Geschätzte Lesezeit: 12 Minuten

Seanan McGuires Wayward Children-Novellen sind zauberhaft böse Märchen über das, was Kinder hinter magischen Türen erwartet. Zwischen psychologischem Drama und groß angelegtem Abenteuer lassen die Bücher ihren geringen Seitenumfang zuverlässig vergessen. Was macht den Reiz der Reihe aus, und woran liegt es, dass manche Texte als Novelle besser funktionieren?

Novellen haben es in der deutschen Phantastik nicht leicht. Ja, schaut man sich erfolgreiche Neuerscheinungen der letzten Jahre an, kommt eher der Eindruck auf, die Faustregel laute: Erzähle niemals auf 200 Seiten, was du auch auf 600 Seiten erzählen könntest. Das mag natürlich daran liegen, was sich besser verkauft: Wenn ich 15€ für einen besonders dicken Wälzer hinblättere, habe ich gleich das beruhigende Gefühl, auch was für mein Geld zu bekommen. Den gleichen Preis für ein schmales Bändchen zu bezahlen, wäre ja schön blöd, da steckt ja viel weniger Arbeit drin – oder? Natürlich ist diese Grundintuition naiv, verhindert aber erfolgreich, dass hierzulande phantastische Novellen auch nur ansatzweise den Stand haben, der ihnen in der internationalen Szene zukommt. Dort besteht durchaus ein Bewusstsein dafür, dass einige der prägendsten Texte des Genres Novellen waren, also Erzählungen, die deutlich länger sind als eine Kurzgeschichte, aber noch kein richtiger Roman. Ursula K. Le Guins The Word for World is Forest fällt in diese Kategorie, ebenso wie Harlan Ellisons A Boy and His Dog oder James Tiptree, Jr.s Houston, Houston, Do You Read?. Auch in jüngerer Zeit machten einige Novellen von sich reden, wie etwa Martha Wells grandiose Muderbot Diaries. Allerdings hat in den letzten Jahren kaum jemand die erzählerische Kurzform so virtuos eingesetzt wie die Kalifornierin Seanan McGuire. Ihre preisgekrönte Wayward Children-Reihe setzt nicht nur neue Standards für Portal Fantasy, sondern meistert vor allem die Kunst, auf kleinem Raum immer größere Geschichten entstehen zu lassen.

© TOR Books, Bearbeitet von Verena Bach
© TOR Books, bearbeitet von Verena Bach

Vor Wayward Children gelang McGuire bereits 2010 der Durchbruch, als sie für Rosemary and Rue, dem ersten Band der Urban Fantasy October Daye-Serie, den kürzlich in Astounding-Award umbenannten Campbell-Award als beste neue Autorin gewann. Auch die unter dem Pseudonym Mira Grant veröffentlichte Newsflesh-Trilogie über ein Team von Bloggern, das in einer Gesellschaft nach der Zombieapokalypse politische Intrigen aufdeckt, erregte einiges an Aufmerksamkeit. Seitdem publiziert McGuire im Akkord, üblicherweise mehrere Titel pro Jahr, die meist Teil einer ihrer vielen Reihen sind. Mit den Wayward Children-Büchern hat sie dann einen besonderen Nerv getroffen – und trifft ihn noch, denn die hochwertig gebundenen und entsprechend teuren Novellen verkaufen sich offenbar gut genug, dass weiterhin jedes Jahr ein Band erscheint. Das ist keine Überraschung, denn wunderlich und märchenhaft vereinen die Bücher alles, was so viele Fans etwa am Stil von Neil Gaiman lieben, mit einer psychologischen Tiefe, die niemand von Portal Fantasy erwartet hätte.

Nach dem Abenteuer

Die Prämisse ist so naheliegend, dass die Bücher irgendwie schon vor Jahrzehnten hätten erscheinen müssen: Alle Geschichten über Kinder, die durch Kaninchenbaue oder Wandschränke in andere Welten gelangen, sind wahr; von Narnia bis Nimmerland gibt es immer neue Welten, die Kinder zu sich rufen und ihnen ihre Türen öffnen. Doch um das, was die Kinder dort erleben, geht es im preisgekrönten ersten Band Every Heart a Doorway überhaupt nicht. Es spielt in „Eleanor West’s Home for Wayward Children“ – „Eleanor Wests Haus für Kinder auf Abwegen“: nach außen hin ein Internat für Kinder mit Wahnvorstellungen, tatsächlich aber ein sicherer Hafen für alle, die aus ihren Welten zurückgekehrt sind und sich nun in der gewöhnlichen Welt, wo niemand ihren Berichten Glauben schenkt, nicht mehr zurechtfinden. In Einzel- und Gruppengesprächen versucht Eleanor Wests Team Kindern zu helfen, die unter Heimweh leiden und wie besessen nach der magischen Tür suchen, die sie nach Hause bringt.

