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Fast alle unserer Leserinnen und Leser interessieren sich für Phantastik, spielen beim Tisch- und Liverollenspiel kleine wie große Heldenfiguren oder verfolgen gespannt die Geschichten von Büchern oder Filmen. All diese Dinge suchen ihre Inspiration oft unserer Vergangenheit – und zu dieser gibt es ein ganz reales Fenster.

Ob Buch, Film, Brett- oder Rollenspiel mit fantastischem Thema: Wo man hinschaut, kann man fast immer Elemente aus dem Mittelalter vorfinden. Gleich, ob DSA-Abenteuer, Liverollenspielveranstaltung oder Fantasy-Roman, sie alle nutzen gängige Klischees der Vergangenheit und bedienen Vorstellungen früherer Kulturen.

Dieser Blick nach hinten, so schön er ist, ist oft verklärt, romantisiert, manchmal sogar irreführend. Andrea Perkuhn und Andrej Pfeiffer-Perkuhn möchten diesen Blick schärfen. Durch das Geschichtsfenster, ein Living-History-Projekt, möchten sie, ähnlich wie die Gruppe der Sorores Historiae, einem alltäglichen Publikum unsere Geschichte zugänglich machen.

Wir haben ein Gespräch mit Andrej geführt und möchten euch das Geschichtsfenster und seine Arbeit nun vorstellen.

„Ich bin eigentlich Larper mit historischem Hintergrund. Living History war mir anfangs sehr fremd“, beginnt Andrej unser Gespräch. Seine ersten Erfahrungen mit fantastischen Themen hat Andrej im Alter von 12 Jahren mit DSA und Dungeons and Dragons gesammelt. Mitte der Neunziger begann er mit Liverollenspiel.

„Im LARP ist mir Authentizität ungleich wichtiger als in der Living History“, sagt Andrej mir. Was erst einmal seltsam klingt, erklärt Andrej schmunzelnd direkt: „Nun, im LARP möchte ich eine Rolle so realistisch und authentisch wie es nur geht mit Leben füllen. Als Living-History-Darsteller betreibe ich kein Rollenspiel, sondern nutze meine Darstellung als Vehikel, um ein besseres Bild einer vergangenen Zeit zu erzeugen. Ob ich eine Bruche oder eine normale Unterhose trage, ist allen Beteiligten dabei herzlich egal. Immersion im LARP ist ungleich wichtiger als in der Living History.“

Die ritterliche Tafel für ein Turnier mit einigen der besten Lanzenreiter der Welt auf der Veste Coburg. Die Planung hat über ein Jahr an Recherche und Vorbereitung erfordert.
Die ritterliche Tafel für ein Turnier mit einigen der besten Lanzenreiter der Welt auf der Veste Coburg. Die Planung hat über ein Jahr an Recherche und Vorbereitung erfordert.

Der Übergang vom LARP in die Living History war fließend. Man suchte Darsteller für die Soester Fehde, Andrej erklärte sich dazu bereit und bot auch an anderen Stellen seine Mitarbeit an. „Nach dreimal Umgucken“ war er dann Mitveranstalter geworden. Zu seiner Passion für historisch korrekte Gewandungen gesellten sich mehr und mehr Inspirationen, zum Beispiel Söldnerleben im Mittelalter, ein Fotobuch der Company of Saint George.

„Das war meine Darstellungsbibel“, lacht Andrej. Dann fährt er fort: „Living History war anfangs befremdlich. Wenn du vom Drachenfest kommst und 2.000 Mann in den Kampf geführt hast, ist ein Kampf in der Living History eher seltsam – und auch unspannend. Wie auch das abendliche Zusammensitzen, zwar in Kostüm, aber ohne echte Darstellung und nur selten mit Rollenspiel behaftet. Für immersive Erlebnisse gehe ich nach wie vor ins LARP. Aber was mich immer begeistert hat, ist die Arbeit mit Besuchern! Darum habe ich mir recht bald nach meinem Einstieg Museums- oder andere Erklärbär-Veranstaltungen gesucht und bin dorthin.“

Living History – Was ist das?

