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Von Berlin über Breslau und Danzig nach Königsberg und in die ostpreußische Wildnis – in den 1920er-Jahren führt die Cthulhu-Kampagne Grenzland die Spieler*innen auf eine unheilvolle Reise an den Rand der Zivilisation und an die Grenzen der Menschlichkeit. Wir haben uns den Band angeschaut.

Eine neue lange Kampagne für Cthulhu, die im Deutschland der 1920er-Jahre spielt, wurde sich laut Chefredakteur Heiko Gill schon länger von den Spieler*innen gewünscht, wie er uns vor einigen Wochen im Interview verriet. Grenzland soll diesen Wunsch nun erfüllen. Die Kampagne beginnt in Berlin und führt die Spielrunde immer weiter nach Osten, in alte Städte und die abgelegensten Gebiete der Weimarer Republik. Dort, zwischen Tradition und Moderne, wächst ein Grauen heran, das sowohl monströs als auch zutiefst menschlich ist. Ein Grauen, das aufgehalten werden muss.

Eine Reise ins Grenzland

Die Spieler*innen schlüpfen in die Rollen von Charakteren, die sich zu Beginn ihres Abenteuers in einer misslichen Lage befinden. Noch wissen sie nicht, dass dies erst der Anfang einer Reise ist, die sie nicht nur an die Grenzen des Deutschen Reiches, sondern auch ihrer eigenen Belastbarkeit führen wird. Grenzland ist ein langes und kräftezehrendes Abenteuer. Wer schon einmal Cthulhu gespielt hat, weiß wie zerbrechlich die Spielfiguren sind. Wer sich schon einmal durch eine Kampagne wie Horror im Orient-Express gekämpft hat, mag dabei mehr als ein Charakterblatt verschlissen haben.

Im Fall von Grenzland kann dies jedoch zu einem Problem in dem Sinne werden, dass im Band nicht auf die Einbindung von neuen Charakteren in die laufende Kampagne eingegangen wird, sollte es zum vorzeitigen Ableben einer Spielfigur kommen. Da die ursprüngliche Gruppe aufgrund ihrer Vorgeschichte eine Motivation hat, immer weiter nachzuforschen, stellt sich bei Neuzugängen natürlich die Frage, warum diese sich den Gefahren stellen sollten. Der Spielleitung und den Spieler*innen wird dazu sicherlich was einfallen, Anregungen im Band wären aber hilfreich gewesen. Vorgefertigte Charaktere, wie bei vielen aktuellen Cthulhu-Abenteuern üblich, liegen übrigens nicht bei. Die Spieler*innen können für diese fordernde Kampagne ihre Runde voll und ganz selbst gestalten.

Was plant der Kult hinter den Kulissen?

Ein gemeinsames Schicksal verbindet die Spielfiguren

Ohne Details der Handlung zu verraten, sei diese grob an dieser Stelle vorgestellt. Wer mehr erfahren möchte, wird im Spoilerkasten weiter unten fündig. Grenzland beginnt damit, dass die Spielfiguren sich gemeinsam in einer gefährlichen und undurchsichtigen Situation wiederfinden. Nur durch Zusammenarbeit können sie sich daraus befreien und darauffolgend im Berlin der 1920er-Jahre auf Spurensuche gehen, um mehr über die Antagonisten zu erfahren. Dieser offen gehaltene Teil bietet Raum für eigenständige Recherchen in der pulsierenden Metropole. An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass sich Grenzland an motivierte Spieler*innen richtet, die Eigeninitiative zeigen. Wer sich gerne berieseln lässt und einer vorstrukturierten Handlung folgen will, wird in der Kampagne nicht glücklich werden.

Zwar beinhaltet auch Grenzland Szenen, in denen nur wenige Interaktionsmöglichkeiten gegeben sind, sowie NSCs, die möglichst nicht vor einem bestimmten Zeitpunkt ausgeschaltet werden sollten, doch insgesamt bietet die Kampagne viel Raum für eigene Geschichten und Entscheidungen. Auf diese Weise wird die Reise der Spielfiguren umso fordernder und tiefgehender, was dem Motiv der Fahrt bis zur Grenze äußerst dienlich ist.

Bis an die Grenzen der Menschlichkeit

Diese Reise führt nach Breslau, das heutige Wrocław. Damals noch Hauptstadt der preußischen Provinz Niederschlesien, stoßen die Spielfiguren dort schnell auf die Spuren einer brutalen Mordserie und mit nationalistischen Kriegstreibern aneinander. Grenzland ist in diesen Punkten Fiktion, fängt aber den unterschwelligen Wahnsinn jener Zeit ein, in dem Revanchisten Waffen sammeln und die kriselnde Wirtschaft zahllose verzweifelte Menschen in die Arme vermeintlicher Heilsbringer treibt. Über die Freie Stadt Danzig geht es nach Königsberg und schließlich in die ostpreußische Wildnis, fernab jeder Zivilisation.

