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Vor einem Jahr verwüstete ein Feuersturm die Welt. Nun steht die endgültige Vernichtung der Menschheit bevor, wenn der Messias des Melqart in Washington, D. C., das Licht der Welt erblickt. Eine Gruppe Überlebender machte sich auf den Weg, um das zu verhindern.

Apocthulhu, das Rollenspiel in der Postapokalypse des Cthulhu-Mythos, lässt seine Charaktere – die es „Überlebende“ nennt – durch verwüstete Landschaften voller wahnsinnerzeugender Schreckensgestalten stolpern, in der meist irrigen Hoffnung, dass die Welt vielleicht doch noch irgendwie zu retten sei. Diese Voraussetzung klingt schon mal spannend. Wir haben das System für euch angespielt. Ob es den erhofften Spaß brachte, lest ihr hier.

Die Spielwelt: Verbrannte Erde

Machtübernahme der Großen Alten, nuklearer Overkill durch die Kultisten Nyarlathoteps oder der Einfall außerirdischer Schattenwesen: Apocthulhu bietet eine ganze Reihe von Möglichkeiten, wie das cthuloide Weltende gekommen sein könnte. Für den hier folgenden Spieltest haben wir uns ein Apokalypsenszenario ausgesucht, zu der im Grundregelwerk ein Abenteuer enthalten ist: Die Feuer von Melqart. In diesem Setting hat der Kult des Gottes Melqart – der zum letzten Mal vor zwei Jahrtausenden im heutigen Libanon eine große Nummer war – im frühen 21. Jahrhundert eine bedeutende Anhänger*innenschaft gewonnen. Mit teuren Werbeanzeigen und klugem Marketing verbreitete der Hohepriester die Botschaft vom bevorstehenden Ende der Welt im Feuer, von dem nur die Gläubigen Melqarts verschont bleiben sollten. Was dann, zur großen Überraschung selbst vieler, die sich dem Kult angeschlossen haben, tatsächlich passiert. Kleine Feuerbälle, die im Setting „Kinder des Melqart“ genannt werden (aber in Beschreibung und Werten stark den aus anderen Cthulhu-Varianten bekannten Feuervampiren ähneln), fielen am angekündigten Datum wie Sternschnuppen vom Himmel und verbrannten so gut wie die gesamte Menschheit. Die wenigen Überlebenden – von denen die meisten mit mehr oder weniger Überzeugung dem Kult angehörten – haben das vergangene Jahr jeweils zu sechst in einem von etlichen unterirdischen Schutzbunkern verbracht, die in ihrer Beschreibung ein wenig an die Netflix-Serie Unbreakable Kimmy Schmitt erinnern.

Die Außenwelt ist eine lebensfeindliche, vom Feuer versehrte Ruinenlandschaft, in der die Sonne von dichten Rauchschwaden verdeckt wird und Nahrung, Wasser und andere lebenswichtige Ressourcen nur schwer zu finden sind. Noch dazu besteht die Gefahr, lebendigen, intelligenten Feuerwesen zu begegnen, die bisweilen auch Menschen angreifen. Wie schon im Ersteindruck zu Apocthulhu beschrieben, lehnt sich das Regelsystem stark an andere W100-Systeme für Cthulhu an. Bei Charaktererschaffung können Spieler*innen die sechs Attribute auswürfeln oder mit Punkten verteilen, während Fertigkeiten sich teilweise am Archetyp – also in etwa der Klasse – des Charakters orientieren. Den Rest bestimmt die Umgebung. Je nach Unwirtlichkeit der jeweiligen Postapokalypse erhalten die Überlebenden weitere Fähigkeiten, Abzüge auf geistige Gesundheit und Anpassungen ihrer Attribute. Das Setting dieses Abenteuers ist als „sehr hart“ eingestuft.

Spielbericht: Die Mülltonne der Vorsehung

Das für diesen Spieltest ausgewählte Abenteuer von Jeff Moeller trägt den Titel Kick the Can. Die SC gehören zu den wenigen „Glücklichen“, die der Kirche von Melqart beigetreten sind und den Feuersturm auf den Planeten Erde überlebt haben – auch wenn sie dem Kult des alten Gottes nicht zwangsweise mit voller Überzeugung anhängen. Das Abenteuerszenario enthält sechs fertige Charakterbögen, also eine komplette Bunkerbesetzung. Es ließe sich theoretisch auch mit selbst erstellten Charakteren spielen, unter der Voraussetzung, dass mindestens einer der SC mit Saoirse Sullivan, einer irischen Austauschstudentin, die ebenfalls in die Kirche Melqarts eingetreten ist, befreundet ist. Saoirse (ausgesprochen: Ser-scha) hat im folgenden Plot noch eine Rolle zu spielen, auch wenn sie nicht unter den Überlebenden im Schutzbunker ist.