Auf die Frage, wie man sich solche Veranstaltungen vorzustellen hat, antwortet er:

„Eine klassische Art von Besucherveranstaltung ist zum Beispiel eine Multiperiod-Veranstaltung. Sie bietet Darstellern verschiedener Perioden Platz. Anders ist das bei internen Veranstaltungen oder Burgbelebungen. Hier geht es vor allem um die Homogenität der Darstellung. Natürlich werden die Anforderungen an die Darsteller im Vorfeld kommuniziert; im LARP wäre das mit dem Epic Empires zu vergleichen.“

Andrejs Ziel ist es immer, dass der Besucher nichts Unhistorisches im Blickfeld haben darf.

Wenn er seine Darstellung aufbaut, ist das immer aus seiner eigenen Darstellungsperiode.

Auf diese Art soll eine lebendige Geschichtsquelle geschaffen werden, in welche der Besucher hineingestellt wird. Man ist an einem exotischen Ort, wird aus seinem Alltag herausgerissen und sieht die Darstellung.

„Die meisten Leute haben ein vages und grundfalsches, absolut basales Bild über das Mittelalter, aus dessen Komfortzone sie dann rausgerissen werden und in meine Darstellung geworfen werden“, fährt Andrej fort. „Dieses vorherrschende Bild ist unglaublich rasch geprägt. Bewegte Bilder, beispielsweise eine TerraX-Doku über das Mittelalter, haben eine unglaubliche Wirkmacht.“

Bei einer Publikumsvorführung wird demonstriert, was eine Rüstung tatsächlich aushält. Neben Erklärungen sind solche Vorführungen ein Kernpunkt der Vermittlungsarbeit.
Bei einer Publikumsvorführung wird demonstriert, was eine Rüstung tatsächlich aushält. Neben Erklärungen sind solche Vorführungen ein Kernpunkt der Vermittlungsarbeit.

Wie kam es zum Geschichtsfenster?

„Das kam organisch. In Lich, wo ich herkomme, findet jedes Jahr der ‚Historische Markt‘ statt, ein Stadtfest mit einem winzigen Mittelaltermarkt am Rand, während dessen die Kirche einige alte Drucke aus dem 15. Jahrhundert ausgestellt hat. Über diese habe ich mich mit meiner Frau unterhalten, was wiederum ein Kirchenbeirat mitbekommen hat; wir kamen ins Gespräch. Im nächsten Jahr wurde das 500-jährige Jubiläum der Marienstiftskirche geplant. Dazu hatte die Stadt vier Handwerker von dem Mittelaltermarkt eingeplant. Ich dachte mir, dass man da mehr draus machen konnte und habe ein eigenes Angebot gemacht.“

Am Ende waren es 22 Darstellerinnen und Darsteller – und Andrejs erste streng historische Darstellung.

„Geplant war das als einmalige Sache. Im nächsten Jahr fragte die Stadt Lich aber an, ob wir das nicht erneut machen möchten. In diesem Zug haben wir dann den historischen Markt auf Vordermann gebracht. Mittlerweile gibt es sogar, natürlich ohne unser Zutun, Partnerstädte, und der Markt wird als Aushängeschild von Lich genutzt. Bald steht das zehnjährige Jubiläum an – und aus dieser Geschichte kam dann das Projekt Geschichtsfenster heraus.“

Was ist das Geschichtsfenster?

„Das Geschichtsfenster ist zunächst eine Firma. Wir versuchen das Scharnier zu sein: Zwischen Hobbyisten aus der Living-History-Szene und Auftraggebern aus dem Bereich Schule, Museum, städtische Eventorganisation und ähnlichem. In dieser Welt prallen immer wieder Erwartungen aufeinander. Der Hobbyist hat wahnsinnig viel Arbeit und Geld ins Hobby investiert und möchte dafür vor allem anderen anerkannt werden; vor Ort soll es außerdem bequem und schlicht nett sein.

