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Was als Chiptune und MIDI angefangen hat, beschäftigt längst renommierte Komponist*innen und Wissenschaftler*innen: Videospielmusik. Entwicklerstudios und Publisher greifen gerne auf Musik zurück, um Trailer oder Spielszenen mit Stimmung aufzuladen, manchmal wird die Musik sogar zum Mittelpunkt des Gameplays. Teilzeitheld Stephan wirft für euch einen Blick auf den Komplex.

Wenn man die meisten Menschen die unwahrscheinliche Frage stellt, welches Jahr sie mit Videospielmusik verbinden, wird vielen keine Antwort einfallen. Ein kleiner Teil wird völlig zurecht von der absurden Frage irritiert sein und ein kleiner Teil an Retro-Connaisseuren und Techies würde 1980 in den Raum werfen. Für mich ist es das Jahr 2014. In diesem Jahr schafft es Russell Brower mit dem Stück Invincible in die Top-300-Hall of Fame des britischen Radiosenders Classic FM. Invincible hat das in meinen Augen beste World of Warcraft-Addon begleitet: Wrath of the Lich King. Man hört es in dem Moment, in dem Arthas, einer der großen Bösewicht*innen des Settings, in einer epischen Zwischensequenz den Geist aufgibt. Es gibt kein anderes Stück, sei es nun von Carl Orff, Tschaikowski oder John Williams, das mir derartig zuverlässig eine Gänsehaut über die Arme jagt. Aber bis wir an den Punkt kamen, an dem auch die breite Öffentlichkeit den Stellenwert von Videospielmusik anerkannte, war es ein weiter Weg …

Hat sich einen Platz in die Hall of Fame des Classic FM erspielt: der Soundtrack zu WotLK.

Die Geschichte der Videospielmusik

Als in den 1970er Jahren Arcade-Videospiele die Spielhallen der Welt eroberten, wurde Musik in der Regel auf physischen Medien wie Kassetten gespeichert. Jeder, der in den 1990ern mit Stabilo und Walkman bewaffnet die Straßen unsicher gemacht hat, kann sich erinnern, wie schnell die Lieblingskassette den Betrieb eingestellt hat, wenn sie zu grob behandelt wurde.

Es fällt daher nicht schwer sich vorzustellen, welcher Belastung ein Medium ausgesetzt wird, das mehr als acht Stunden am Tag das Spielgeschehen früher Videospiele untermauert. Schnell stieg man also auf Mono- und Chiptunesoundeffekte um, mit denen sich einfache Stücke bereits komponieren ließen. 1980 konnten die ersten Digital-Analog-Wandler endlich mit eigenen Samples arbeiten und digitale Versionen bekannter Musik verwendet werden. In dieser Zeit zogen viele Spieler*innen, und mit ihnen auch die Spiele, aus den Spielhallen ins Eigenheim, denn Konsolen und PCs wurden immer populärer.

Aus den Spielhallen an den heimischen Rechner

Dies stellte Spieleentwickler*innen vor ein Problem, denn Videospielmusik war damals unverhältnismäßig speicherintensiv. Die Lösungen waren hier verschiedenartig, so konnten Soundchips mit eingespeicherten Tönen über einfache Kommandos seitens der Software angesteuert werden und so ohne großen Speicheraufwand Spiele mit Sounds versorgen. 1984 revolutionierte erneut die nach wie vor große Arcadeszene den Markt, indem man zum ersten in Spielen die FM-Synthese anwendete. Ein Verfahren, das deutlich zu kompliziert ist und ich deutlich zu wenig Techie bin, um es vernünftig zu erklären. Dieses Format blieb uns bis Mitte der 1990er auch in PC- und Konsolenspielen erhalten, und war integraler Bestandteil der 16-Bit-Ära. Die flächendeckende Einführung der CD, Mitte der 1990er Jahre, und später der DVD in den 2000ern, konnte endlich die Speicherprobleme lösen, mit denen sich Entwicklerstudios und in letzter Konsequenz auch Spieler*innen lange Jahre herumschlagen mussten.

Die Modernisierung der Videospielmusik

Warcraft III bildete 2001 einen vorläufigen Höhepunkt der orchestralen Videospielmusik.

