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In Shadowrun gibt es kein Gut und Böse: kein Schwarz und Weiß, sondern nur verschiedene Grautöne. Dennoch muss man in der bunten sechsten Welt nicht unbedingt einen Runner spielen, sondern kann auch ganz andere Wege einschlagen. Im Folgenden werden einige Alternativen abseits des Spiels der Megakons vorgestellt.

Eine Straßensamurai, ein Straßenschamane, ein Dieb und eine Deckerin kommen in eine Bar, um sich mit dem Johnson zu treffen.
Sagt der Johnson: „Ich habe einen Job für Sie.“

So oder so ähnlich beginnen viele Shadowrun-Spielabende. Die Runner werden von ihren Schieber*innen kontaktiert und zu einem Treffen geschickt. Dort bekommen sie ihren Auftrag, planen (meist sehr lange) den Run und legen dann los.

Der Großteil aller Quellenbücher und Abenteuer ist auf diese Art des Spielens ausgelegt. Das ist die Essenz von Shadowrun.

Doch die Sechste Welt besteht nicht nur aus Runnern und Konzernen. Seit dem Erscheinen der ersten Edition von Shadowrun im Jahr 1989 ist eine überwältigende Anzahl an Büchern erschienen und die Sechste Welt immer weiter gewachsen. Obwohl der Fokus meist auf dem Shadowrun-Gewerbe liegt, werden in diesen Büchern auch immer wieder Settings abseits berufsmäßiger Kriminalität beschrieben. Gerade diese Teile der Hintergrundwelt laden dazu ein, dort einen Charakter oder eine Kampagne zu spielen.

Dabei sind die Lifestylebücher hervorzuheben, die in den verschiedenen Editionen immer wieder vielseitigen und bunten Fluff der Sechsten Welt hinzufügen.

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Das Leben und der ganze Rest

Was ist Shadowrun? Shadowrun ist ein Cyberpunk-System. Doch ebenso kann man es als Arcanepunk bezeichnen, da Magie in der Sechsten Welt sehr vielfältig dargestellt wird. Von reglementiertem Magieeinsatz in den Konzernen bis zur chaotischen Magie in den erwachten Ländern.

Extremsport ist auch ein Abenteuer.

Wenn man sich die Sechste Welt genau anschaut, kann man auch noch Aspekte aus anderen Genres erkennen. Im Metaplot gibt es Elemente, die Anleihen von Nanopunk (Nanitenforschung), Biopunk (Manipulation der Biologie), Atompunk und Voidpunk (Interaktion mit anderen Dimensionen) enthalten. Ebenso sind bei tieferem Eintauchen in den Hintergrund Elemente des Solar– und Hopepunks zu erkennen. In vielen Ecken der Sechsten Welt haben sich Enklaven gebildet, die alternative Lebensweisen darstellen, die nicht so recht zum wuchernden Kapitalismus des Cyberpunk-Genres passen.

Da gibt es beispielsweise magisch erwachte Länder, wie Tír na nÓg, Amazonien und Jakutien, wo Magokratien Staatsformen sind, in denen magisch erwachte Personen herrschen. In einigen Ländern der Native American Nations hat der Umweltschutz einen so hohen Stellenwert, dass sich die Konzerne den Gesetzen unterwerfen oder abwandern müssen. Nachhaltige Energiegewinnung ist dort, im Gegensatz zum Rest der Welt, Normalität. Die Pueblo Corporation ist zwar wie eine Firma aufgebaut, besitzt aber Werte, die sie klar von den anderen Konzernen der Shadowrun-Welt abgrenzt.

In dem Quellenbuch Mit Hauern und Hörnern werden Enklaven von Orks und Trollen beschrieben, die anarchistisch, sozialistisch oder kommunistisch ausgerichtet sind. Natürlich haben alle diese Gemeinschaften mit Problemen zu kämpfen, heben sich aber aus dem düsteren Cyberpunknebel als Inseln der Hoffnung hervor.

In den erwachten Ländern laufen die Uhren anders.
In den erwachten Ländern laufen die Uhren anders.

