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Lange bevor Geralt von Riva über den Kontinent zog, ja sogar vor den unbekannten Abenteuern seines Mentors Vesemir, gab es Erland von Larvik, einen Hexer der ersten Stunde. Seine Notizen bilden die Basis für die zweite Erweiterung zum Witcher-Rollenspiel. Wenig überraschend enthalten diese viele Beschreibungen von Monstern.

Bereits 2018 erschien das Grundregelwerk zum Hexer-Rollenspiel oder auch The Witcher – TRPG im Hause R. Talsorian Games und bot einen soliden Einstieg zum Rollenspiel auf dem namenlosen Kontinent. Die gesellschaftlichen Probleme, die politischen Intrigen und die generelle Düsternis des Settings wurden treffend eingefangen. Dazu spielten sich die Kämpfe dank des W10er-Interlock-Systems (Cyberpunk Red) außerordentlich tödlich. Die erste Erweiterung Lords&Lands bot verhältnismäßig wenig und überzeugte weder bei den NSC, den Ländereien noch der neuen Klasse Adelige*r völlig.

Mit dem Witcher‘s Journal bringt das Team um Cody Pondsmith nun die nächste Erweiterung auf den Markt. Dieses Mal darf sie sich tatsächlich so nennen: Auf den insgesamt 160 Seiten finden sich zahlreiche Monster und verschiedene Tagebucheinträge des legendären Hexers Erland von Larvik. Dazu Hexer-Aufträge, besondere Monster und neue Spielmechaniken. Ein proppenvolles Paket also?

Das Goldene Zeitalter der Hexer – A Witcher‘s Diary

Mit den Aufzeichnungen des ersten Hexers erweitern R. Talsorian Games den spielbaren Zeitraum. Bisher standen in ihrem Rollenspiel die Ereignisse um die drei Nilfgaardischen Kriege im Vordergrund, die während der Bücher und Videospiele stattfinden. Nun wagten die Entwickler*innen den Sprung ins kalte Wasser und liefern hier erstmals Einblicke in die Anfänge der Hexer-Gilde, kurz nach der Konjunktion der Sphären.

Es werden Jahreszahlen und Hintergründe zu den ersten Hexern geliefert sowie zu einigen bekannten Vertretern jener Zeit. Schlussendlich geht es dann um die Spaltung der Hexer in verschiedene Schulen, die sich den Kontinent aufteilen, die daraus resultierende Renaissance der ausschließlich männlichen Kaste und den unausweichlichen Niedergang der Schulen.

Im Auftrag einer reichen Witwe kümmert sich Erland von Larvik um ein paar Neblinge, die es sich im Sumpf etwas zu gemütlich gemacht haben. © R. Talsorian Games

Das betitelte Goldene Zeitalter ist hierbei nur in puncto Monsteranzahl wirklich golden. Ansonsten dominieren weiterhin bekannte Themen wie Rassismus, Mord und Totschlag, Krieg oder Neid – es ist und bleibt eine raue Welt.

Insgesamt sind die Informationen detailliert, aber nicht zu detailverliebt, sodass eine Kampagne zur Zeit der ersten Hexer gut zu erstellen ist. Jedoch bleibt genügend Freiraum, eine eigene Geschichte zu erschaffen und neues Lore zu erleben.

Neben dem Rundumschlag in fiktiver Historie werden als kleine Einspieler zwischen den Monsterbeschreibungen einzelne Transkripte aus den Larvik’schen Tagebüchern geliefert. Diese gehen nie über eine äußerst volle DIN-A4-Seite und lesen sich in etwa wie die Kurzgeschichten der Geralt-Saga, wenn man diese auf die Kampfszenen reduziert hätte. Die Geschichten selbst sind meist zu kurz, um eigene Abenteuer daraus zu entwickeln, jedoch lassen sie die sonst etwas zahlenlastigen Monsterbeschreibungen lebhafter wirken und liefern Anhaltspunkte zur Beschreibung der Wesen.

Tödliche Tierwesen und wo sie zu finden sind – Von Barbegazi bis Waldschrat

Das Gros der Erweiterung machen jedoch nicht die Tagebücher, sondern die Monsterbeschreibungen aus. Direkt zu Beginn wird erklärt, wie die Monstertabellen zu lesen sind. Wäre das nicht etwas für das Grundregelwerk gewesen, welches geradezu unter einer Flut von wenig erklärten Tabellen litt?

Nichtsdestotrotz lohnt sich die Klarstellung. Die Monster im Buch sind in Kategorien wie Nekrophagen, Geister oder Bestien unterteilt. Besondere Monster wie höhere Vampire oder echte Drachen bilden nochmal eine eigene Klasse. Über 33 Monster haben so im Journal eine neue Heimat gefunden. Bis auf die Trolle gibt es keine Dopplungen mit dem Grundregelwerk. Mit dabei sind viele faszinierend-abstoßende Wesen aus The Witcher 3, wie etwa Fehlgeborene oder Schleimlinge. Doch auch unbekanntere Bestien aus den Vorgängern haben Einzug gefunden, beispielsweise die Gralle.

