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Roll20, Foundry oder Astral. Die Möglichkeiten, eigene Pen-and-Paper-Runden online zu gestalten sind heute vielfältiger denn je. Gerade auch wegen verschiedenster Helferlein, wie zum Beispiel Inkarnate. Mit Talespire kam kürzlich ein weiterer Prätendent für den digitalen Rollenspielthron auf den Markt. Hier stecken Handwerkszeug und Karten in einem. Kann diese Kombi gelingen?

Bisher waren Karten- und Spieltischtools mehr oder weniger zwei verschiedene paar Schuhe. Klar, Kartenbau funktioniert auch in Programmen wie Roll20 oder Foundry. Oft wird aber parallel weitere Unterstützung in Form von (Karten-)Software wie Inkarnate, Dungeondraft oder dem Campaign Cartographer 3 hinzugezogen.

Die Tatsache, dass Talespire, welches im April nach einer langen Closed-Beta-Phase erschien, beide Aspekte verbindet, scheint daher nur logisch. Obwohl sich das Produkt noch im Early Access befindet, lassen sich schon jetzt mystische Wälder, verlassene Schatzinseln und lebendige Städte erschaffen. Dazu kann mit verschiedensten Miniaturen gekämpft, gewürfelt sowie die Spielwelt durch Musik und Ambiente-Optionen verschönert werden. Ob dabei ein harmonisches Zusammenspiel herauskommt, erfahrt ihr in diesem Tooltest.

And I would map 500 tiles – Die Grundlagen von Talespire

Schon zu Beginn einer neuen Kampagne hebt sich Talespire von den Konkurrenzprodukten ab: Statt auf ein kostenloses Grundgerüst mit der Möglichkeit eines Premium-Abonnements zu setzen, ist es eine kostenpflichtige Software. Alle Spielenden müssen das Programm einmalig für gut 20 Euro erwerben, um einer Kampagne per Passwort beizutreten, die eigene Figur bewegen zu können und somit Zugang zum gesamten Inhalt zu haben. Inwiefern es zusätzlich kostenpflichtige Kartensets nach Beendigung der Early Access-Phase geben wird, halten sich die Entwickler*innen momentan noch offen. Zum schnellen Ausprobieren reicht es glücklicherweise, wenn die SL über ein Exemplar verfügt und den eigenen Bildschirm für den Rest der Runde überträgt – zum Beispiel mithilfe von Discord.

Talespire verfügt über verschiedene Modi. Der Erkundungsmodus sowie der Kampfmodus sind die, bei welchem die Spielenden die gebauten Kreationen Stück für Stück erkunden, mit Miniaturen über die Karte ziehen und Würfel würfeln. Der Kino-Modus unterscheidet sich nur dahingehend, dass er das Layout ausblendet, um schnell eindrucksvolle Bildschirmschnappschüsse zu ermöglichen. Der*Die Erbauer*in wird viel Zeit, wie sollte es anders sein, im Baumodus verbringen.

Ein Hauch Minecraft, ein Hauch Tabletop Simulator – Kartenbauen in Talespire

Wird eine neue Kampagne erstellt, startet die SL mit einem grauen, leeren Brett vor sich. Mit dem Bau-Menü kann der Tristesse aber schnell Abhilfe geschaffen werden. Wir können entweder nach bestimmten Bausubstanzen suchen, oder uns durch verschiedene Kategorien wie Burg (und Burgruine), Wüstendorf, Kerker oder Taverne inspirieren lassen. Mit seinen knapp 750 verschiedenen Elementen und Gegenständen bietet Talespire bereits im Early Access eine ansehnliche Auswahl für den eigenen Kartenbau. Der Fokus liegt hierbei aber ausschließlich auf Fantasy-Settings. Futuristischere Sets sind zwar für die Zukunft geplant, momentan gehen Cyberpunk- und Sci-Fi-Begeisterte aber leer aus.

Mit den großen Bodenplatten aus dem Natur-Tab lässt sich grob die Spielumgebung eingrenzen. Von nun an arbeiten wir uns vom Allgemeinen ins Spezielle – die ersten Fliesen werden gelegt, Wände gemauert und Bäume gepflanzt. Erst dann folgen Dekorationen.