Die häufigste Darstellung, für die Geschichtsfenster gebucht wird, dürfte die des Buchhändlers sein. Hier Andrej Pfeiffer-Perkuhn mit kleinem Marktstand im Hof des Lutherhauses in Eisenach.
Die häufigste Darstellung, für die Geschichtsfenster gebucht wird, dürfte die des Buchhändlers sein. Hier Andrej Pfeiffer-Perkuhn mit kleinem Marktstand im Hof des Lutherhauses in Eisenach.

Die Auftraggeber wiederum investieren Geld, wollen dafür eine Gegenleistung und bringen einen Anspruch mit. Zwischen diesen Erwartungshaltungen muss moderiert werden, das macht dann das Geschichtsfenster.

Natürlich wird auch die Darstellung des Geschichtsfenster selbst gebucht, manchmal mit anderen Darstellern, manchmal ohne. Das Ziel ist am Ende immer, sowohl zufriedene Darsteller als auch zufriedene Kunden zu haben. Sollte ich irgendwann einmal dazu in der Lage sein, den Hobbyisten pro Tag 250 Euro Gage zu geben, dann würde ich das auch machen – realistisch ist aber immer nur ein Benzingeld oder ähnliches.

Diese Kombination macht den Umgang zwischen Auftraggeber und Hobbyist deutlich schwieriger als ein gängiges Geschäftsverhältnis zwischen Dienstleister und Kunde. Ich bin also der Mittelsmann, der zwischen zwei Kundenkreisen zurechtkommen muss.“

Woraus besteht die Darstellung des Geschichtsfensters?

„Meine eigene Darstellung ist zeitlich und räumlich sehr begrenzt. Ich bediene das Jahr 1475, manche Quellen gehen auch in die 1480er Jahre hinein und manche Gegenstände sind von früher. Regional bediene ich die Region Frankfurt bzw. den Mittelrhein. Die Darstellung ist allerdings mittlerweile recht weit fassbar. Es gibt mehrere Hauptdarstellungen, dahinter steht außerdem ein sehr breites Wissen zum Mittelalter. Ich kann die meisten Anfragen bedienen und traue mir zu, auch spezifische Themen gut behandeln zu können.

Natürlich gibt es Bereiche, von denen ich absolut keine Ahnung habe, aber durch meinen Fundus bin ich breit aufgestellt: Vom Ritter über einen Buchhändler zu einem Pilger, von einem Waffenknecht bis hin zu verschiedenen Handwerkerdarstellungen kann ich Vieles bedienen. Außerdem gibt es Darstellungen, die sich weniger über eine Rolle definieren, sondern kulturelle Phänomene illustrieren: Tischkultur, Schrift- und Buchkultur, oder auch die Medienrevolution des Spätmittelalters: Einführung von Papier, Entwicklung des privaten Bildes, Buchdruck mit beweglichen Lettern – dazu ist die Buchhändler-Darstellung natürlich das beste Vehikel.“

Außerdem bietet das Geschichtsfenster regelmäßig Erlebnisführungen auf der Burg Münzenberg an, verrät Andrej uns noch – und vermittelt Wissen im Rahmen von Projektwochen an zwei Schulen in seiner direkten Umgebung.

Didaktik und Pädagogik – Das Konzept

„Meine Frau Andrea ist auch Geschichtsfenster. Sie arbeitet als Sonderpädagogin an einer Schule und unterstützt das Geschichtsfenster sowohl mit einer Darstellung zum Thema Hygiene als auch ganz grundlegend konzeptionell im Hintergrund. Sie ist auch das Korrektiv zum Thema Pädagogik: Wie baue ich Inhalte aus, und wie vermittle ich diese?