Mit den bis zu sechs Meter hohen Zyklopen ist nicht zu spaßen. Ein gebildeter Hexer weiß: Ihre Achilles-Ferse ist das Auge. © R. Talsorian Games

Die Jagdobjekte haben neben einer generellen Schwierigkeit viele weitere Stellschrauben. Wie intelligent sind sie? Sind sie rein instinktgesteuert oder in der Lage, taktische Entscheidungen zu treffen? Über was für Fähigkeiten und Finessen verfügen sie? Und, am allerwichtigsten für den dauerhaft geldknappen Hexer: Was für Beute wirf das Monstrum ab? Das schafft auf einer Buchdoppelseite Übersichtlichkeit und System für die SL.

Abgerundet wird das Monsterkomplettpaket mit einigen Hilfestellungen zu Encountern und längeren wie kürzeren Lore-Texten, welche aus der Sicht von Gelehrten oder Hexern verfasst wurden. Diese Erfahrungsberichte zeigen sehr schön die Wissensunterschiede. Denn während Nicht-Hexer sich mit ihrer Bildung nur auf Hörensagen und Aberglauben verlassen können, ist es den Profis dank ihrer Ausbildung vergönnt, sehr schnell viele wichtige Informationen zu Tage zu fördern.

Das kann dann, ganz Witcher-typisch, den ein oder anderen Kampf ersparen. Wenn der Hexer der Gruppe sich beispielsweise daran erinnert, dass Trolle oft mit Alkohol bestechlich sind und die SC daraufhin ihre Taschen danach durchsuchen, um die Monster-Begegnung unbeschadet zu überstehen.

Außergewöhnliche Monster – Lebensläufe für Drachen und Vampire

Die sogenannten Außergewöhnlichen Monster stechen aus der restlichen Metzel-Masse heraus und sind mit deutlich mehr Informationen versehen. So geht es bei den echten Drachen viel um die Unterschiede bei der Farbgebung, ihre Gesellschaftsform und wie ein so hochintelligentes Wesen trotz fehlender Lippen mit den Spieler*innen kommunizieren kann.

Diese Zwergengemeinschaft hatte bei der Rückeroberung ihrer Heimat weniger Glück als ihr Tolkien-Pendant. © R. Talsorian Games
Diese Zwergengemeinschaft hatte bei der Rückeroberung ihrer Heimat weniger Glück als ihr Tolkien-Pendant. © R. Talsorian Games

Höhere Vampire, die vielen noch aus dem Witcher 3DLC Blood and Wine bekannt sein dürften, fallen ebenfalls in die Kategorie des Besonderen. Neben viel Hintergrundmaterial zu den verschiedenen Stämmen und ihren Ursprüngen rund um das Herzogtum Toussaint, dürfte die größte Neuerung der Lebenslauf für die besonderen Monster sein. Denn da es sich bei Drachen wie Vampiren um nahezu unbesiegbare Boss-Gegner handelt, empfiehlt das Buch, sie von vornerein mit mehr Persönlichkeit, als das typische „Monster der Woche“ zu versehen. R. Talsorian liefert hier auswürfelbare Lebensläufe mit aberdutzenden Möglichkeiten. Das war bereits eine der Stärken des Grundregelwerks. Ähnlich wie bei den SC geht es hier zuerst um die Familie und das Alter, bevor es um spezielle Dinge wie den Jagdstil oder einzelne Lebensereignisse geht. So können Drachen beispielsweise in Frieden mit der Landbevölkerung zusammengelebt oder ein Vampir schonmal gegen einen Hexer gekämpft haben, woraufhin er gegen seine Tricks immun wurde. Vielleicht ist der vampirische Gegenspielende einer Gruppe aber auch nur ein ausgestoßener Blutalkoholiker.

Nach diesem Prinzip lässt sich prima und schnell eine Nemesis für die Gruppe entwickeln, die nicht an einem Abend besiegt wird, sondern am Ende einer langen Kampagne steht.

Ermittlungen und Aufträge – Hardboiled Witcher

Passend zu den supernatürlichen Antagonist*innen bespricht das Buch in seinem vorletzten Kapitel, wie sich diese mit komplexeren Abenteuern langsam aufbauen lassen. Kurz gesagt: Es geht um Rätsel und Ermittlungen im Witcher-Rollenspiel. Denn wie das Buch treffend festhält, sind Hexer nicht nur mutierte Monsterschlächter, sondern genauso effektive Detektive. Oftmals ist am Anfang eines Auftrages nicht klar, um welche Bestie es sich handelt (so vage sind unter anderem auch die elf beigelegten Hexer-Aufträge). Vor dem eigentlichen Kampf werden also Zeug*innen befragt oder Tatorte untersucht.