Selbst utopische Merkmale lassen sich in der Sechsten Welt finden. Der große Geistertanz hat ein völlig neues Kapitel aufgeschlagen. Mit dem Erwachen der Magie, der Natur und neuen Spezies werden dem bestehenden Cyberpunk ganz neue Möglichkeiten hinzugefügt.

Einer der herausragenden Vorteile von Shadowrun ist ein konstant weitergeschriebener Metaplot. Nur eine Handvoll Rollenspielwelten verfügen über so eine reichhaltige fortlaufende Handlung. Beispielsweise sind die Auswirkungen der Universellen Bruderschaft aus der zweiten Edition auch noch in der aktuellen nachzuverfolgen.

Doch durch das „Runner-Johnson-Konzern“-Konzept können viele dieser Metaplots nur angeschnitten werden. Sollten die Charaktere zum Beispiel in manchen Kampagnen beschließen, von den Aufträgen des Johnsons abzuweichen, um auf eigene Faust Insektengeister zu jagen, müssen die Spielenden umdisponieren. Die Charaktere müssen eigenständig aktiv werden und die Spielleitung, ähnlich wie in anderen Rollenspielsystemen, einen eigenen neuen Plot ohne Johnson ausarbeiten.

Ein aktuelles Beispiel ist Der Kechibi-Code. Dort liegt der große „Schatz“ der Handlung in den Tiefen der Matrix und ist für die meisten Nicht-Decker quasi unantastbar. In den meisten Spielgruppen sind Decker unterrepräsentiert. Daher müsste eine Gruppe, die diesen Plot spielen will, ein anderes Kampagnenkonzept erstellen. Das umfasst alternative Charakterkonzepte und ein alternatives Setting.

Über den Horizont hinaus

Was bedeuten alternative Herangehensweisen für einen Spielabend oder eine neue Shadowrun-Kampagne?

Tentakelmonster sind klassische Gegner.
Tentakelmonster sind klassische Gegner.

Es bedeutet, dass es in der Hintergrundwelt unzählige Möglichkeiten gibt, mit Konzepten zu experimentieren. Das Setting „Runner-Johnson-Konzerne“ ist nur ein kleiner Ausschnitt. Andere Rollenspielwelten bieten viel mehr Möglichkeiten für Charaktere und Kampagnen. So gibt es zum Beispiel in den meisten Fantasy-Systemen Charaktere, die sich als Söldner*innen oder Entdecker*innen verdingen, was bei Shadowrun nur selten vorkommt. In Werwolf: Die Apokalypse haben wir es mit Kreuzritter*innen zu tun, die in einem Schattenkrieg gegen die Legionen des Wyrm antreten, in Cthulhu und Vaesen begegnen wir übernatürlichen Ermittler*innen.

Diese Charakterkonzepte funktionieren in der Shadowrun-Welt genauso gut, wie klassische Runner-Konzepte. Tatsächlich sind einige Charakterkonzepte, die keine typischen Runner sind, schon lange fester Bestandteil der Shadowrun-Bücher. Ein*e Kopfgeldjäger*in, Privatdetektiv*in, magische Ermittler*in und Straßenschaman*in hat normalerweise ganz andere Motivationen als berufmäßige Verbrecher*innen, und wird daher selten bei einem Johnson anheuern. Zwar nutzen diese Charaktere sehr oft Schattenmethoden, handeln aber größtenteils offiziell und kennen ihre Auftraggeber*innen meist persönlich.

Andere klassische Beispiele aus der Shadowrun-Welt sind Söldner*innen, Ganger*innen, Gangster*innen und Schattendocs. Für die genannten Charakterkonzepte bieten sich alternative Kampagnenkonzepte an, die über das „Runner-Johnson-Konzerne“-Klischee hinausgehen.

50 Shades of … Schatten?! – Alternative Kampagnenkonzepte

Seit der zweiten Edition gibt es in jeder Shadowrun-Edition ein Kompendium, in dem sich wiederum ein Kapitel mit alternativen Kampagnenkonzepten befasst, die eben nicht Runner als Charaktere beinhalten. Im aktuellen Shadowrun 6-Kompedium werden sieben verschiedene Konzepte vorgestellt.