In den Wäldern Ostpreußens liegt ein ungeahnter Schrecken verborgen…

Grenzland lebt vom Spiel mit Klischees und Übertreibungen. Der nationalistische Flügel des Kults nutzt Symbole und Namen der germanischen Mythologie, in deren Ästhetik bereits die Pervertierung im Dritten Reich hervorblitzt. Die Magnat*innen, auf die man in der Freien Stadt Danzig trifft, sind dekadent und amoralisch, die Bürger*innen bieder und bigott, die Massen leicht zu verführen und gewaltbereit. Alle sind sie verroht und hilflos im Angesicht des Grauens, das im Untergrund der Städte und in dichten Wäldern unbemerkt und doch erkennbar wächst. Umso wertvoller sind die wenigen Verbündeten, die die Charaktere treffen.

Insgesamt ist die Anzahl der NSCs in Grenzland sehr hoch. Ohne viel vorweg zu nehmen, führt die Kampagne die Charaktere durch die kriminelle Unterwelt, zu Drogenhändlern in gehobenen Schichten, ins Visier eines Geheimdienstes und einer Terrororganisation, sowie zu vielen weiteren interessanten Figuren. In diesem Punkt muss die Spielleitung sehr wahrscheinlich etwas nachsteuern, damit die Spieler*innen nicht die Übersicht verlieren, zum Beispiel durch das Erstellen von Handouts. Praktisch ist, dass am Anfang jedes Kapitels etwa ein Dutzend relevanter NSCs aufgezählt werden, mitsamt kurzer Beschreibung und dem Hinweis, ob sie das Kapitel überleben müssen oder sterben dürfen.

Eine lange und fordernde Kampagne

Fünf Kapitel umfasst Grenzland. Am Ende der Kampagne müssen die Spielfiguren ihr gesamtes Können aufbieten, um den Tag zu retten. Die eingangs gestellte Frage danach, wie mit dem vorzeitigen Ableben von Spielfiguren umgegangen werden kann, stellt sich insbesondere in Hinblick auf die zweite Hälfte des Bandes. Die Kampagne wird zunehmend tödlicher und angesichts der wachsenden Übermacht der Antagonist*innen scheint es unwahrscheinlich, dass zerbrechliche Cthulhu-Charaktere überhaupt eine Chance haben. 

Werden die Spielfiguren ihre geistige Stabilität bis zum Ende behalten?

Der Kult, der in Grenzland den Gegenspieler darstellt, ist nämlich im Verborgenen bereits gewachsen und sehr mächtig. Die Anführer*innen sind keine Amateure mit okkulten Interessen, sondern skrupellose Expert*innen. Entsprechend sollten wie die Spielleitung auch die Spielenden mit dem System vertraut sein, um die Möglichkeiten vollends auszuschöpfen. Gerade der fordernde Charakter der Kampagne ist es aber auch, der ihr einen besonderen Reiz verleiht.

Achtung Spoiler, lesen auf eigene Gefahr!

So, und du willst nun erfahren, was es mit diesem Kult auf sich hat? Gut, du wolltest es so. In Grenzland geraten die Spieler*innen an einen Kult, der Shub-Niggurath verehrt und etwa 20 Jahre zuvor von einer Clique Jugendlicher gegründet wurde, die gemeinsam ein Internat in der ostpreußischen Einöde besucht hat. Inzwischen sind die Kultist*innen hinlänglich mächtige Figuren in Wirtschaft, Militär und Wissenschaft. Vor allem in der Region sind sie bestens vernetzt und verfügen über eine beachtliche Schlagkraft. Ein ganzes Freikorps hat sich dem Kult unterstellt, der zu seinem Schutz auch einige Dunkle Junge von Shub-Niggurath dauerhaft beschworen hat. Zu den Hörigen des Kults gehören auch mehrere Gestalten in der Halbwelt Berlins und ein angesehener Arzt an der Charité.

Von ihm werden die Charaktere wegen einer Verletzung behandelt und damit unwissentlich Teil der abartigen Experimente, die der Arzt im Auftrag des Kultes durchführt. Er näht ihnen jeweils Stücke der „Haut der Ziege“ ein, die er von seinen Oberen erhält und die von den monströsen Dunklen Jungen stammen, die dem Kult dienen. Die Kampagne beginnt damit, dass die Charaktere für weitere Experimente entführt worden sind und gemeinsam fliehen müssen.

Eine komplette Inhaltsangabe würde den Rahmen dieser Rezension sprengen. Die Kampagne führt die Charaktere immer näher an die Basis des Kults, zu dessen Versuchskaninchen sie geworden sind. Die Oberhäupter des Kultes verfolgen selbst unterschiedliche Ziele, letztlich geht es aber darum, den perfekten Menschen zu schaffen und zu Kriegszwecken einzusetzen. Mit der dadurch gewonnenen Macht soll von Königsberg aus zuerst Ostpreußen und schließlich ganz Europa unterworfen und auf die Ankunft Shub-Nigguraths vorbereitet werden.

