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Liverollenspiel ist nicht immer Fantasy und nicht immer Mittelalter. Die Geschichte bietet so viel mehr, an dem ein Hintergrund sich bedienen kann. Mit dem Barock-Larp findet sich in Österreich ein Genre, das ohne Magie, aber sicher nicht ohne seinen ganz eigenen Zauber ist.

Fantasy dominiert die Larp-Szene. Ein Ausflug ins Barock-Larp zeigt, dass Heldentum auch ohne Magie auskommt – und gleichzeitig eine Gelegenheit zum Lernen bietet.

Ein Blick über die Grenze von Deutschland nach Österreich bietet einen Einblick in eine etwas andere Larp-Welt. Seit gut zehn Jahren veranstaltet dort die Barock-Orga im Umkreis von Wien Liverollenspiel vor dem Hintergrund des Pariser Hofes im siebzehnten Jahrhundert.

Historische Persönlichkeiten treffen auf die Prominenz des Mantel-und-Degen-Genres. Dazwischen loten die Spielenden die Tiefen von Intrige, Religion und Europäischer Geschichte aus.

Triggerwarnungen

Charaktertod, Schusswaffen, Rassismus, Religion

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Das Barock – Die vergessene Epoche

Paris liegt in Österreich. Genauer gesagt, irgendwo zwischen Wien und Graz – nämlich immer dann, wenn die Barock-Orga zum Spiel lädt. Dann erwacht eine Welt zum Leben, die zwischen Reenactment und Liverollenspiel den Beginn der Moderne bespielt.

Barock, was heißt das eigentlich?

Ganz grob ordnet sich die Epoche des Barocks zum Beginn des 17. Jahrhunderts in Europa ein, geprägt vom Dreißigjährigen Krieg, als Nachfolger der Renaissance und selbst abgelöst vom opulenten Rokoko. Weder so bunt, fantastisch und vor großen Weltrettungsszenarien wie die verbreiteten Fantasy-Mittelalter-Larps, noch so düster und futuristisch wie das beliebte Endzeit-Genre.

Gar nicht schlicht, das Barock. Foto © Andreas Lorenz

Und genau das mögen Gründe sein, warum das stilistisch so nüchtern anmutende Barock so gern übersehen und folglich auch im Rollenspiel eher nischenhaft behandelt wird.

Dabei kennt vermutlich jede*r die Abenteuer der Drei Musketiere, die ihr Autor Alexandre Dumas vor eben diesem Hintergrund spektakulär in Szene setzte. An diesem Punkt steigen die Cons der Barock-Orga ein und zeigen, dass trotz religiösen Eifers und höfischer Etikette lebendiges Abenteuer-Rollenspiel möglich ist.

Pariser High Society und abenteuerliche Unterwelt

Wer aus dem Fantasy-Larp kommt, wird sich einen Moment umgewöhnen müssen.

Denn wie auch in den Romanen Dumas‘ müssen Spielende hier ohne Magie und all jene märchenhaften Elemente auskommen, die das größte Larp-Genre in weiten Teilen ausmachen.

Stattdessen bewegen wir uns im Barock-Larp der Wiener Orga auf der schmalen Linie zwischen Larp und erlebter Geschichte. Der Hintergrund des Pariser Hofes ist soweit möglich historisch korrekt und auch die Festrollen entsprechend mit realen Persönlichkeiten der Epoche besetzt.

Spielende tauchen tief in den Hintergrund ein, bemüht, Benehmen und Lebensgefühl der frühen Moderne zum Leben zu erwecken. Zu Anfang waren diese spielerischen Bemühungen noch ein wenig steif, durchdrungen von viktorianischer Etikette. Erst langsam fühlte man sich in das menschlichere, lebenslustige Europa des frühen Barocks ein.