Das Setting hat den Vorteil, dass es in einer nahen Zukunft spielt, die vom Technologielevel der Jetztzeit ausgeht. Daher ist die Eingewöhnungszeit in die Spielwelt minimal und kreative Ideen fließen leichter als in Welten, die erst langwierig erklärt werden müssen. Meine Gruppe wählte drei der vorgefertigten Charaktere zum Spielen aus, die übrigen drei kamen als NSC mit. Startpunkt ist ein beliebiger Ort in Nordamerika (wir entschieden uns für Chicago), denn die Überlebenden aus dem Bunker sollen mit Fahrrädern nach Washington, D.C. kommen, wo der Melqart-Kult sein Hauptquartier eingerichtet hat. Hier plant der alte Gott seine Wiederkehr und die endgültige Vernichtung der Menschheit – hier besteht aber auch die Möglichkeit, ihn aufzuhalten und aus dieser Dimension zu verbannen.

Davon erfahren die Überlebenden durch Nachrichten auf ihrem CB-Funkgerät, das sie mit einer Kurbel betreiben. Der Hohepriester und seine Entourage rufen die „Gäubigen“ zum Washington Monument, um der bevorstehenden Geburt von Melqarts Messias beizuwohnen. Doch das Gerät empfängt noch Seltsameres: Einige der Funksprüche scheinen Wissen darüber zu haben, wie die dezimierten Reste der Menschheit noch gerettet werden können.

Hinweise

Auf dem Weg nach D.C. findet die Gruppe mehr und mehr Hinweise, dass jemand aus der Zukunft ihr eine Anleitung dazu gibt, Melqart zu besiegen – bis die Charaktere herausfinden, dass sie es selbst sind.

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Dadurch erklärt sich rückblickend, warum ihre Freundin Saoirse vor ihrem Verschwinden mit wissendem Blick die Mülltonne umgetreten hat, die dem Abenteuer den Namen gegeben hat.

Spielbarkeit aus Sicht der Spielleitung

Das Abenteuer folgt einem relativ geradlinigen Plot. Die Gruppe hat ein eindeutiges Ziel und einen ziemlich einfachen Weg dorthin. Entlang des Weges reihen sich Begegnungen wie Perlen auf einer Kette, von denen jede einzelne einen Erkenntnisgewinn bringen kann. Der Twist, dass die Überlebenden tatsächlich von einer Art Vorsehung geleitet werden, die auf selbsterfüllenden Prophezeiungen basiert, gibt der Geschichte das gewisse doppelbödige Etwas.

Apoc_2Das Abenteuerszenario bietet zudem die Möglichkeit, zusätzlich nach Informationen zu suchen, worauf meine Spieler*innen verzichtet haben. In diesem Fall blieb es der Spielleitung vorbehalten, zu wissen, dass das Abenteuer einen recht gut durchdachten Hintergrund hat. Als Altorientalistin hat mir persönlich auch der phönizische Gott Melqart als Gegner gefallen. Der Autor spielt mit biblischen Motiven und inszeniert das Abenteuer als eine Art cthuloide Weihnachtsgeschichte (es gibt sogar die Option, dass einer der weiblichen Charaktere zu Beginn des Spiels schwanger ist).

Auch ohne Abstecher in die Bibliothek schaffte es die Gruppe, mit Wissen und passendem Werkzeug zum Endkampf in D. C. zu radeln. Das Szenario bezieht die Möglichkeit ein, dass der Plot nicht gelöst wird, und beschreibt verschiedene Folgen, das Spiel dennoch weiterzuführen.

Spielbarkeit aus Spieler*innensicht

Menschen, die mit dem W100-Regelwerk der neueren Editionen von Cthulhu bekannt sind, ist die Charaktererschaffung recht leicht zu erklären. Daher waren auch die vorgefertigten Charakterbögen verhältnismäßig intuitiv zu verstehen. Jede*r der Überlebenden hatte zudem eine eigene kurze Hintergrundgeschichte, die das Rollenspiel vereinfachte. So konnte die Gruppe ohne viel Vorbereitung direkt in die Geschichte einsteigen, was für den One-Shot sehr praktisch war.