Die Bedienung ist relativ einfach zu lernen und deutlich weniger hakelig als der Tabletop Simulator. Elemente können frei oder nach Raster gesetzt werden, sind in der Höhe verstell- und drehbar und lassen sich ineinander verschieben. Weiterführend können mit dem Kopieren-Tool die erstellten Kreationen, wie etwa einzelne Häuser, vervielfältigt und zum Beispiel in einen Straßenzug umgewandelt werden.

Damit beim Bauen (und Bespielen) der Karten keine Langeweile aufkommt, lädt Talespire dazu ein, verschiedene Themenblöcke zu mischen. Dies erhöht die Baumöglichkeiten erheblich und ist mitunter auch bitter nötig. Wer beispielsweise einen dichten Wald à la Symbaroum basteln möchte, wird schnell entdecken, wie verhältnismäßig winzig die Auswahl an Flora und Fauna ist. Dafür gibt es aber beispielsweise verschiedenste Stämme, die sich stapeln und später mit mehreren der kleinen Bäume ausstaffieren lassen. Improvisationstalent hilft also nicht nur beim Spielleiten.

Ob es sich um eine schummrige Taverne oder ein edles Gelehrtenzimmer handelt, das entscheidet die Inneneinrichtung, für die sich mitunter genauso viel Zeit aufwenden lässt, wie die eigentliche (Außen-)Umgebung. Nicht nur Bücher, Stühle und umgestoßene Tische, sondern auch die ersten Atmosphäre-Helferlein lassen sich hier finden: Fackeln.

Generell sind die 3D-Texturen und Dinge wie Licht- und Schattenwurf die großen Pluspunkte von Talespire. Sie geben dem Programm etwas im positiven Sinn Videospielartiges und Plastisches. Das Auge spielt eben auch mit.

Das Bauen geht einigermaßen leicht von der Hand, wobei sich einige Verklicker nicht vermeiden lassen. Auch beim Ineinanderschieben von Objekten muss aufgepasst werden, dass keine unschönen Clipping-Fehler auftauchen. Ein freies Drehen der Gegenstände gibt es leider ebenso wenig, vorerst muss sich an das Raster und 90 Grad-Drehungen gehalten werden.

Die kürzlich hinzugefügten Tutorials geben einen guten Überblick der Funktionen. Talespire scheint aber bereits jetzt eines der Programme zu sein, die einfach zu erlernen sind, aber immer wieder Überraschungen in petto haben.

The Sound of Music (and Effects) – Atmosphäre in Talespire

Um die Stimmung am Spieltisch zu perfektionieren, bietet Talespire auch abseits des Kartenbaus einiges an. So lassen sich im Atmosphäre-Reiter über 50 verschiedene Kompositionen auswählen, um besonders epische Szenen zu unterstreichen (zum Beispiel in Kombination mit dem Kino-Modus). Ebenso sind einfache Hintergrundgeräusche, wie eine Schmiede oder ein geschäftiger Marktplatz möglich, um den Spielenden einen akustischen Eindruck ihrer Umgebung zu vermitteln.

Damit die bereits erwähnten Lichteffekte von Talespire noch besser zur Geltung kommen, verfügt die Software außerdem über einen Tag-Nacht-Zyklus, mit welchem sich die SL die Kraft der Sonne (oder die Abwesenheit dieser) zunutze machen kann.

Gerade bei größeren Karten verliert der geneigte Neuling schnell den Überblick, wo man welches Lied spielen oder welche Tageszeit einstellen wollte. Deswegen gibt es verschiedene Hilfsfunktionen, die der SL vorbehalten sind. In SL-Blöcken lassen sich unterschiedlichste Stimmungs-Einstellungen speichern und mit einem Klick aktivieren. Genauso hilft das eigene SL-Layout, welches eine Art „fog of war“ ermöglicht, damit die Spielenden beispielsweise nicht schon am Eingang einer Karte erkennen, wo der Dungeon-Obermotz auf sie wartet.

Insgesamt werden die Atmosphäre-Funktionen das Spiel nicht grundlegend verändern. Aber genauso wie eben am physischen Spieltisch eine Playlist im Hintergrund dudelt oder die SL munter Geräusche imitiert, sind die erweiterten Einstellungen ein schöner Kniff, die eigene Online-Runde zu verfeinern.

In aller Kürze – Stats, Miniaturen und Co.

