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Auf der Spielemesse 2012 in Essen sprangen mir die kunstvollen Geländebauten des Wolsung Steampunk Skirmish Game ins Auge. Am Stand erfuhr ich, dass das Tabletop auf einem polnischen Rollenspiel basiert, welches just zur Spielemesse auch auf Deutsch verfügbar sein sollte – „irgendwo da hinten links.“ Mein Interesse war geweckt, und nach einigem Suchen gelang es mir, bei der Redaktion Phantastik ein Exemplar der englischen Übersetzung zu ergattern.

Erscheinungsbild

Beeindruckend. Das ist das erste, was mir zu dem Regelwerk eingefallen ist. Das A5-Buch hat den Umfang eines größeren Romans, oder aber eines umfassenden Fachbuchs – und das entsprechende Gewicht. Was das Format an Portabilität bringt, nimmt das Gewicht sofort wieder.

Das Buch hat ein Farbcover, innen ist es jedoch durchweg schwarzweiß gehalten. Obwohl der Text gelegentlich durch Bilder aufgelockert ist, wirkt das Layout beim Durchlesen des Buches auf Dauer leider recht trist und ermüdend. Positiv: Randkästen liefern regelmäßig Ideen zum Spiel, um der eigenen Kreativität auf die Sprünge zu helfen.

Ein großer Teil des Buches besteht aus der Beschreibung der Welt, jedoch wird nur ein grober Überblick geboten, in dem jedes Land kurz angerissen wird.

Nicht umsonst heißt das Buch in Polen liebevoll „Cegła“ („Der Ziegelstein“).

Die harten Fakten:

  • Verlag: Studio 2 Publishing, Redaktion Phantastik
  • Autor(en): Artur Ganszyniec, Maciej Sabat
  • Erscheinungsjahr: 2012 (Original: 2009)
  • Sprache: Englisch (Original: Polnisch)
  • Format: A5
  • Seitenanzahl: 512
  • ISBN: 978-83-61659-02-2
  • Preis: 26,95 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon (Klick), Sphärenmeisters Spiele (Klick)

 

Die Spielwelt

Wolsung-cover

Der Hintergrund ist gut ausgearbeitet, die Kontinente sind nur oberflächlich beschrieben.

Wolsung spielt in einer Welt, die man am ehesten als „Shadowrun-Steampunk“ beschreiben könnte.

Die Regeln

Wolsung ist ein Storytelling-System (im klassischen Sinn). Viele Regeln sind leider nur oberflächlich beschrieben, mögliche Auswirkungen werden teilweise nur angerissen.

Die Grundmechanik ist sehr einfach: Man würfelt mit 10-seitigen Würfeln und versucht dabei, einen Mindestwurf zu erreichen. Der Standard-Mindestwurf ist dabei die 10, und die Charaktere haben am Anfang zwei Würfel zur Verfügung, von denen sie das bessere Wurfergebnis nehmen. Fertigkeiten erhöhen den Wurf um +3 (untrainiert), +6 (ausgebildet) oder +9 (Spezialisiert). Boni, Vorteile und/oder Ausrüstungsgegenstände können den Mindestwurf senken, Mali heben ihn an.

Wolsung benutzt explodierende Würfel. Die Stufe des zur Fertigkeit gehörenden Attributes gibt an, ab welchem Ergebnis ein W10 als 10 gewertet und erneut gewürfelt wird.

Die können auf mehrere Aktionen aufgeteilt werden, man kann also dadurch so viele Aktionen versuchen, wie man Würfel hat. Wenn alle Würfel eines Wurfes eine 1 zeigen, ist dies ein Patzer – das Aufteilen der Würfel erhöht also die Patzerwahrscheinlichkeit, worauf die Regeln netterweise auch hinweisen. Wenn die Charaktere aufsteigen, erhöht sich irgendwann auch die Anzahl der verfügbaren Würfel.

Wolsung bricht alle möglichen Situationen auf drei Herausforderungstypen herunter: Soziale Herausforderung, Kampf und Verfolgung. Diese werden und anhand von vorgegebenen Anhaltspunkten identifiziert sehr unterschiedlich abgehandelt. Die Abgrenzung ist leider nicht immer sehr einfach. Neue Spielleiter müssen hier leider etwas Lernarbeit investieren, damit das erste Spiel funktionieren kann.