Das Spiel selbst gestaltete sich recht narrativ. Außer in den gelegentlichen Kämpfen musste nicht zu viel gewürfelt werden, aber auch nicht zu wenig. Kämpfe zwischen menschlichen Charakteren sind kurz, aber heftig – schon allein, weil Trefferpunkte (sofern sie Menschen, Tiere oder nur kleine Monstrositäten sind) meist nur gerade so im zweistelligen Bereich liegen. Diesen Wert können manche Waffen schon in einer Runde überschreiten. Bei größeren Monstrositäten sieht das vermutlich anders aus, aber in diesem Fall ist der Kampf dann aus anderen Gründen schnell vorbei.

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Die Spieler*innen zeigten sich etwas enttäuscht über die Auflösung des Saoirse-Subplots. Anstatt als spannende NSC kam die im Szenario vorgesehene Freundin letztlich nur als eine Art MacGuffin vor. Ansonsten wurde das Finale des Plots aber positiv aufgenommen. Als kleiner Wermutstropfen kann gesehen werden, dass die SC es zwar schafften, die Welt zu retten, dabei aber ihre eigenen Leben ließen, was im Abenteuerszenario so nicht vorgesehen war. Andererseits, wer geht bei einem cthuloiden Weltuntergangsszenario schon vom Überleben des eigenen Charakters aus?

Die harten Fakten:

  • Verlag: Cthulhu Reborn
  • Autor(en): Dean Engelhardt, Jo Kreil, Jeff Moeller et al.
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: Englisch
  • Format: PDF
  • Seitenanzahl: 323
  • ISBN: –
  • Preis: 22,95 USD – 60 USD
  • Bezugsquelle:  Fachhandel, DriveThruRPG

 

Bonus/Downloadcontent

Zum Grundregelwerk wurden zwei PDF-Dokumente mit Materialien für die beiden vorgeschlagenen Abenteuer geliefert. Das Dokument für Kick the Can enthält Informationen zum Szenario, die als Handouts nach und nach ausgeteilt werden sollen, sowie sechs vorgefertigte Charaktere. In Zeiten des coronabedingten Discord-Spiels hätte man sich gewünscht, dass die verschiedenen Teile jeweils als einzelne Dokumente vorhanden wären, aber die ursprüngliche Idee war wohl, dass das ganze Dokument ausgedruckt und persönlich an die Spieler*innen verteilt wird.

Weitere Informationen und ausfüllbare Charakterbögen sind unter https://cthulhureborn.wordpress.com/support/support-apocthulhu/ zu finden.

Fazit

Nach dem Weltuntergang ist vor dem Weltuntergang. Was schon als Motto für die Grundidee von Apocthulhu gelten kann, passt erst recht auf das Abenteuerszenario Kick the Can. Ein Jahr, nachdem Feuerwesen im Dienste des alten phönizischen Gottes Melqart den Großteil der Erde zu Asche verbrannt und in eine lebensfeindliche Wüstenei verwandelt haben, soll das Werk mit einem großen Ritual in Washington, D.C., vollendet werden. Dort nämlich wird der Messias des Melqart geboren – um, so ist anzunehmen, der Menschheit den Rest zu geben. Eine kleine Gruppe Überlebender, gewappnet mit dem Mut der Verzweiflung und prophetischem Wissen, macht sich auf, dies zu verhindern. Auf dem Weg finden sich viele Anspielungen auf biblische Erzählungen und Archäologie – ganz im Sinne H.P. Lovecrafts, allerdings ohne dessen Rassismus.

Kick the Can ist ein recht gut durchdachter, geradlinig gestrickter One-Shot, der im Grundregelbuch von Apocthulhu enthalten ist und sich gut eignet, um das Kampf- und Würfelsystem des Rollenspiels kennezulernen. Auf W100 basierend und auch sonst klassischeren Cthulhu-Rollenspielen recht ähnlich, ist Apocthulhu narrativer, als man es von diesen gewöhnt ist. Es wird zwar gewürfelt, wenn es darauf ankommt, aber nicht zu viel. Kämpfe sind kurz, enden aber schnell tödlich. Die düstere Stimmung eines Horrorsystems mischt sich mit postapokalyptischem Überlebenswillen. Das bringt Spielspaß – es wird nicht unsere letzte Runde Apocthulhu gewesen sein.

Artikelbilder: © Cthulhu Reborn Publishing
Layout und Satz: Annika Lewin
Lektorat: Lukas Heinen
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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