Neben den beiden großen Themen Bauen und Ambiente verfügt Talespire über viele weitere kleine Funktionen. So können, wie bei Platzhirsch Roll20, Tokens oder hier eben Miniaturen in 3D den taktischen Kampf abbilden. Die momentane Bandbreite an Figurinen ist breit aufgestellt und umfasst Fantasy-Klassiker wie etwa Menschen, Elfen, Zwerge oder Untote. Aber auch exotischere Vertreter wie Halb-Orks oder Riesen lassen sich im Miniaturen-Sammelsurium finden. Diese lassen sich in ihrer Größe verstellen oder können bestimmte Animationen ausführen. Sie werden einfach den SC zugeordnet, die diese dann bewegen und bedienen.

Zusätzlich lassen sich die SC-Manifestationen mit Werten versehen. Bis zu vier Statistiken plus Lebenspunkte können eingestellt werden. Wer bei dem Titel von Bouncyrock aber ausgefeilte Charakterbögen erwartet, wird enttäuscht werden. Ganz ohne Zweitprogramm (oder einen physischen Bogen) kommt auch der Branchen-Neuling (noch) nicht aus. Immerhin gibt es für Würfel-Enthusiast*innen vom W4 bis zum W100 alles, was das Herz begehrt.

Auch für zeitknappe Leitende kann Talespire eine richtige Erleichterung sein. Mithilfe der Community-Plattform TalesBazaar lassen sich durch simples Kopieren via Strg+C/Strg+V ganze Städte oder Encounter-Karten schnell in das eigene Spiel übertragen. Auch gibt es einfache Gebäudepakete (Wohnhäuser, Straßen, …), die sich mit den eigenen Werken verbinden lassen, wenn zumindest etwas Bastelei erhalten bleiben soll.

Die harten Fakten:

  • Entwicklerstudio: Bouncyrock Entertainment
  • Publisher: Bouncyrock Entertainment
  • Plattform: PC
  • Sprache: Englisch
  • Mindestanforderungen:
    • Betriebssystem: Windows 10
    • Prozesor: 64bit
    • Arbeitsspeicher: 4GB RAM
    • Grafik: DX11.2 kompatible Grafikkarte
    • DirectX: Version 11
    • Netzwerk: Breitband-Internetverbindung
    • Speicherplatz: 2GB verfügbarer Speicherplatz
  • Genre: RPG
  • Releasedatum: 15. April 2021
  • Spielstunden: So lange die Inspiration reicht
  • Spieler*innen-Anzahl: Die Größe eurer Pen-and-Paper-Gruppe
  • Altersfreigabe:
  • Preis: 20,99 EUR
  • Bezugsquelle: Steam

 

Fazit- Für wen lohnt sich Talespire zum jetzigen Zeitpunkt?

Talespire ist bereits in seiner Early Access-Phase ein technisch solides Produkt, mit dem sehr ansehnlichen Alleinstellungsmerkmal, fantastische Welten in 3D abzubilden. Das Nonplusultra ist es aber nicht. Der Fokus auf Fantasy hilft, dort tiefgehende Bauoptionen zu bieten, schließt im gleichen Zug aber in der Jetztzeit oder in der Zukunft angesiedelte Welten aus.

Die Mechaniken sind schnell zu verstehen, laden zum Experimentieren und Ausprobieren ein und lassen damit auch über manche noch fehlenden Elemente hinwegblicken. Die überaus aktive Baumeister*innengemeinde ist zusätzlich ein toller Anlaufpunkt für inspirationslose Tage.

Die Frage der Anschaffungskosten mag letztlich eine Geschmackssache sein. Eine Finanzierung der gemeinsamen Rollenspielabende gibt es auf die eine oder andere Art schließlich immer.

Für neugierige Rollenspielgruppen mit Zeit und Willen, sich einzuarbeiten, D&D-/Fantasy-Enthusiast*innen oder Personen, die vom Videospiel umsteigen, lohnt sich Talespire bereits jetzt. Allen Raumschiffkapitän*innen und Netrunner*innen sei der Rat gegeben, noch etwas abzuwarten.

 

  • Schnell erlernbarer, hübscher Baukasten
  • Aktive Community erleichtert Einstieg
  • Umfangreiche Atmosphäre-Tools/SL-Hilfen
 

  • Nur Fantasy-Settings umsetzbar
  • Anschaffungspreis für die gesamte Gruppe
  • Fehlende Implementation von Charakterbögen

 

Artikelbilder: © Bouncyrock Entertainment
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Katrin Holst
Dieses Produkt wurde durch die Einnahmen auf Patreon finanziert.

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