Aus dem Intelligenz- und dem Willenskraft-Wert ermittelt sich die Menge an Fokuspunkten, die für das Finden von Hinweisen und das daraus folgende „Herstellen“ von Beweisen gebraucht wird. Die Hinweissuche kann durch Hindernisse erschwert werden. Die Hinweise selbst können zusätzlich noch einen Verschleierungs-Wert haben, der wie eine Art Rüstung für das Rätsel fungiert. Das Mysterium selbst hat einen Komplexitätswert, welcher schlussendlich durch „Schaden“ auf null reduziert werden muss, um zu des Rätsels Lösung zu gelangen.

Trotz zahlreicher Beispiele und umfangreichen Informationen verfällt das Witcher’s Journal hier in alte Muster und verliert sich mitunter in Überkomplexität und Zahlen. Andere, durchaus relevante und spannende Aspekte fürs Ermittlungsrollenspiel, wie etwa der Umgang mit der Diskrepanz zwischen Spieler*innen und Charakterwissen, werden lediglich am Rande behandelt.

„Können Sie mir beschreiben, wie das Monster aussah, das Sie angegriffen hat?“ © R. Talsorian Games

Erscheinungsbild

Das Witcher’s Journal umfasst 160 DIN-A4-Seiten und ist im Oktober 2020 außerdem in deutscher Übersetzung beim Truant Verlag erschienen – für den Ersteindruck lag jedoch nur die englische PDF vor.

Der größtenteils fehlerfreie und gut lesbare Text wird untermalt von zahlreichen stimmigen Illustrationen der Witcher-Welt. Erstmals finden sich sogar komplett neue Bilder im Buch. Bisher lieh man hierbei immer von The Witcher 3 oder Gwent.

Die Texte sind verständlich, das Layout ist stimmig. Offenbar wurde aus den vielen Fehlerchen des ersten Grundregelwerks gelernt – schlecht oder gar nicht erklärte Tabellen gibt es jedenfalls keine. Vorhandene Informationen sind sinnvoll auf Text, Tabellen und Seitenränder verteilt.

Die PDF ist bereits mit einem Index versehen, welcher schnell zu den einzelnen Monsterklassen verweist. Für ein wenig Verwirrung sorgte, dass die Tagebucheinträge im Inhaltsverzeichnis den Monstern beigefügt sind, sie im PDF-Index aber als eigenständiges Kapitel aufgeführt sind.

Die harten Fakten:

  • Verlag: R. Talsorian Games
  • Autor*in(nen): Cody Pondsmith, Lisa Pondsmith, James Hutt et. al.
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: Englisch, Deutsch
  • Format: PDF, Gebundenes Buch
  • Seitenanzahl: 158
  • ISBN: 978-1-950911-05-9
  • Preis: 15 USD (Englischsprachige PDF); 29,95 EUR (Gebundene Ausgabe auf Deutsch)
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo, DriveThruRPG

 

Fazit

Das Witcher’s Jorunal ist ein solides Bestiarium zum Nachschlagen und Erweitern der eigenen Kampagnen geworden. Alle notwendigen Informationen zu einem Monster befinden sich auf wenigen Seiten komprimiert und lassen sich schnell umsetzen. Die Wesen sind abwechslungsreich und zusätzliche Features wie die Lebensläufe geben den besonderen Monstern bereits zum Start eigene Persönlichkeiten mit Freund*innen, Feind*innen und Verflossenen.

Der Hintergrund-Teil des Buches und die Aufträge sind eine nette Dreingabe, genauso wie die Tagebucheinträge. Insgesamt bleiben sie jedoch genau das, eine Dreingabe. Für einen richtigen Story- oder Kampagnenband wäre das zu wenig. Durch die Hexer-zentristische Sicht fehlen hier vor allem Informationen zu politischen und gesellschaftlichen Umständen.

Das Investigationssystem ist detailliert, verliert sich aber mitunter in seinen zahlreichen Sonderregelungen und wirkt in Anbetracht einer zügigen Umsetzung am Spieltisch erst einmal abschreckend.

Als Monster-Erweiterung erfüllt das Buch für knapp 30 Euro (15 Euro für die PDF) seinen Zweck allemal. Es bietet viel Material für spannende Kämpfe, Abenteuer und Begegnungen in der Welt der Hexer.

 

  • Über 33 verschiedene, neue Monster
  • Erweiterung des (zeitlich) spielbaren Rahmens
  • Investigationssystem schafft Abwechslung
 

  • Weltenpart recht knapp
  • Ermittlungskapitel mit (zu viel?) Fokus auf Regeln

 

Artikelbilder: © R. Talsorian Games
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Denise Hollas
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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