Unter den hörigen Freikorps-Soldat*innen gibt es bereits zahlreiche Freiwillige, sodass die Charaktere sich immer wieder mit wahnsinnig gewordenen Versuchsobjekten auseinandersetzen müssen und aus ihrer Sicht lange unklar bleibt, ob es sich um genetische Experimente oder magische Rituale handelt. Dass diese Grenze bisweilen verschwimmt, ist ein mächtiges lovecraftsches Motiv, das sich durch die Kampagne zieht.

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Das Auge spielt mit – Das Erscheinungsbild

Die Karte von Schwarzkalden ist bei den kostenlosen Handouts verfügbar.

Grenzland setzt hinsichtlich der Gestaltung von Cthulhu-Bänden neue Maßstäbe. Der vollfarbige Hardcover-Band mit geprägten Buchdeckeln macht einen äußerst hochwertigen Eindruck. Für jede wichtige Location gibt es eine handgezeichnete Karte; passende Fotografien aus den 1920er-Jahren mit Sepia-Stich sorgen für die weitere Bebilderung. Sämtliche Karten finden sich im Anhang am Ende des Bandes. Anstatt sie daraus zu kopieren, ist es aber praktischer, sie bei Pegasus Spiele herunterzuladen. Dass eine Karte des deutschen Ostens der 1920er-Jahre fehlt, ist schade, aber Meckern auf hohem Niveau.

Insgesamt ist der Band ansprechend gestaltet und gesetzt. Infokästen sorgen bei gesonderten Themen für eine gute Übersicht. Auch wenn es bei Kampagnen eher ungewöhnlich ist, hätte ein Index sicherlich sehr geholfen. An dieser Stelle sei übrigens angemerkt, dass die PDF-Version und das Hardcover den gleichen Preis haben, was etwas irritiert, wenn man den hochwertigen Band vorliegen hat.

Etwas überraschend ist es, dass man auf der ersten Seite direkt von einer abgespeckten Schwarzen Sonne begrüßt wird. Dieses Symbol aus der Zeit des Nationalsozialismus lässt einen zwar zunächst stutzen, erklärt sich aber aus der Symbolik, die der Kult verwendet, um den es in Grenzland geht.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Pegasus Spiele
  • Autoren: Sebastian Weitkamp, Marcel Durer, Stefan Franck, Sascha Hillenkamp, Uwe Weingärtner
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: Deutsch
  • Format: PDF / Hardcover
  • Seitenanzahl: 184
  • ISBN: 978-3-96928-004-1
  • Preis: 24,95 Euro (PDF) / 24,95 Euro (Hardcover)
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, Pegasus Spiele, Sphärenmeister, idealo

 

Fazit

Grenzland ist eine Kampagne geworden, die trotz aller Klischees über skrupellose Kultist*innen und tiefe Wälder unverbraucht und unterhaltsam wirkt. Dass mit dem deutschen Osten ein Schauplatz gewählt wurde, der bisher nur äußerst selten in offiziellen Publikationen vorkam, mag seinen Teil dazu beitragen. Sie ist aber auch fordernd und gnadenlos. Erfahrene Cthulhu-Spieler*innen mögen es vielleicht schaffen, sie mit jeweils einem einzigen Charakter durchzuspielen, dies erfordert jedoch viel Umsicht und Planung. Dennoch macht gerade diese schwelende Gefahr die Kampagne aus.

Auf der Reise an die Grenze der Zivilisation, auf der Gradwanderung zwischen Tradition und Moderne, an den Bruchstellen der Gesellschaft, blitzt immer wieder die hässliche Fratze des Kults hervor, der nicht nur den Spielfiguren nach dem Leben trachtet, sondern eine handfeste Bedrohung für die ganze Region und darüber hinaus darstellt. Da sich nur die verletzlichen Charaktere dieser urwüchsigen Macht entgegenstellen, entsteht eine zerbrechliche Epik, die der Kampagne auch eine melancholische Note verleiht.

Das einzige Manko, ist die, selbst für lange Kampagnen, ungewöhnlich hohe Dichte an Informationen und NSCs, die schnell für Unübersichtlichkeit sorgen kann. In diesem Punkt ist die Spielleitung gefragt, den Inhalt adäquat für den Spieltisch aufzubereiten. Genau wie bei den Spieler*innen sollte es sich also um eine mit Cthulhu erfahrene Person handeln. Wer sich aber dieser Herausforderung stellt, wird eine stimmige und fordernde Cthulhu-Kampagne erleben, die lange im Gedächtnis bleibt.

 

Artikelbilder: © Pegasus Spiele, © photocosma, © everett225 | depositphotos.com
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Alexa Kasparek
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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