Die erste dieser Kampagnen wird von den Autor*innen „Stück vom Glück“ genannt. In dieser Kampagne wird das Leben von Charakteren bespielt, die nicht berufsmäßige Kriminelle sind. Wie leben sie? Wo leben sie? Wie überleben sie? Klar, niemand will im Rollenspiel einen öden nervenzermürbenden Zwölf-Stunden-Konzern-Büro-Job ausspielen, aber das Drumherum kann spannend sein. Alle Spielcharaktere könnten in einem Gebäudekomplex wohnen und sich irgendwie kennenlernen. Als Antagonist*innen könnte eine Gang, korrupte Sicherheitskräfte, eine gewinnorientierte Hausverwaltung oder eben ein Konzern auftreten.

Dem Gesetz zu folgen, heißt nicht automatisch, auf der richtigen Seite zu stehen.

Die Kampagne „Gesetzeshüter“ ist ein Klassiker aus den Kompendien. Alle Charaktere spielen staatliche oder private Sicherheitskräfte und bekommen Fälle und Einsätze zugewiesen.

Eine Gang-Kampagne ist ebenso in jedem Kompendium enthalten. Die Spielcharaktere sind alle Mitglieder einer Gang oder gründen ihre eigene. Dann wird ein Turf abgesteckt und verteidigt. So eine Kampagne ist ebenso simpel wie klassisch, aber niemals langweilig.

Alle SC könnten zum Beispiel auf der Jagd nach Artefakten sein. Das könnte im Bereich der klassischen Archäologie (egal, ob im Feld oder in der Bibliothek), Anthropologie oder Arkanhistorie sein. Im Auftrag einer Organisation reisen die Charaktere um die Welt und erforschen Mysterien. Ein Hut ist dabei obligatorisch.

In der Kampagne „Sportler der sechsten Welt“ sind alle SC Sportler*innen oder begleiten und unterstützen ein Sportteam auf seinen Reisen. Das kann ein Combatbiking-, Urban Brawl-, Fußball- oder Hochschulbasketballteam sein. Alle SC könnten beispielsweise entscheiden, Mitglieder eines Teams der atzlanischen Court Ball-Liga zu spielen. Die Brutalität des Sports ist legendär und gerüchteweise werden Kapitän*innen den atzlanischen Göttern geopfert.

Eine Kampagnenidee wird „Hopepunk“ genannt und lässt die Charaktere Personen helfen oder eine positive Sache unterstützen. Das Buch Schattenhelden geht ausschließlich und sehr detailliert auf dieses sogenannte Hooding ein.

Der letzte Vorschlag aus dem aktuellen Schattenkompendium wird „Runs durch Spielinitiative“ genannt. Es fasst Aufträge zusammen, die von den Spielcharakteren selbst angestoßen werden. Unzählige Bücher, Filme, Serien und Spiele thematisieren diese Art von Runs. Oceans Eleven, Trible Frontier, Fast & Furious und unzählige Rachethriller sollen hier als Beispiele und Inspiration dienen.

Überall gibt es versteckte Zeichen und Bedeutungen.

Eine weitere Idee für ein Kampagnenkonzept ist ebenso klassisch, wird aber ebenfalls kaum bespielt. Man nehme Überwachungstechnik, Masken, Schalldämpfer und gebe ein paar Verfolgungsjagden hinzu. Geheimagent*innen erfreuen sich seit Jahrzehnten in Film, Fernsehen und Spielen großer Beliebtheit. Natürlich nutzen Runner regelmäßig Methoden und Spielsachen aus dem Bedarf einer Geheimagentur, aber von einer reinen Agent*innenkampagne hört oder liest man in der Community kaum etwas. In der vierten Edition gab es mit Machtspiele ein Quellenbuch zu diesem Thema.

Nachfolgend noch einige Ideen aus älteren Shadowrun-Kompendien:

  • Geisterjagden (magische Ermittler*innen und/oder Dienstleister*innen)
  • Konzerneinsatzkommando oder Special Forces-Einheit
  • private oder staatliche Militäreinheiten in Ausbildung oder im Einsatz
  • organisiertes Verbrechen (zum Beispiel Mafia, Yakuza oder Triaden)
  • DocWagon-Einsatzteam
  • Mitarbeitende einer Medienanstalt (Piratensender, Tridsender, Matrixblog)
  • Magie (hermetischer Zirkel, Schamanenkreis oder etwas Exotischeres)

Alle diese Kampagnenkonzepte beinhalten Möglichkeiten der Schattenarbeit, um klassische Shadowrun-Charakterklassen zu spielen. Decker haben darin ebenso ihren Platz wie magische Talente und Straßensamurais. Doch zusätzlich können noch Charakterkonzepte gespielt werden, die bei klassischen Runs fehl am Platz wären.