In Deutschland ist es sehr schwierig, an Schulen zu kommen, da die Schule immer selbst entscheidet, wen sie dazu nimmt. Also muss ich Klinken putzen, und das beginnt beim Direktor oder bei der Direktorin – und dann habe ich immer noch nicht mit dem tatsächlichen Lehrpersonal gesprochen, mit dem ich am Ende arbeite. Da steht und fällt sehr viel mit dem persönlichen Engagement des Lehrers, mit dem da gearbeitet wird. Ein Folgeauftrag ist sehr selten, wenn da nicht jemand ist, der das eigenständig vorantreibt. Darum nimmt Schularbeit weitaus weniger Platz in meinem Portfolio ein, als ich es gerne hätte.

Neben den Auftritten ist stetige Weiterbildung wichtig. Auf dem Harnischfechtsymposium wurden Fechttechniken erlernt und Quellen diskutiert.
Neben den Auftritten ist stetige Weiterbildung wichtig. Auf dem Harnischfechtsymposium wurden Fechttechniken erlernt und Quellen diskutiert.

Bei der Museumsarbeit wiederum steht Erlebnispädagogik natürlich im Vordergrund. Sobald ich mit guten Museen zusammenarbeite, muss meine Darstellung natürlich auch gut sein. Da sitzen plötzlich Leute, die haben Ahnung!“ Andrej lacht herzhaft. „Ein bestimmtes Museum hat jahrelang private Anfragen zum Thema Mittelalter abgeblockt, da gäbe es nichts Gescheites.

Bis ich die dann endlich über einen privaten Kontakt vom Gegenteil überzeugen konnte! In der Zusammenarbeit mit Museumspädagogen wird man natürlich stärker gefordert; gegebenenfalls muss man das eigene Konzept mehrfach überarbeiten. Auch da gibt es zwei Seiten: Manche Museen holen sich historische Darsteller und greifen völlig daneben, Stichwort Histotainment: Das ist relativ unbedarft.

Dann gibt es andere Museen, die wissen genau, was sie tun, und wenn du bei denen arbeitest, musst du didaktisch und im Sachkultur-Bereich völlig auf der Höhe sein, weil die sonst den Boden mit dir aufwischen. Die Festung in Rüsselsheim beispielsweise ist ein vergleichsweise unbekanntes Museum. Es gibt fünf wissenschaftliche Mitarbeiter, aber wenn du mit denen arbeitest, dann musst du Quellen nennen und mit einem echten Konzept aufschlagen – und genau so sollte es auch sein; so sollte Historienvermittlung im Museum aussehen. Nach außen hin haben Museen natürlich immer höchste Ansprüche, nach innen ist das dann wieder … unterschiedlich.“

Auf eurer Website nutzt du den Begriff „Heritage Interpretation“ oder auch Kulturvermittlung. Was versteckt sich dahinter?

„Der Begriff wurde in den Fünfzigern in Amerika geprägt und ist nicht ganz einfach zu erklären. Im Grunde ist es so: Ich möchte das Bild, das 90 Prozent der Leute vom Mittelalter haben, angreifen, indem die Leute es selber grade rücken. Ich beginne also mit meinen eigenen Themen aus meiner Darstellung, beende das Ganze aber mit Themen der Zuschauer.

Ein Idealbeispiel: Ich wusste es am Anfang nicht, hatte aber drei Krankenschwestern als Besucherinnen mit typischen Vorurteilen über mittelalterliche Medizin: Ständige Aderlasse, es wurden mehr Leute umgebracht als geheilt, gegen Krankheiten wie die Pest konnte man nichts ausrichten, Ärzte waren Scharlatane mit wenig Ahnung.

Meine Buchhändlerdarstellung hat ein Faksimile des Feldbuchs der Wundarznei von Hans von Gersdorff. Der beschreibt Vorgänge wie eine Trepanation, also eine Operation am offenen Schädel; der schreibt aber auch, dass das Kauterisieren entgegen dem gängigen Klischee nicht mit rotglühender Klinge, sondern nur so heiß durchgeführt wurde, dass das Bluteiweiß geronnen ist. Das schönste Beispiel aus diesem Buch ist die Versorgung von Brüchen. Heute weiß man, dass das Behandeln von Brüchen bei Kindern nicht mit Vollgips geschehen sollte, wie es noch vor 50 Jahren geschah.

