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Nennt es Auftrag, Quest oder Mission – oft haben die Charaktere in einer Rollenspielgruppe ein klar gestecktes Ziel zu erreichen. Darüber, wie detailgetreu man ihr Leben im sonstigen Spiel ausschmücken sollte, gehen die Meinungen unter Rollenspielfans allerdings auseinander. Ein Artikel aus zwei Perspektiven.

Manche Rollenspiele haben einen klaren Ablauf: Ein Team hat einen Auftrag zu erledigen, von dem es möglichst lebend zurückkommen sollte, um sich sofort den nächsten abzuholen. Diese Schablone kann beliebig oft in leichter Variation wiederholt werden. Was langweilig und repetitiv klingt, ist tatsächlich oft das Modell für einen spaßigen Spielabend.

Der Fantasy-Cyberpunk-Klassiker Shadowrun etwa basiert darauf, dass die Charaktere sich einen ihren besonderen Fähigkeiten entsprechenden, eher extra-legalen Auftrag abholen und diesen dann zur Zufriedenheit einer halbseidenen Person im Anzug ausführen. Von dem dabei verdienten Geld versuchen sie dann, ihre Miete zu zahlen.

Die Liste von auftragsbasierten Rollenspielen ließe sich beliebig erweitern, für den vorliegenden Artikel bleiben wir allerdings bei Shadowrun als dem bekanntesten. Doch was passiert zwischen den Aufträgen? Schließlich haben die Charaktere idealerweise einen von den Spieler*innen schön ausgearbeiteten Hintergrund und ein diesem entsprechendes Privatleben. Manche Gruppen bestehen darauf, das Leben ihrer Charaktere in das Spiel zu integrieren und detailgetreu daran teilzuhaben. Andere bevorzugen das Abarbeiten des aktuellen Auftrags ohne Fluff. Luise und Norbert haben sich Gedanken über die jeweiligen Vorteile dieser beiden Ansätze gemacht.

PRO: Missionen abhaken (Luise)

Manche Rollenspielsysteme bieten sich dafür an, die Spielenden „einfach mal machen zu lassen“. Mit minimalem Vorbereitungsaufwand für die Spielleitung (der Hauptschauplatz sollte beschrieben werden, dazu eine Handvoll NSC und vielleicht ein schwelender Konflikt oder zwei, die früher oder später wichtig werden können) und maximalem Charakterspiel der Gruppe ergibt sich der Plot ganz von selbst. Das gilt aber bei weitem nicht für alle Szenarien. Denn es gibt nun einmal Systeme, die danach verlangen, reinzugehen und den verdammten Auftrag auszuführen!

Natürlich hat euer Charakter auch ein Leben jenseits des Auftrags. Sicher ist es wichtig für die Spielerin der knallharten Adeptin, dass ihr Hund nur Biofleisch frisst und dass sie jeden Samstag „Karl-Kombatmage Reloaded“ schaut, aber sind diese Informationen für die Mitspielenden wirklich ebenso wichtig? Oder werden die dadurch eher ausgebremst? Abgesehen davon bieten sich manche Szenarien nicht gerade dazu an, dass die Charaktere ihr Privatleben mit dem Rest der Gruppe teilen.

Im Folgenden will ich zwei Hauptargumente für das stringente Abhaken von Missionen ohne viel Schnickschnack vorbringen – das eine im Hinblick auf äußere Zwänge der Spielenden, das andere aus der In-game-Perspektive.

Wir haben doch keine Zeit!

Kennt ihr das? Es ist ca. 23:30h, eigentlich sollte seit einer halben Stunde Schluss mit Rollenspielen sein, da einige aus der Gruppe am nächsten Tag früh raus müssen, und der eigentliche Plot hat entweder noch gar nicht oder frühestens vor einer Stunde begonnen? Wenn die Spielleitung jetzt den unvermeidlichen Cut macht, geht am nächsten Spielabend möglicherweise noch mal genau so viel Zeit drauf, wieder ins Spiel hineinzufinden. Was war doch gleich unser Auftrag? Wie hieß die Bar, in der wir Mr. Johnson treffen? Haben wir ihn überhaupt schon getroffen? Auch wenn es etliche Gründe für Trödeln am Spieltisch gibt, ist einer der häufigsten doch, dass die Gruppe, oder noch schlimmer, nur ein Teil davon, erst einmal ihr Privatleben besprechen musste. Das nervt besonders bei regelmäßigen, aber kurzen Spielabenden.

Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, sich etwa im Shadowrun-Universum abseits der Mission zu vergnügen: Es wurden ganze Quellenbücher darüber geschrieben. Generell ist es immer positiv zu sehen, wenn ein Charakter aus mehr als nur Attributen und Fertigkeiten besteht und auch Hobbys sowie Vorlieben, Freundschaften und Probleme abseits des Jobs hat. Wenn diese allerdings das Spiel übernehmen, entsteht häufig ein Ungleichgewicht zugunsten eines oder einiger weniger Gruppenmitglieder. Andere sitzen dann oft daneben und warten auf den Plot – nicht zuletzt auch die Spielleitung. Denn die hat ja Arbeit in die Vorbereitung, vor allem des vorliegenden Auftrages gesteckt. So lobenswert Charakterspiel ist, so frustrierend kann es sein, wenn das Privatleben der Charaktere das Spiel ausbremst.

Der Spielabend sollte nicht gänzlich in der Wohnung der Charaktere verbracht werden. Foto © Ian King für Catalyst Game Labs

Das zu vermeiden, empfiehlt sich besonders dann, wenn ein One-Shot gespielt wird – also das Abenteuer idealerweise noch am selben Abend beendet sein soll. Szenarien mit klaren Aufträgen – wie bei Shadowrun – sind genau deswegen ideale Kandidaten für One-Shots, weil sie darauf ausgelegt sind, dass im eigentlichen Plot das Privatleben der Charaktere keine Rolle spielt. Wenn alle Anwesenden sich mit voller Konzentration auf den Auftrag einlassen, können alle Spaß haben. Wenn aber einige das Leben ihrer Charaktere interessanter finden als den Plot, bremst es den Rest der Gruppe aus. Respektvoller Umgang mit den Mitspielenden gebietet hier, sich dem zeitlichen Rahmen entsprechend zu verhalten.

Nie ohne mein Team?

Ein weiteres Argument dagegen, dass Charaktere ihr Leben im Detail mit dem Rest der Gruppe teilen ist, dass sie vielleicht einen guten Grund dafür haben, dieses eher geheim zu halten. Gerade in Shadowrun, dessen Protagonist*innen sich per Definition außerhalb des Gesetzes bewegen, ist Diskretion eine vernünftige Sicherheitsmaßnahme. Gewiss gibt es gerade auch hier die Gruppen, die darauf schwören, immer mit demselben Team zu arbeiten, das dann vielleicht sogar zusammen wohnt und zu einer etwas dysfunktionalen, aber nicht unamüsanten Familie verwächst.

Ich würde, bei aller Liebe zur Sitcom, allerdings behaupten, dass diese Gruppen in den Sprawls der Sechsten Welt eine Ausnahme darstellen. Denn wie wahrscheinlich ist es, dass genau die Fähigkeiten dieser Charaktere für jeden Auftrag, den die Gruppe annimmt, gebraucht werden? Magieanwender*innen beispielsweise sind immer nützlich, aber für manchen eher techniklastigen Job vielleicht nicht ideal geeignet. Umgekehrt ist es wenig sinnvoll, nicht Erwachte auf eine Quest in die Astralebenen zu schicken. Stattdessen kann es Freude machen, wechselnde Charaktere zu spielen und auch mal einen anderen „Hut“ im Team aufzusetzen. Mit etwas Geschick der Spielleitung können so ganze Kampagnen am selben Schauplatz mit unterschiedlichen Charakteren gespielt werden. Denn Missionen abzuhaken, muss nicht zwangsweise bedeuten, dass es gar keinen Metaplot gibt. Der Verzicht auf die Lebenssimulation eröffnet die Möglichkeit, mehr am Plot teilzunehmen, und sich weniger in kleinteiligem Fluff-Spiel zu verlieren.

PRO: Lebenssimulation (Norbert)

Shadowrun ist ein Rollenspiel mit sehr einfacher Prämisse: Professionelle Verbrecher*innen gehen ihrem Tagesgeschäft nach. Sie alle sind Spezialist*innen mit einer klaren Agenda: gute Nuyen für dreckige Arbeit. Selbst bei einer Konzerntruppe, bei der das Verbrechertum wegfällt (so zumindest die Konzernpropaganda), machen die Beteiligten am Ende des Tages nur einen Job.