Seitdem gab es weitere technische Entwicklungen, im Prinzip hatte man damit das moderne Zeitalter der Videospielmusik erreicht. Als Beispiel kann man den Blick auf ein Entwicklerstudio setzen, das heute für seine epischen Soundtracks bekannt ist: Blizzard Etd. So war Warcraft: Orcs and Humans 1994 zunächst auch auf Diskette erschienen und mit einem MIDI-Soundtrack ausgestattet, während die Qualität in Warcraft II: Tides of Darkness 1995 einen beachtlichen Sprung gemacht hatte. Das ebenfalls von Blizzard entwickelte StarCraft 1998 stellte einen Zwischenschritt dar, bevor mit Warcraft III: Reign of Chaos 2001 ein Höhepunkt in hochwertiger Orchestermusik erreicht wurde, der auch heute noch vielen Standards standhält. Während die Musik in StarCraft hierbei vor allem einfachen, repetitiven Soundtrack-Charakter hatte und eher eine gewisse Grundstimmung übermittelte, war die Musik der Zwischensequenzen aus Warcraft III schlichtweg filmreif. Dass Blizzard 2007 zusätzlich zum hauseigenen Jason Hayes noch den Black Hawk Down-Komponisten Russell Brower einstellte, scheint folgerichtig; kaum weniger beeindruckend sind Engagements von etwa Hans Zimmer (Call of Duty: Modern Warfare 2) oder Bear McCreary (God of War).

Einfach nur Filmmusik?

Rollenspiele wie The Witcher 3 müssen in der Lage sein, die Musik der Stimmung anzupassen.

Aber ist Videospielmusik einfach nur Filmmusik mit geringerem Budget? Abgesehen davon, dass letzteres heute in Anbetracht der Budgets von Blockbuster-Titeln wie Call of Duty oder Battlefield kaum mehr zutreffen dürfte, kann man das generell kaum sagen. Während Filmmusik einem starren, unveränderlichen Muster folgt und dem Endprodukt präzise auf den Leib geschneidert werden kann, muss Spielemusik flexibler sein. Keine zwei Spieler*innen handeln gleich, der allergrößte Teil der Spielmomente ist nicht präzise vorhersagbar. Und selbst in geskripteten Sequenzen kann gerade in Rollenspielen der bisherige Spielablauf Ton und Stimmung des Momentes komplett verändern. Videospielmusik muss also oftmals adaptiv mit bestimmten Samples oder Themen der Spielsituation angepasst werden und darf dann nicht zu spezifisch sein, sondern dafür geeignet im Hintergrund vor sich hin zu spielen. Das ändert allerdings wenig daran, dass einige bekannte Techniken der Filmmusik durchaus auch hier Anwendung finden. So können bestimmte Charaktere, Fraktionen oder (sich wiederholende) Ereignisse mit Leitmotiven untermalt werden.

Videospielmusik heute

Dabei hat, bei aller Modernisierung, die Videospielszene ihre Wurzeln nicht vergessen. Gerade im Zuge des Indie- und Retrohypes, der seit Jahren anhält, wurden MIDI- und Chiptune-Soundtracks wieder beliebter. Letzterer hat sogar fernab von Computerspielen eine aktive Musikszene entwickelt. In erfolgreichen Spielen wie Undertale wurden Retro-Soundtracks erfolgreich neu eingesetzt, der Track MEGALOVANIA (wer den Soundtrack hört, weiß sofort, warum er nicht anders als in Großbuchstaben schreibbar ist) hat hierbei in der Meme- und Spielekultur einen fast schon legendenartigen Status erreicht. Dabei gibt es keinesfalls eine Dichotomie zwischen chiptuneartigen Retrostücken und epischen Orchesterbrettern. Auch kontemporäre Musik hat bereits seit den 2000ern ihren festen Platz in den Soundtracks diverser Spiele. Wer in den 2000ern seine Teenagerjahre gelebt hat, kann sich mit nostalgischer Freude an die Alternative- und Hip-Hop-Soundtracks von Tony Hawk’s™ Proskater und Need for Speed Underground zurückerinnern, anderen werden die Command&Conquer-Soundtracks von Frank Klepacki im Kopf geblieben sein, etwa das Act on Instinct oder der Hell March. Schwermetall-affine Spieler*innen werden mit wachsender Begeisterung dem Doom Eternal-Soundtrack gelauscht haben.

Tony Hawk’s™ Proskater legendärere Soundtracks haben mit seinem 2020er Remaster über 30 Stücke dazugewonnen.

Musik als Gameplay

Gerade besagten Metalheads sind mit Sicherheit noch lange Spielabende Guitar Hero in Erinnerung. In denen man verzweifelt versucht hat, mehr als eine Minute im blitzschnellen Power metal-Klassiker Through the Fire and Flames von Dragonforce durchzuhalten, ehe man mit krampfenden Unterarmen aufgegeben hat. Im Prinzip schlugen Rockband und auch SingStar in die gleiche Bresche und ließ einen auf spielerische Art und Weise selbst Musik reproduzieren. Andere Spiele haben weniger das Musizieren selbst in den Mittelpunkt gestellt, sondern die Musik zum Gameplaymedium gemacht. So generiert Audiosurf aus MP3-Dateien automatisch Rennstrecken, die Spieler*innen bezwingen dürfen.