Doch einmal angekommen bietet das Setting eine große Bandbreite an Möglichkeiten: Der Pariser Hof zur Zeit Ludwigs des XIII. dient als Kulisse für Adel und Intrige, Klerus und kämpfende Charaktere, die sich als Musketiere oder Gardisten des Kardinals wiederfinden können. Denn auch die großen Helden und Bösewichte aus den Abenteuern der bekannten Drei Musketiere haben als NSCs ihre Auftritte. Lädt nicht der Hof, sondern die Pariser Unterwelt zum Spiel, begeben sich die Spielenden in die mystischen Tiefen des Hofs der Wunder, wo ein ganz anderes Spektrum ausgelotet wird. Klassen und Kulturen treffen aufeinander und laden nicht nur zum Erkunden, sondern auch zum Reflektieren der Geschichte der heute so multikulturellen Metropole ein.

So mischen sich Realismus und das romantische Draufgängertum des Mantel-und-Degen Genres. Denn beides allein kann schnell ermüdend werden. In der Balance dagegen ergeben sich spannende Konzepte. Anders als in den weiter verbreiteten Settings nämlich hält der Hintergrund der Barock-Orga an den „klassischen“ Rollenbildern fest – und wird dadurch zu einer Gelegenheit, die entgegengesetzte Geschlechterrolle im Spiel auszuloten. Die sogenannten Hosen-Rollen, wie zum Beispiel die der Musketiere oder Gardisten, sind in der Regel männlich – und zu einem großen Anteil dargestellt von weiblichen Spielenden.

Wer findet die Dame? Foto © Andreas Lorenz

Das Barock-Larp bietet hier also die Möglichkeit zum Crossplay – der Darstellung einer andersgeschlechtlichen Rolle. Das Konzept wird von den weiblichen Spielenden enthusiastisch angenommen und mit Ernsthaftigkeit und Leidenschaft seit Jahren bespielt.

Und auch der ein oder andere männliche Spielende geht in der Rolle der Dame mit großer Hingabe und tiefer Darstellung voll und ganz auf. Wer sich also auf der historischen Ebene für die eigene Gewandung bisher nur auf einer „Seite“ bedient hat, ist hier dazu eingeladen, sich vielleicht einmal ganz neu auszuprobieren.

Ausnahmen bestätigen natürlich auch hier die Regel, soll es doch schon vorgekommen sein, dass eine Dame sich als solche unerkannt unter die Musketiere gemischt hat…

Wie hältst du’s mit der Religion?

Die Epoche des Barocks lässt sich nicht von einer tiefen Religiosität des Alltags trennen. Im Frankreich des 17. Jahrhunderts hatte die katholische Kirche großen Einfluss auf König und Volk, Religion war aus dem täglichen Leben nicht wegzudenken. Das schlägt sich in den Charakterdarstellungen nieder, die auf der einen Seite tief gläubig, aber auch auf der anderen sehr lebensfroh daherkommen können.

Doch gerade reale Religionen wie Christentum, Judentum und Islam sind im Larp ein schwieriges Thema. Den meisten Spielenden wird empfohlen dieses zu meiden, da das Konfliktpotential hoch, und das Verhältnis der Spielenden hinter den Charakteren zum Thema schwer einzuschätzen ist. Wie also damit umgehen, wenn das Thema nicht wegzudenken ist? Schließlich kann es passieren, dass sich mit Kardinal Richelieu ein hoher kirchlicher Würdenträger unter die Spielenden mischt oder Angehörige anderer Kulturen und Religionen unter den Charakteren sind. Ein Spannungsfeld, dass sowohl bei allzu tiefer Darstellung als auch unter völligem Ignorieren schnell zu Unwohlsein außerhalb des Spiels führen kann. Wie immer ist Kommunikation das entscheidende Element.