Ein Standard-Run folgt der immer gleichen Struktur: den Run annehmen, planen, durchführen, unvermeidlich auftretende Probleme lösen, Belohnung einsammeln. Und dann wieder von vorne? Nur repetitiv Schema F runterrattern ist kein Rollenspiel. Natürlich verändern sich einige Dinge in jedem Run, aber der Rollenspielanteil findet in der Regel zwischen den Runs statt.

Warum sollte man also darauf verzichten? Warum sollte man nicht die Zeit zwischen zwei Aufträgen, die Tage, Wochen oder gar Monate, die der Charakter erlebt, auch spielen wollen?

Wenn nicht jetzt, wann dann?

„No woman, no kids, that’s the rules.“ – Léon: The Professional

Während eines Runs sind Charaktere Profis – zumindest so gut sie es hinbekommen. Ein bisschen Rollenspiel geht dabei immer, aber falls sich im Feuergefecht eine Grundsatzdiskussion über die Prinzipien eines Chummers, der keine Frauen erschießt, anbahnt, gibt es vielleicht Tote, wenn die Konzernsicherheit keine reine Herrengesellschaft ist. Wir alle wissen, dass man in verschiedenen Momenten des Lebens auch verschiedene Masken trägt. Die ganzen tollen Nachteile, die so charakterbildend bei Shadowrun sind, haben während eines Runs vielleicht ab und an mal regeltechnische Nachteile, aber wirken sie sich wirklich aus?

Niemand wird in kritischen Momenten lange den Charakterhintergrund ausführen. Foto © jigbigdig.gmail.com

Warum bringt der Auftragskiller keine Frauen um, warum hat der Typ namens Jurgen immer eine Kaffeemaschine dabei und warum ist die Waffenspezialistin Ally so gut in der CZ von Chicago vernetzt? Das sind die Geschichten, die man nicht wirklich gut erzählen kann, wenn man mit Beinarbeit vor einem Run beschäftigt ist oder gerade einen Babysitterjob macht. Dann geht es darum, die effektivsten Wege zu gehen, die richtigen Fragen zu stellen und nicht vom Johnson über den Tisch gezogen zu werden.

In den Phasen zwischen den Runs lernen sich Charaktere kennen, bauen Beziehungen zueinander auf und erzählen mehr oder weniger ihre Geschichte. Selbst wenn sie es nicht den anderen Charakteren gegenüber machen, erfahren es doch die Spieler*innen. Emotionen sind im Rollenspiel wichtig, sie sorgen für Charakterentwicklung abseits von Werten und machen den Unterschied aus zwischen dem Abarbeiten einer Aufgabe und der Immersion, ohne die Rollenspiel nicht funktioniert.

Rollenspiel ist soziales Erzählspiel

„Et tu, Brute?“ – William Shakespeare: Julius Caesar, Akt 3, Szene 1

Im Rollenspiel geht es um das Miteinander. Dieses Miteinander gelingt besser, wenn sich Spieler*innen kennengelernt und aufeinander eingestimmt haben, und noch viel besser, wenn auch die Charaktere miteinander verbunden sind. Nicht umsonst geht der Trend zu Verknüpfungen während der Charaktererstellung.

Betrug und Verrat sind in der Welt von Shadowrun ein häufiger Gast, das gehört einfach dazu. Es ist aber unschön, wenn es innerhalb einer Gruppe passiert. Hintergeht ein Charakter die Gruppe im entscheidenden Moment, um persönlichen Vorteil daraus zu ziehen, hat maximal eine Person daran Spaß. Im besten Fall ergibt sich daraus eine spannende Geschichte, die aber den*die Verräter*in ins Abseits stellt. Im schlimmsten Fall sterben Charaktere oder eine Gruppe zerstreitet sich. Daran ist wenig reizvoll.