Desweiteren hat jeder Spieler Spielkarten zur Verfügung, die er gemäß seines Archetypen einsetzen kann, um Spielszenen zu beeinflussen. Die Idee ist sehr interessant, allerdings sind die Auswirkungen leider sehr schwammig beschrieben. So ist beispielsweise nicht immer ganz klar, wann genau der Karteneinsatz zu erfolgen hat.

Zusätzlich zu den Karten erhält jeder Charakter noch sogenannte Token. Der Beruf bestimmt, wie die Token gewonnen werden, und wie sie ausgegeben werden dürfen, um ebenfalls das Spiel damit zu beeinflussen.

Interessanterweise gibt es keine negativen Sanktionen für die Charaktere: Sie können nicht sterben, und einmal gekaufte besondere Ausrüstung darf vom Spielleiter nicht weggenommen werden. Auch der Finanzstatus der Charaktere kann nicht sinken.

Kritik

Die Charaktere sind sehr attributslastig. Der Fähigkeitswert gibt einen Bonus von 3 bis 9, ein einfacher Reroll gibt schon einen „Bonus“ von 10. Dadurch ist die Fähigkeit leider desöfteren völlig irrelevant für den Ausgang der Aktion.

Beispiel: Ein sehr geschickter Charakter, der nicht Fechten kann, besiegt problemlos einen Fechtmeister mit hohem Fertigkeitswert. Ein Socializer, der fast keine Social Skills hat, dafür aber ein extremes Charisma, kann ebenfalls enorme Werte erreichen.

Durch die extremen Würfelmöglichkeiten werden die Charaktere im Spiel leider oft nicht so abgebildet, wie man sie entwickelt hat.

Dadurch unterstützen die Regeln leider zu einem gewissen Maße Slapstick-Spiel, da andauernd unrealistische und unvorhergesehene Dinge passieren. Das wird stark unterstützt von der Tatsache, dass die Charaktere nichts zu verlieren haben – ja, noch nicht einmal sterben können.

Charaktererschaffung

Die Charaktererschaffung läuft wie in den meisten Storytelling-Systemen. Aus einer Vielzahl gut beschriebener Wahlmöglichkeiten wählt man sich seine Charaktermerkmale:

  • Rasse
  • Archetyp (Beeinflusst die Möglichkeiten, Karten einzusetzen)
  • Beruf (Beeinflusst die Startausrüstung und die Rückgewinnung der Tokens)
  • Ausrüstung (Dafür gibt es Kaufpunkte)
  • Vorteile (Auch hier gibt es eigene Kaufpunkte)
  • Fertigkeiten (3 Spezialisierungen auf +9, 6 gute auf +6, der Rest auf +3)

Nach jeder Spielsitzung sucht sich der Spieler aus einer langen Liste ein Achievement aus, welches er an diesem Abend erreicht hat. Schon während des Spiels schreibt er sich einige mögliche Achievements auf, erreicht hat er davon nur eines, wenn der Spielleiter zustimmt.

Nach ca. 15 Achievements steigt der Ruhm des Charakters und er erhält einen weiteren W10. Bei 35 Achievements erfolgt eine weitere Steigerung.

Spielbarkeit aus Spielleitersicht

Die Regeln sind einfach zu lernen, enthalten aber auch unlogische Elemente. Beispielsweise würfelt bei einer Verfolgungsjagd im Taxi nicht der Taxifahrer, sondern der Spieler, da NSC nicht für die Spieler würfeln.

Das Regelwerk ist so gut geschrieben, dass es an jeder Stelle nach kurzem Lesen Inspiration für mögliche Abenteuer liefert. Während des Spiels muss man nur selten zum Regelwerk greifen, beispielsweise für Zaubersprüche. Tabellen etc. braucht man nur selten, und nach zwei bis drei Spielabenden kann man das Buch im Grunde zur Seite legen.