Every heart a doorway © Macmillian

Ähnlich wie etwa Becky Chambers legt McGuire in ihren Büchern viel Wert auf Diversität und schreibt über Figuren mit unterschiedlichen Geschlechtern, Sexualitäten und kulturellen Hintergründen. Allerdings wird schnell klar, dass es sich hierbei nicht um uneingeschränkte Wohlfühlfantasy handelt. Bald unterbricht eine Reihe bizarrer Morde das Internatsleben. Jemand – oder etwas – macht Jagd auf Menschen, die schon mal zwischen den Welten gereist sind. Der wichtigsten Regel des Internats – „keine Quests“ – zum Trotz, machen sich die Kinder daran, selbst zu ermitteln. Dabei müssen sie alle Fähigkeiten einsetzen, die sie in ihren verschiedenen Welten erworben haben …

Die kurzweilige, in sich abgeschlossene Erzählung verdankt ihren Erfolg vor allem der Prämisse, dass jedes Kind genau die eine Tür findet, die seinem Naturell entspricht. Hierin liegt die erste große Stärke der Reihe: kindliche Fantasie wird in der Phantastik oft himmelhochgehalten und romantisiert, bis sie einem wie Regenbogenschaum aus den Ohren quillt. Viel zu selten wird dabei berücksichtigt, dass es die eine kindliche Fantasie nicht gibt. Kinder sind fundamental unterschiedlich, und sie in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit zu fassen, misslingt zwingend, wenn ein einziges Kind als Platzhalter für all die Aspekte eingesetzt wird, die man sich angeblich bewahren soll, um als Erwachsener nicht zu den Grauen Herren überzulaufen.

Hingegen spiegeln die Welten, die McGuire ihren verlorenen Kindern zuschreibt, gerade deren verschiedenen Temperamente, ohne eines als interessanter, schätzenswerter oder fantasievoller als die anderen hervorzuheben. So ist beispielsweise die Protagonistin der ersten Novelle ein stilles Mädchen, das grelle Farben verabscheut und sich mit dem Wunsch ihrer Eltern nach einem kleinen Sonnenschein heillos überfordert sieht. Die Welt, deren Zugang sie verloren hat, waren die „Hallen der Toten“ in denen ewige Nacht herrschte und Zurückhaltung die wichtigste Qualität war. Ihre Zimmergenossin Sumi hingegen kehrte aus zuckrigen Nonsens-Gefilden zurück, die wiederum ihrer überdrehten Art entsprechen. Die Welten jenseits der Türen sind schließlich genauso morbide oder lebensfroh, logisch oder unsinnig, rechtschaffen oder chaotisch wie die Kinder, die hindurchschreiten, und man fragt sich unwillkürlich, wie wohl die eigene Tür ausgesehen hätte.

Das altbekannte Horrormoor: Worldbuilding als gemeinsame Aufgabe

Eines haben die Kinder in Eleanor Wests Internat dann aber doch gemeinsam: Ihre Eltern haben sie in ihrer Individualität nicht wahrhaben wollen und verkannt, sogar versucht, sie zu Kindern zu machen, die besser in ihr eigenes Lebenskonzept passen. Im zweiten Band der Reihe, Down Among the Sticks and Bones, zeichnet McGuire einen solchen Fall nach und legt die Vorgeschichte zweier Bewohnerinnen von Eleanoer Wests Internat offen: Die Zwillingsschwestern Jack und Jill wurden offenbar geboren, um die Fantasie ihrer Eltern von der perfekten Familie zu erfüllen. Von Jahr zu Jahr drohen sie mehr in die Schablonen zu passen, in die ihre Eltern sie pressen wollen. Das subtil grausame psychologische Drama nimmt gut ein Drittel des Buches ein, sodass man beinahe erleichtert aufatmet, als die beiden Heldinnen einen alten Koffer öffnen und den Zugang zu einem düsteren Moor finden, das direkt einem alten Hammer-Horrorfilm entsprungen sein könnte. Doch der blutdürstige Herr dieser Welt hat ebenfalls eigene Pläne mit ihnen und so wählen die beiden Schwestern extrem unterschiedliche Wege, um zwischen Vampiren und verrückten Wissenschaftlern ihren Platz zu finden.