Spielende können sich wieder von Filmen, Serien und Spielen inspirieren lassen und für die Spielleitung ist es keine Schande, aus diesen Quellen hemmungslos zu klauen.

Beispiel einer Kampagne, die vom Autor mit großem Erfolg geleitet wurde.

Der Grundplot:

Irgendwann Ende der 2070er öffneten sich spontan Portale zum Astralraum in einigen Gegenden auf der Welt und wütende Geister liefen Amok. Der Megakon EVO war nach der KFS-Krise schwer angeschlagen und die Marketingprofis beschlossen, das Image des Konzerns aufzupolieren. Die Spielcharaktere wurden als Teil eines internen Konzerneliteteams rekrutiert, das die Geister bannen und die Portale schließen sollte. Zusätzlich zu dem ohnehin gefährlichen Job wurden die Charaktere noch in die Konzernpolitik verwickelt.

Der Grundplot wurde aus dem populären Bioware Spiel Dragon Age: Inquisition geklaut und für die Sechste Welt aufpoliert. Der politische Teil des Spiels hat perfekt für den Plot rund um die Konzernpolitik gepasst. Durch die offene, tolerante Einstellung bei EVO konnten auch jede Menge Meta-Menschen eingebaut und die Illusion einer perfekten Utopie erzielt werden.

Fertig war die Konzern-Spezialkräfte-Geisterjagdkampagne.

Würfel des Schicksals – Die Regeln

Bei Shadowrun haben die Spielenden den Luxus, gleich zwei offizielle aktuelle Regelsysteme zur Verfügung zu haben. Hier hat man die Wahl zwischen der regellastige Version von Shadowrun 6 oder dem narrativen Shadowrun Anarchy. Natürlich spricht auch nichts gegen die Nutzung älterer Shadowrun-Editionen oder eines gänzlich anderen Regelsystems. Das steht jeder Spielgruppe frei.

Die Matrix ist ironischerweise eine Mischung aus Freiheit und Regeln.

Fazit

Klassische Shadowrun-Spielabende haben einen klaren Vorteil: Das „Runner-Johnson-Konzern“-Prinzip macht es der Spielleitung einfach, die Gruppe zusammenzuhalten. Doch diese Art des Spiels ist nur ein kleiner Teil der großen vielfältigen Shadowrun-Welt. In Quellenbüchern werden konstant mehrere Metahandlungen vorangetrieben, die in klassischen Shadowruns nur angerissen werden können. Spätestens, wenn die Charaktere eine Handlung auf eigene Faust verfolgen, verlassen sie ausgetretene Runnerpfade und begeben sich tiefer in den Kaninchenbau der Sechsten Welt.

Mit Hooding, als Gangster*innen, Konzerndrohnen, Umweltaktivist*innen oder Straßenpunks eröffnen sich viel mehr Facetten der Welt.

Doch letztendlich sind das alles nur Vorschläge. Ob hier die blaue oder die rote Pille gewählt wird, liegt bei den Mitspielenden und Lesenden. Es gilt die oberste und wichtigste Regel: Spielt, was ihr wollt, und habt Spaß!

Artikelbilder: © Pegasus Spiele 
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Giovanna Pirillo

2 Kommentare

  1. Schöner Artikel. Ich habe in der Vergangenheit auch mal eine Knight-Errant Einsatztruppe geleitet, der erst nach und nach klar wurde, daß sie nicht immer die Guten sind.
    Momentan leite ich eine Shadowrun 2011 – Zeit des Erwachens Kampagne. Stark inspiriert von Akte X und Kult erleben FBI Ermittler und ihre Verbündeten hautnah das schrittweise Erwachen der Welt.

    • Vielen Dank.
      Genau darauf wollte ich hinaus. Es gibt noch viel mehr in der Sechsten Welt zu erleben, als Runner-Johnson-Konzerne.

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