Die Spieler bekommen grundsätzlich ein Achievement pro Runde, egal, was sie tatsächlich gemacht haben. Dadurch ist der spieltechnisch wichtigere Teil des Aufstiegs von der tatsächlichen Leistung der Charaktere unabhängig. Wer zweimal die Woche eine Stunde spielt, steigt schneller auf, als jemand, der einmal im Monat 10 Stunden spielt.

Es ist schwer, Herausforderungen für alle Charaktere zu erzeugen, da die Stärken und Schwächen der Charaktere sehr unterschiedlich sein können. Durch die Achievements sollten aber alle Charaktere in einer Spielsitzung (nicht nur im Abenteuer) einmal gefordert werden. Der Spielleiter muss dafür die Charaktere sehr gut kennen.

Die Exploding Dice erschweren dies noch einmal zusätzlich.

Das Spiel ist schön für One-Shots, aber für Kampagnen nur bedingt geeignet.

Spielbarkeit aus Spielersicht

Wolsung ist ein Erzählspiel, gewürfelt wird nur unterstützend, wenn überhaupt.

Die Steampunk-Welt ist stark idealisiert und verwendet viele Klischees. Je mehr Steampunk man schon kennt, desto leichter findet man in die Spielwelt hinein. Fast alles, was man aus Literatur oder Filmen kennt, kann man auch im Spiel umsetzen.

Man kann dadurch zwar seinen Wunschcharakter sehr schön ausgestalten. Leider machen die tatsächlichen Regeln große Teile dieser Individualisierung überflüssig.

Preis-/Leistungsverhältnis

Allein die Masse an Hintergrundmaterial und Regelwerk rechtfertigen den Preis, wenn man bereit ist, die Nachteile in Kauf zu nehmen. Das Regelwerk ist ausbaufähig.

Bonus/Downloadcontent

Auf der Website des Verlages finden sich neben einigen Informationen genereller Art auch Charakterbögen und anderes um Download: Klick

Fazit

Die Spielmechanik zerstört leider oft die Atmosphäre. Im Spiel schlagen oft selbst ernste Situationen in Slapstick um, sobald gewürfelt werden muss, da hier seltsame Dinge passieren können.

Tiefergehende Informationen finden sich im Blog unseres Gastautoren Klaus: Spiele im Kopf (Klick)

Daumen3maennlich

Artikelbild: Studio 2 Publishing

 

9 Kommentare

  1. Daher haben wir den Link nochmal auf Klaus‘ Rezension gegeben, weil er a) für uns auch schreibt und b) einen anderen Ansatz fährt. Gemeinsam sollte das Bild stimmen.

  2. Ich stimme da schon zu — Wolsung ist leider nicht mein Spiel, auch wenn ich das Setting schön finde. Aber auch wenn ich versuche, objektiv auf die Regeln zu gucken, habe ich halt das Problem, daß sich die Charaktere im Spiel völlig anders darstellen, als man sie erschaffen hat — und das würde leider auch in der spaßigsten Runde ein wenig meinen Spilspaß trüben.

  3. „Das Fazit klingt so als wären erwünsch­ter Spiel­stil in Wol­sung und Rezen­sent nicht kompatibel …“

    Das sollte auch nicht zwingend eine Kritik an der Rezi sein. Ist ja vielleicht sogar nützlich, wenn man weiß, was der Rezensent sonst so bevorzugt, um daraus etwas für sich abzuleiten.

    Mir jedenfalls gefällt es, wenn es „Weird“ wird, gerade zu Pulp passt das (imho) – und ich vermute, in diese Richtung geht es vermutlich.

    Naja, ich hoffe mal auf ne deutsche Version ;)

  4. Ich muss der Rezension in allen Punkten zustimmen. Ich habe mir auch die zweite Rezension durchgelesen und habe den Eindruck, der Rezensent hat das Buch gelesen, aber das Spiel nicht gespielt. Den genau so ging es auch mit. Als ich das Regelwerk gelesen habe (da ich selbst aus Polen stamme, kenne ich das Setting schon länger) war ich sehr begeistert, ähnlich wie Klaus. Nach dem ich das Spiel gespielt haben kam ich zu der gleichen Einschätzung wie Henning.

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