Down Among the Sticks and Bones © TOR BOOKS
Down Among the Sticks and Bones © TOR BOOKS

Sticks and Bones ist das absolute Highlight der Reihe, schon, weil hier die Kurzform der Novelle erstmals besondere Erzähltechniken erfordert. Eine magische Kriminalgeschichte ist auf 150 Seiten leicht erzählt, aber eine ganze Welt darin unterzubringen bedarf hingegen einer behutsamen Auswahl. Die Hintergrundgeschichte zweier bereits bekannter Figuren wird erzählt als sei sie ein Märchen, mit starker Leseführung und einer deutlich kommentierenden Erzählstimme, die es so im ersten Band noch nicht gab. McGuire verabschiedet sich davon, die Handlung in den Vordergrund zu stellen. Die einzelnen Abenteuer treten zurück und verbleiben in bloßer Andeutung. „It would become quickly dull“, weiß die Erzählstimme, „recounting every moment, every hour the girls spent, one in the castle, one in the windmill.“ – „Es würde schnell langweilig werden, jeden Moment, jede Stunde wiederzugeben, welche die Mädchen verlebten, die eine im Schloss, die andere in der Windmühle.“ Das eigentliche Drama, die immer wieder gehemmte und nun endlich stattfindende Persönlichkeitsentfaltung der beiden Protagonistinnen, wiegt schwerer als beliebige Details, welche die Leserschaft sich letztendlich selbst ausdenken kann. Eine ausführliche Nacherzählung würde nur vom eigentlichen Thema, von der wirklich wichtigen Geschichte ablenken. So bleiben in beinahe schmerzhaft schöner Sprache die Ereignisse mehrerer Jahre nur knapp skizziert, um zu dem Punkt zu gelangen, an dem das Verhältnis der beiden Schwestern auf die Probe gestellt wird.

Weshalb fühlt sich das Moor beim Lesen dennoch realer an als so manche Fantasywelt, die über hunderte von Seiten beschrieben und ausgearbeitet wird? In gewisser Weise arbeitet McGuire hier wie auch in den anderen Novellen mit den Archetypen verschiedener phantastischer Welten. Jenseits der Wayward Children-Türen liegen die Welten, auf denen all unsere Geschichten basieren, was bedeutet, dass wir sie im Prinzip bereits kennen. Das Moor ist das klassischer Horrorsetting, welches wir aus einem Film der 1950er mit Christopher Lee und Peter Cushing erwarten würden. Wir kennen seine Atmosphäre, wissen um seine Regeln und McGuire bestätigt diese Ahnungen so geschickt, füllt sie so eloquent mit Leben, dass ihre Fantasie mit der unseren verschmilzt. So wird gemeinsam der Eindruck einer großen Romanwelt erzeugt, obwohl nur wenige Worte darauf verwendet wurden, sie zu beschreiben. Damit nutzt sie, was viele AutorInnen vergessen: Die Schöpfung einer Welt ist nicht die Aufgabe der SchriftstellerIn allein, sondern eine gemeinsame Aufgabe; wenn man sie lässt, bringen LeserInnen ebenso viel von sich selbst mit ein. Wo andere die Fantasie ihrer Leserschaft ersticken, indem sie die Welt bis ins kleinste Detail beschreiben und so verschließen, öffnet McGuire ihnen die Tür, um ihrer Geschichte eigene hinzuzufügen. Jeder kann auf Basis der wenigen Andeutungen seine eigenen Abenteuer erfinden, die Jack und Jill während der Jahre im Moor erlebt haben.

Innere Konflikte und innere Kinder

Dementsprechend fühlt es sich literarisch ein wenig an wie ein Schritt zurück, wenn McGuire im dritten Band Beneath the Sugar Sky die Erzählung aus Band eins wiederaufnimmt und die BewohnerInnen von Eleanor Wests Internat – verbotenerweise – auf eine neue gemeinsame Quest schickt. Es geht in eine bunte Nonsens-Welt, die vor allem aus Süßigkeiten zu bestehen scheint. Auch sie ist vertraut, eine Mischung aus Schlaraffenland und Sugar Rush, doch die Handlung ist insgesamt sehr viel konventioneller, wenngleich ganz bezaubernd.