Das Museumszelt soll die ganze Lebenswelt eines Menschen um 1475 in einem Zelt komprimiert darstellen. Dabei ist das Betreten und Erkunden ausdrücklich erwünscht.
Das Museumszelt soll die ganze Lebenswelt eines Menschen um 1475 in einem Zelt komprimiert darstellen. Dabei ist das Betreten und Erkunden ausdrücklich erwünscht.

Ein Muskel, der sechs Wochen stillgelegt ist, bildet sich zurück. Das hat man erst während unserer Lebenszeit erkannt; allerdings ist in dem Handbuch eine Anweisung zu lesen, die auf eben diesen Umstand hinweist und vorschlägt, den anfangs fest geschienten Bruch mit der Zeit weniger fest zu schienen, um den Muskel funktionstüchtig zu halten und langsam wieder aufzubauen – also vor 500 Jahren schon die Art und Weise, wie es heute, 2019, gemacht wird!

Das war für die Krankenschwestern überraschend. Heutzutage kauterisiert man auch, zum Beispiel in der Chirurgie, um kleinere Wunden zu verschließen, und auch da merkt die Krankenschwester: Aha, der wusste damals schon, wie heiß das sein musste, um zu kauterisieren. Fachwissen war vorhanden!

Ich hole die Leute also an ihrem eigenen Wissensstandort ab und kann durch die Darstellung in einem Buch direkt den Zusammenhang zu ihrem täglichen Leben herstellen – und gemeinsam machen wir dann neues Wissen! Wenn ich einfach sage: ‚Das war nicht so, das war ganz anders‘, dann glaubt mir das keiner. Da ich aber direkt Belege zur Hand habe und diese zeigen kann und ich diese Reise direkt mit den Leuten gehe, interpretieren wir die Fakten gemeinsam und schaffen neues, richtiges Wissen – und das ist „Heritage Interpretation“ oder eben Kulturvermittlung. Oftmals zeichne ich ein sehr positives Bild vom Mittelalter. Allerdings fast unfreiwillig, da ein viel schlechteres Mittelalterbild zurechtgerückt werden muss.“

Was ist an dem heutigen Bild des Mittelalters so problematisch?

„Die Allgemeinheit verklärt das Mittelalter im Negativen und manchmal auch im Positiven. Die aktuelle Diskussion über die Schildmaid von Birka, ein Frauengrab, in dem ein Schwert gefunden wurde, ist eines der wenigen Beispiele, wo wir als LH-Darsteller auch mal einer Verklärung entgegentreten müssen.

Andrea Perkuhn an ihrem Hygienedisplay bei einer Veranstaltung für die Universität Bamberg.
Andrea Perkuhn an ihrem Hygienedisplay bei einer Veranstaltung für die Universität Bamberg.

Aber schauen wir uns die popkulturellen Darstellungen – Bewegtbilder – von Heinrich dem Fünften einmal an. In der Kenneth-Brannagh-Verfilmung hält er vor seinen verdreckten Leuten eine Rede. Das ist an und für sich völlig richtig, aber wenn er bei Agincourt immer noch denselben Kram anhat wie zu Beginn des Feldzugs, dann stimmt das so nicht! Er ist die Führungsfigur, seine Leute hätten sich die eigenen Kleider vom Leib gerissen, um ihm mehr Prunk zu gönnen.

Man findet meist nur eines, Dreck oder Prunk. Optisch fantastisch ist die Verfilmung von Laurence Olivier von 1944: Dieser Film sieht aus wie die Bildquellen, fast jede Rüstung in diesem Film passt. Der Film hat ein paar Probleme, beispielsweise den Kran, mit dem man auf die Pferde gehoben wird, und er ist in jeder Szene viel zu sauber. Ich behaupte, die Realität ist eine Mischung aus beidem. Ein König, der in den Krieg zieht, muss Glanz und Glorie mit sich nehmen; denn er ist eben der König und ist nicht mit dem Volk gemein! Aber es darf auch nicht blutlos und sauber sein, denn das ist ja nicht Krieg – die Schlacht von Agincourt.

