an ein Wunder und sollte ihr einen Platz unter den großen Namen der zeitgenössischen Phantastik sichern. Das Buch umspannt Jahrzehnte und findet für jede Figur ein perfektes, wenn auch nicht immer glückliches Ende. Die Veränderungen in Janloon gehen so langsam vonstatten, dass man ihrer kaum gewahr ist, doch irgendwann kommt der Punkt, an dem man sich bei dem Gedanken ertappt, dass sich ein Sieg über den Mountain Clan gar nicht so triumphal anfühlen würde, wie man es vor 1000 Seiten noch gedacht hätte. Konflikte, die früher den Mittelpunkt der Geschichte ausmachten, haben plötzlich gar kein Gewicht mehr und werden von anderen Aufgaben verdrängt.

Der Lauf der Zeit lässt sich nicht aufhalten und auch für die Kaul-Familie steht sie nicht still. Irgendwann muss man sich gemeinsam mit den Figuren eingestehen, dass der Zufall – oder das Schicksal – inzwischen so oft seinen Tribut gefordert hat, dass man die vielen Veränderungen, die Abweichungen vom ursprünglichen Status quo, überhaupt nicht mehr richtig zurückverfolgen kann. Es gehört ein besonderes Talent dazu, in einer Geschichte, deren Dramatik auf Kontingenz und sinnlosen Toden aufbaut, den Bogen zurückzuschlagen, damit einzelne Figuren dann doch einen tieferen Sinn erleben dürfen. Fonda Lee gelingt diese existenzialistische Meisterleistung, indem sie die Figuren selbst lernen lässt, diesen Sinn zu erzeugen. Was bleibt, ist das rundeste Ende der jüngeren Phantastikgeschichte, der melancholische Abschied von einem ungewöhnlichen Epos, das weder mit Action noch mit Emotionen geizt.

Es steckt viel Weisheit in dieser sanften Darstellung von Veränderung. Man gewinnt nicht, indem man den großen Endgegner besiegt, sondern indem man ihn vergisst, indem man die eigenen Rollen nicht annimmt, sondern transformiert und langsam aber sicher in eine neue Geschichte überführt, die keinen Endgegner hat. Das ist es, was Fonda Lee und so viele andere Autor*innen gerade in Bezug auf jene Rollen tun, die die Phantastikszene ihnen ursprünglich zugedacht hatte. Was Green Bone, aber auch die anderen Beispiele neuer asiatischer Phantastik, auszeichnet, ist eine bemerkenswerte Freiheit in der Wahl von Themen und Einflüssen, die die gesamte westliche und östliche Erzähltradition von Gangsterfilmen bis Kung-Fu-Epen zu einer kreativen Spielwiese macht, auf der ihnen erstmals alles erlaubt ist. Wir können uns glücklich schätzen, das zu erleben.

Die harten Fakten:

  • Titel: Jade City
  • Verlag: Orbit
  • Autor: Fonda Lee
  • Erscheinungsdatum: 07. November 2017
  • Sprache: Englisch
  • Format: gebunden
  • Seitenanzahl: 512
  • ISBN: 978-0-3164-4086-8
  • Preis: 25,00 EUR
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon, idealo

 

Titelbild: © Orbit; depositphotos © gamjai
Artikelbilder : © Orbit

Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Maximilian Düngen

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