Verrat in der Gruppe führt meist zu Frust. Foto © tipchai | depositphotos.com

Natürlich muss man nicht die WG spielen, in der zwei Charakter ein Kind adoptieren, aber eine gewisse Art von Bindung zueinander bringt das gemeinschaftliche Spielen voran. Für ein völlig fremdes Gruppenmitglied riskiert niemand das eigene Leben, wenn der Auftrag auch ohne diesen Charakter abgeschlossen werden kann. So bleibt ja auch mehr von der Bezahlung übrig. Es macht um einiges mehr Spaß, wenn die Charaktere auf die eine oder andere Art zusammenwachsen und man diesen Prozess am Ende nacherzählen kann: „Weißt du noch damals?“

Weniger Origin, mehr Neues

„Was sind denn eure Spezialitäten?“
„Ich krieg‘ ganz ordentliche Spiegeleier hin…“
„Trollpommes.“
„Soykaf.“

Wenn sich völlig Fremde zusammenfinden, die der Johnson für einen Auftrag ausgesucht hat, weil sie die Qualifiziertesten sind, muss man erstmal abstecken, wie die anderen drauf sind. Magier ist nicht gleich Magier und Sam nicht gleich Sam. Jeden Abend eine neue Gruppenkonstellation und wechselnde Charaktere kann eine Zeit lang reizvoll sein, sorgt aber für immer die gleichen Gespräche. Das ist öde.

Persönliche Bindungen helfen auch, neue Ansätze zu finden und die Story zu erweitern. Es geht ja meist nicht um „den Plot“, der durchgebracht werden muss. Statt des ewig gleichen Treffens mit dem Johnson von Konzern XY kann man die Charaktere an ihrer Vergangenheit packen, sie in die Pflicht nehmen. Doch an wen sollen sie sich wenden, wenn jeder Run nur mit Zweckgemeinschaften absolviert wurde? Wie viele Runner können ihre Kolleg*innen ernsthaft angemessen bezahlen?

Hilfe für die Freundin aus Kindertagen oder eine gemeinsame Connection, die Opfer eines Attentats wurde, sind Anlässe für persönliche Runs. Diese Runs bringen Tiefe in die Charaktergeschichte und brechen mit dem standardisierten Prozess: Annahme des Runs, Planung, Durchführung, Probleme, Belohnung. Rollenspiel ist so viel mehr als das.

Fazit

Rollenspiele wie Shadowrun und Recon folgen einem klaren Ablauf und lassen Spieler*innen nicht im Ungewissen darüber, was ihr Ziel ist. Das kann natürlich eine Lüge sein, die ihnen aufgetischt wird, aber dennoch bekommen die Charaktere ein Ziel, das sie zu erreichen versuchen. Stört es dabei, wenn man die Hintergrundgeschichte der Charaktere ausspielt, ihre Beziehungen und das Leben abseits dieser Aufträge?

Auf der einen Seite kann man vertreten, dass es für kurze Spielabende, One-Shots oder einfach allgemein hinderlich sein kann, wenn der der Plot nicht in Bewegung gerät. Mit jeder Nacherzählung davon, was das letzte Mal passiert ist, und jedem Abschweifen in die tiefen Hintergründe der Charaktere, streckt sich der Abend. Für knackige und actionreiche Abende ist das mehr als hinderlich. Auch bietet die Spielwelt von Shadowrun zum Beispiel durchaus Gründe dafür, nicht zu viel zu verraten und somit auch die Option auf spontane Charakterwechsel oder gar Charakterpool-Lösungen.

Auf der anderen Seite besteht Rollenspiel daraus, eine Rolle zu spielen. Wenn die Hintergründe der Charaktere keine Daseinsberechtigungen haben, braucht man sie erst gar nicht zu erstellen. Wenn die Beziehungen und Verbindungen nicht ausgespielt werden, was während der Aufträge schlecht geht, verliert man viel der Immersion. Außerdem wird das gemeinsame Spielen durch Beziehungen und Verbindungen zwischen den Charakteren erst so richtig gut. Um das repetitive Konzept nicht nervig werden zu lassen und aufbrechen zu können, um es spannend und abwechselnd zu halten, sollte man außerdem Charaktere wieder auftauchen lassen. Damit wird es zwangsweise eine zumindest erweiterte Stammgruppe an Charakteren geben, die sich irgendwann mal näher kennenlernt.

Es könnten noch viele Argumente für beide Spielansätze gebracht werden, denn beide haben ihre Daseinsberechtigung: Manches eignet sich eher für One-Shots und anderes für lange Kampagnen. Am Ende muss die Gruppe einig sein, wie sie es für sich umsetzt.

Artikelbilder: © Olivier26 | depositphotos.com, © Ian King für Catalyst Game Labs, © tipchai | depositphotos.com, © jigbigdig.gmail.com | depositphotos.com
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Susanne Stark

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