Ich muss also versuchen, meinen Besuchern die Realität dahinter beizubringen. Bleiben wir bei Agincourt: Die englischen Bogenschützen haben die Franzosen über den Haufen geschossen. Tatsächlich war das aber alles komplizierter: Der Bogenschütze an sich ist ein hervorragend ausgebildeter, nicht-ritterlicher Kämpfer, der auch im Nahkampf rangehen kann. Agincourt ist eher eine Sternstunde der Infanterie statt eines Beweises der Überlegenheit englischer Langbögen.

Man ist, egal was man findet, am Ende immer in der Situation, ein „Ja, aber“ zu sagen, egal ob in die eine oder die andere Richtung, und in der Geschichtsvermittlung ist es dann mein Job, den richtigen Hebel für eine Interpretation zu finden, denn die genannte Krankenschwester kann mit der Schlacht von Agincourt nicht viel anfangen.“ 

Mittelaltermärkte sind beliebte Volksfeste, die viel zu dem heutigen Bild des Mittelalters beitragen und auch Dinge verfälschen. Wie gehst du damit um?

„Teil des Jobs ist natürlich auch das Gebuchtwerden auf einem Mittelaltermarkt. Es gibt beispielsweise das Brunnenfest in Amberg, die mich jetzt zum zweiten Mal gebucht haben. Da stelle ich mich gerne mit meinem Museumszelt hin und mache dort dasselbe wie im Museum auch – die Leute kommen, schauen ins Zelt, ich spreche ich sie an, lade sie ein zu schauen, was ich grade tu, und auch dann prüfe ich wieder: Wo liegt das Interessensgebiet? Und beginne meine Vorführung.

Ganz wichtig ist der Satz: ‚Ich verkaufe nichts‘. Viele Leute vermuten bei einer direkten Ansprache, man möchte ihnen nur Dinge aufschwatzen. Dabei darf man meinen Fundus durchaus auch anfassen. Ein gewisser Prozentsatz der Leute lässt sich auf mein Angebot ein und ich führe dann die Gespräche, die ich auch in einem Museum führen würde. Von dem Markt selbst bekomme ich selten etwas mit, zumal ich durcharbeite und Märkte meist 12 Stunden lang geöffnet sind.

Natürlich ist das, was auf Märkten sonst so geboten wird, von der historischen Warte aus gesehen jenseits jeder Diskussion und sogar schädlich für das alltägliche Bild des Mittelalters. Die Marktoptik mit oft denselben Versatzstücken ist schädlich, weil das kulturelle Mittelalterbild vom Markt-Mittelalterbild überlagert wird. Beim Markt hat man dann auch Mechanismen der Verklärung, die Sehnsucht nach einer einfacheren Zeit, nach Freiheit – und Freiheit ist im Mittelalter, wenn überhaupt bekannt, ein völlig anderer Begriff als heute; wenn es eine Zeit gibt, in der ich Freiheit so gar nicht verorten würde, ist es eben das Mittelalter, weil es eine Zeit mit enormen gesellschaftlichen Zwängen ist.“

Auch eine öffentliche Vorführung, das Laden und Abfeuern einer Stangebüchse.
Auch eine öffentliche Vorführung, das Laden und Abfeuern einer Stangebüchse.

Wie stellst du sicher, dass du mit deiner Darstellung quellensicheres Wissen vermittelst?

„Ich nutze die historisch-kritische Methode: Wofür ist der Gegenstand gemacht, was ist auf dieser Quelle dargestellt? Meine eigene Ausrüstung wird auf Basis von Quellenmaterial angeschafft. Gängige Qualitätskriterien aus der Szene wie beispielsweise eine Handnaht sind nicht immer wichtig: Den Reliquienbeutel mit Handnaht, den gebe ich natürlich Leuten in die Hand. Ob ich dabei aber die erwähnte moderne Unterhose oder eine Unterhose ohne Handnaht trage, ist für die Vermittlung irrelevant.