Cadence of Hyrule nutzt Musik und Rhythmusgefühl als Gameplay-Element.

Noch immer mit einer großen und aktiven Community gesegnet ist der reflexintensive Audiovisualizer osu! Ins VR-Genre übertragen hat das Konzept schließlich Beatsaber, in dem man zum Takt der Musik heranfliegende Blöcke mit Lichtschwertern zerlegt. Mit starker Retro-Optik und dem entsprechenden Soundtrack hat hingegen Crypt of NecroDancer auf sich aufmerksam gemacht, in dem der Entwickler Ryan Clark Roguelike Dungeoncrawls mit Rhythmusgefühl verbunden hat. Der durchschlagende Erfolg sorgte dafür, dass 2019 mit Cadence of Hyrule ein Ableger im Zelda-Setting entstand.

Stagnation oder Höhepunkt?

Stand jetzt scheinen wir es mit einer Situation zu tun zu haben, in der die Grundlagen gesetzt sind. Gerade für epische Einzelspieler*innenkampagnen sind teils adaptive, teils präzise abgestimmte Orchesterstücke der Goldstandard. Spiele-OST müssen sich längst nicht mehr vor Filmsoundtracks verstecken, wenn man sich die pompösen Soundtracks von Dark Souls 3 oder die stimmigen Stücke eines Ghost of Tsushima anhört. Man könnte das böswillig als Einheitsbrei bezeichnen, tatsächlich bietet sich Spieler*innen, denen nach neuen Ideen zumute ist, immer wieder Neues. So ist der Soundtrack des X-COM-Klons Warhammer 40.000: Mechanicus schlichtweg einzigartig und fügt sich hervorragend in das Sounddesign des Spiels ein, das ohne ein einziges gesprochenes Wort auskommt und wie typisch für das Setting abgefahrene Hightech-Sounds mit orchestral-epischen Klängen geschickt verbindet. Auch, was kontemporäre Musik angeht, scheint es Neuerungen zu geben. So hat in Cyberpunk 2077 die fiktive Band Samurai gleich mehrere Auftritte und einige Stücke, die sich auch hervorragend außerhalb des Spiels anhören lassen. Gaminggiganten wie Riot GamesLeague of Legends hat mit K/DA eine eigene K-Pop-Band erschaffen, in denen Szenegrößen wie (G)I-DLE‘s Miyeon und Soyeon bekannte Figuren der Reihe darstellen. Besagter Publisher lässt auch Bands wie Imagine Dragons Titelsongs für aktuelle Trailer bereitstellen.

K-Pop-Größen leihen den League of Legends-Champions Ahri und Akali ihre Stimmen.

Musik über Spiele

Ob sich Imagine Dragons, wie oft ohne Nachweis kolportiert, in ihrem Song Radioactive, tatsächlich von der Videospielreihe Fallout hat inspirieren lassen, wird wohl nie ganz nachzuweisen sein. Dennoch hat sich bereits seit den 2000ern und 2010er Jahren eine weitere Form von Videospielmusik breitgemacht, die so ganz anders ist. Ich rede hier von Musik über Videospiele. Kein Kind der 1980er und 1990er Jahre, das mal eine LAN-Party besucht hat, wird um Jan Hegenbergs legendäre Trendy-Eistee-Ballade oder den Dauerbrenner Cheater an die Wand herumgekommen sein. Internationalen Legendenstatus hingegen belegt die titeltechnisch etwas sperrige Complete History Of The Soviet Union, Arranged To The Melody Of Tetris. Der Youtuber legolambs, einigen bekannt etwa durch das Conan-Musical, hat eine nicht minder eingängige 8-Bit-Opera über die Super Mario Bros. produziert, während die Band Instalok über die Jahre weit über 100 Cover bekannter Popsongs mit Inhalten aus League of Legends oder verschiedenen Blizzard-Spielen veröffentlicht hat. Ich lehne mich an dieser Stelle etwas aus dem Fenster und behaupte, dass es nicht mehr lang dauern kann, bis Videospiele auch die Charts erobern.

 

 

Artikelbilder: © Depositphotos | lenasergpolll, bigfatnapoleon, Makalo86, © Blizzard Entertainment, Activision, CD Project RED, Nintendo, Riot Games
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Sabrina Plote

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