Die Gretchenfrage. Foto © Andreas Lorenz

Die Darstellung von Religion findet respektvoll und mit Augenmaß statt, denn sie ist nicht wegzudenken, und soll es auch nicht sein. Spielende sind ermutigt, sich im Vorfeld zu informieren und mit der Lebensrealität der Zeit auseinanderzusetzen. Charaktere, die ihren Glauben praktizieren, werden dies durch Details zum Ausdruck bringen, es aber meist dabei belassen. Größere religiöse Handlungen werden angedeutet, sodass klar ist, dass hier etwas Spirituelles stattfindet. Eine katholische Messe wird so aber zum Beispiel nicht vollständig ausgespielt, sensible Inhalte wie Sakramente nicht dargestellt. Wie auch in anderen Liverollenspiel-Settings gilt schöne Darstellung mehr als historische, oder aktuelle, Authentizität. Es ist ausreichend, zu wissen, dass hier etwas stattgefunden hat, um den spielerischen Impuls zu geben. Die Orga macht hier deutlich, dass sie es nicht duldet, wenn sich über Religiosität lustig gemacht wird. Dem Thema soll grundsätzlich mit Respekt begegnet werden.

Mit Degen und Fingerspitzengefühl

Einen Großteil des Liverollenspiels machen auf vielen Veranstaltungen bewaffnete Konflikte aus, seien es große Schlachten oder kleine Manöver.

Natürlich wird auch im Barock-Larp gekämpft und auch hier müssen sich Realismus und der Wunsch der Spielenden nach Abenteuer und Heldentum die Hand reichen. Denn Heiler sind hier Feldscher, einen Limbus oder magische Heilung durch praktische bunte Tränke gibt es nicht. Bewaffneter Konflikt wird mit Degen und Feuerwaffe ausgetragen. Da Stichdegen und Rapier noch nicht die Regel waren, können für den Nahkampf Waffen mit Kernstab verwendet werden und es gelten die üblichen Regeln des schönen Spiels: gib alles, nimm an was du bekommst. Aber was, wenn den Charakter eine Kugel aus Pistole oder Muskete trifft? Hierfür werden einige praktische Regeln genutzt. Feuerwaffen in den Settings der Barock-Orga müssen mit Knallplättchen ausgestattet sein, sodass der Schuss gut hörbar ist. Ist er das nicht, greift auch hier die Regel des Realismus: das Pulver war nass, der Schuss hat nicht gezündet. Kommt es nach einem erfolgreichen Schuss aus einer gewissen Distanz zum Treffer, entscheidet das Opfer, wo dieser landet. Damit der*die Schütz*in belohnt, das Opfer aber nicht den Rest der Veranstaltung an die Pritsche gefesselt ist, darf einmal am Tag eine schwere Verletzung abgeschwächt werden. Eine Maßnahme, die für Spielende wie NSCs gleichermaßen gilt, ähnlich der Opferregel, seit einmal versehentlich der Kardinal höchstselbst in den Kopf geschossen wurde. Wer sich aber zu weit aus dem Fenster lehnt, zu oft den*die Held*in spielt und sein*ihr Glück überstrapaziert, kann durchaus den Charaktertod erleiden.

Auch andere Konflikte der dargestellten Zeit fordern einen umsichtigen Umgang. Rassismus und Klassenunterschiede waren wie Religion und bewaffnete Auseinandersetzung Teil der Lebensrealität. Diese auszuklammern sähen die Veranstaltenden als respektlos gegenüber jenen, die sie erlebt haben. Es gilt, im Vorfeld umsichtig zu recherchieren, sich mit der jeweiligen Thematik auseinanderzusetzen und bodenständig-sensibel damit umzugehen. Die aktive Auseinandersetzung mit solchen gesellschaftlichen Themen im Kontext ihrer Zeit, ohne zu schönen, zu entfernen oder zu karikieren, hat in den zehn Jahren, in denen das Setting bespielt wird, dafür gesorgt, dass nicht einmal respektlos mit ihnen umgegangen wurde.

Der Hintergrund der Barock-Orga bietet den Spielenden die Gelegenheit, eine Epoche im Umbruch zu erleben, deren Facetten mehr sind als leicht verdauliches Abenteuer, aber auch viel weniger finster, als der Geschichtsunterricht es uns lehrt.

Ohne das große Feuerwerk von Magie und Weltrettung erforschen Spielende hier das Konzept einer Gesellschaft am Anfang der Moderne. Und das ist mit Sicherheit ein nicht weniger großes Abenteuer.

Artikelbild: © HayDmitriy |depositphotos.com
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Nina Horbelt
Fotografien: © Andreas Lorenz

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