Handgefärbte Stoffe haben einen Wert als Replikat für meine Darstellung, aber eine handgefärbte Unterhose eben nicht. Es geht immer um die Vermittlung. Wenn ich einen Gegenstand habe, an dem ich einen Ablauf erklären kann, wie zum Beispiel ein pflanzengefärbtes Stück Stoff, ist das total toll für die Besucher – das Handfärben ist aber das Wichtige, nicht, ob der Stoff selbst maschinell gefertigt oder handgewebt wurde. Wenn jemand natürlich den Fokus auf eine authentische Handwerksdarstellung oder auf starke Immersion legt, ist das natürlich etwas anderes. Mein Hauptaugenmerk liegt aber eben auf Vermittlung.“

Welche Tipps und Ratschläge gibst du einem Einsteiger mit auf den Weg?

„Man fängt einfach an! Auf der ersten großen Veranstaltung in Lich gab es einen Besucher, der fand das alles faszinierend. Er hat sich dazu gestellt und hat einfach mitgemacht. Aus dem Kontakt mit uns entsprangen dann eigene Handlungen. Er hat nach Quellen geschaut und sehr behutsam eine historische Darstellung begonnen, fast nur selbstgemacht. Alles richtig gemacht: Er hat in relativ kleinem Umfang mit wenig Geld eine Gewürzhändlerdarstellung angefangen und macht damit ein Thema, an dem er ganz viel aufhängen kann – ein Positivbeispiel dafür, wie man in dieses Hobby reinkommt.

Was man auch bekommt, wenn man es richtig macht: unglaublich viel Hilfe und tolle Beispiele! Die Bedingung dafür lautet: Nicht in die „A-Debatte“ einklinken, da macht der Ton auch die Musik. Die Leute, die in den letzten Jahren angefangen haben und die ich erlebt habe, sind sehr offen an Themen rangegangen. Ihre Darstellung ist qualitativ sehr hochwertig, ohne Kompromisse. Sie orientieren sich an Quellen und versuchen, es von Anfang an richtig zu machen – da gab es dann direkt viel Lob und Einladungen zu vielen guten Veranstaltungen. Sobald man also auftaucht, sehen lässt, dass man es ernst meint und qualitativ gut liefert, ist man im Grunde direkt schon drin. Eine „gute“ historische Darstellung, insbesondere wenn man aus der LARP-Ecke kommt oder aus der Mittelalterszene, bedeutet allerdings fast immer, dass man neu anfangen muss.“

Andrej, ich bedanke mich herzlich für die Zeit, die du dir für die Teilzeithelden genommen hast. Bevor wir nun auseinander gehen, verrate unseren Leserinnen und Lesern doch bitte, wie sie das Geschichtsfenster unterstützen können.

„Macht uns bekannter! Wenn jemand mitbekommt, dass eine Schule, ein Museum, eine Veranstaltung Darsteller sucht, werft den Geschichtsfenster-Namen in den Ring! Auf unserer Website und auf Facebook steht unglaublich viel, was schnell vermittelt, was wir so tun, und je mehr das Klinkenputzen, was an mir hängt, auch von anderen übernommen wird, desto besser ist das für uns.

Abseits davon wünschen wir uns natürlich: Tretet in den Dialog mit uns! Wir veröffentlichen auf Facebook immer wieder Informationen, Quellenmaterial, teilen unsere Eindrücke aus Museen, von Veranstaltungen und viele andere spannende Dinge. Ich freue mich über jeden Kommentar und jede Interaktion, und mir blutet auch das Herz, wenn ich unter einer Galerie 100 Likes, aber null Kommentare habe – dann habe ich wieder das Gefühl, eine Gelegenheit verpasst zu haben.“

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