In an Absent Dream © TOR BOOKS

Dafür kehrt im Jahr darauf in In an Absent Dream wieder die Einzelgeschichte eines Kindes zurück, das seinem Charakter gemäß den Zugang zum Goblinmarkt findet. Dort muss jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden und jede Handlung hat ihren Preis, zugleich kann alles käuflich erworben werden kann. Protagonistin Lundy ist das erste Kind der Reihe, das sich nicht entscheiden kann zwischen einem Leben in der neuen Welt, die zu ihr passt und in der sie schnell Freunde findet, und dem einsamen Leben mit ihrer Familie, die sie trotz allem sehr liebt. So ist sie gezwungen, mehrfach hin und her zu reisen, bis sie schließlich einen schrecklichen Preis zahlen muss. Wieder ist die eigentliche Handlung ein innerer Konflikt, wieder geht es um die Überforderung eines Kindes, das verkannt wurde und nun unter den Folgen zu leiden hat. Und wieder werden die großen Abenteuer, die Lundy und ihre Freunde zwischen den Kapiteln erleben, lediglich angedeutet, weil sie ausführlich dargelegt nur kleiner werden würden.

Die Erzähltechnik, viele Einzelabenteuer zu suggerieren, aber nur einer einzigen Haupthandlung zu folgen, ist beileibe nicht neu. Sie ist auch kein Alleinstellungsmerkmal von Novellen, sondern wird ebenso in vielen Romanen angewendet. Wenn im Herrn der Ringe Ereignisse aus dem ersten Zeitalter angedeutet werden oder in Harry Potter kleine Einblicke in die Jugend von Harrys Vater gegeben werden, lädt dies die Leserinnen und Leser dazu ein, sich fantasievoll an der Welt zu beteiligen und von ungeschriebenen Geschichten zu träumen: Ereignissen, die mit der Haupthandlung nichts zu tun haben, einen aber immer fester an deren Welt binden. McGuire aber nutzt diese Technik, um das wesentliche – die inneren Konflikte und Persönlichkeitsentwicklungen– vom unwesentlichen – den Handlungs- und Actionsequenzen – zu trennen. Es gibt nur eine begrenzte Menge an Arten, auf die der große Showdown gegen eine monströse Wespenkönigin verlaufen kann und belesene Fantasyfans wird letztendlich keine davon überraschen. Daher lässt McGuire den Kampf einfach weg, sodass jeder sich seine Lieblingsversion ausdenken kann. Was dann bleibt, ist das individuelle Verhältnis einer Figur zu der Welt, in der sich ihr Charakter spiegelt.

Seanan Mcguire © Photo by Beckett Gladney

Und hier werden Leserin und Leser ein zweites Mal gefordert: Der Einblick in die Innenwelt der Figuren und die Erkenntnis, wie McGuire ihren individuellen Eigenschaften in den Regeln, die jenseits der magischen Türen gelten, Ausdruck verleiht, ist auch eine Einladung zur Introspektion und Bestandsaufnahme der eigenen kindlichen Qualitäten. War ich ein ernstes oder ein fröhliches Kind? Wäre meine Welt einen Nonsens-Welt gewesen? Was hätte hinter meinem Wandschrank, meinem Koffer, meiner Tür gelegen? All diese Fragen gehen viel tiefer als die Floskel vom inneren Kind, sie zwingen einen, Kinder allgemein und auch das Kind, das man selber war, ernst zu nehmen. So macht McGuire einen nicht nur zum Komplizen ihrer Erzählweise, sondern regt einen zudem zur heimlichen Autorschaft der eigenen Geschichte an, zur Suche nach der verborgenen Türöffnung im eigenen Herzen. Und das gelingt am besten, wenn der Text einen nicht erschlägt, sondern sich kurzgefasst zurückhält – in Form einer Novelle. Da ist es beinahe schade, dass die ersten drei Bände inzwischen bei Fischer Tor auf Deutsch erschienen sind, jedoch zusammen veröffentlicht und so gewissermaßen als Roman vermarktet wurden. So kann die deutsche Phantastik sich zwar an McGuires wunderschönen Geschichten erfreuen, das Potential von Novellen dürfte ihr aber weiterhin verborgen bleiben.

Die Novelle Every Heart a Doorway:

  • Verlag: Macmillan
  • Autorin: Seanan McGuire
  • Erscheinungsdatum: 16. Mai 2016
  • Sprache: Englisch
  • Format: gebunden
  • Seitenanzahl: 176
  • ISBN: 978-0-7653-8550-5
  • Preis: 13,89 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, idealo, Amazon, (Auch auf Deutsch, übersetzt von Ilse Layer)

Artikelbilder:  © TOR BOOKS, © Macmillian, © Beckett Gladney.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein