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Attack on Titan ist einer der heißesten Manga- und Anime-Titel der 2010er-Jahre. Nun hat sich Erfolgsautor Antoine Bauza der Materie angenommen und ein Würfelspiel erdacht, welches durch sein vertikales „Spielfeld“ ins Auge sticht. Kann die Kombination funktionieren oder ist Attack on Titan – Das letzte Gefecht nur etwas für echte Fans?

Antoine Bauza ist ein ziemlicher Spieleautoren-Tausendsassa geworden. Der Franzose zeichnet sich für hochdekorierte, moderne Spieleklassiker wie 7 Wonders (und den Ableger 7 Wonders Duel) oder Hanabi verantwortlich, aber auch für Geheimtipps wie Last Bastion oder eher skurrile, kleine Spiele wie Super Cats. Nun hat er sich an eine wahrhaftig „riesige“ Manga-Lizenz gewagt und das Spiel Attack on Titan – Das letzte Gefecht zusammen mit Ludovic Maublanc (der mit ihm schon bei Super Cats zusammengearbeitet hat) entwickelt. Die Hit-Serie aus der Feder von Hajime Isayama begeistert nun seit mehr als zehn Jahren das Publikum und hat neben einer Anime-Adaption auch Videospiel- und Realfilm-Ableger nach sich gezogen.

Das Spielmaterial.

Wie bringt man die beiden Komponenten aus Spielemacher und durchaus brutalem Quellmaterial möglichst massentauglich auf den heimischen Spieltisch? Bauza hat sich an dieser Stelle für ein taktisches Würfelspiel nach dem Prinzip „One versus many“ mit einigen „Push your Luck“-Elemente entschieden. Trotz einigen guten Erfahrungen in den letzten Jahren ist eine gewisse Grundskepsis gegenüber Produkten mit berühmter Lizenz durchaus angebracht. Vor gar nicht allzu langer Zeit haben wir X-Men: Aufstand der Mutanten für euch getestet und kein gutes Urteil fällen können. Teilt Attack on Titan – Das letzte Gefecht dieses Schicksal? Auf der einen Seite ist dies zu befürchten, denn ähnlich wie bei X-Men gibt es auch hier ein dreidimensionales Objekt, welches als Teil des Spielfelds genutzt wird. War es bei der Marvel-Lizenz noch lediglich der Blackbird, der als Startpunkt diente, sind es hier direkt ein circa 35 Zentimeter hoher Titan und ein etwas kleinerer Wachturm, auf denen sich die Spielfiguren bewegen dürfen.

Andererseits hat Antoine Bauza schon mit 7 Wonders bewiesen, dass er mit einem vermeintlich simplen Mechanismus ein taktisch anspruchsvolles und motivierendes Spielerlebnis erschaffen kann. Wir schauen uns für euch an, ob er es erneut geschafft hat oder ob es ein Spiel mit hübscher Verpackung, aber zweifelhaftem Inhalt ist.

Spielablauf

Zu Beginn des Spiels müssen sich die Spielenden entscheiden, wer in die Rolle eines der vier spielbaren Titanen schlüpft. Dies hat nicht nur kosmetische Auswirkungen, sondern beeinflusst die Spielmöglichkeiten und verfügbaren Taktiken und erhöht den Wiederspielreiz. Die Seite der Menschen hat die Auswahl aus insgesamt acht verschiedenen Charakteren der Serie. Jeder Charakter besitzt eine individuelle Spezialfähigkeit. Diese sind der erste Indikator, dass sich die beiden Autoren mit der Materie befasst haben. Die Fähigkeiten passen hervorragend zu den Figuren. So kann der eher intellektuelle Armin Taktikkarten der Menschen beeinflussen. Eren, ganz der Teamplayer, kann anderen Charakteren Würfel überlassen, die eiskalte Killerin Mikasa ihre Angriffssymbole verdoppeln und die Kommandantin Hanji von überall den Kanonen den Schießbefehl geben.

Diese Fähigkeiten sind nicht nur gut getroffen, sondern auch sehr wichtig auf dem Weg zum Sieg für die Truppe der Menschen. Denn nur wenn eine der beiden Taktikkarten „Nackenstich“ oder „Auslöschung“ erfolgreich eingesetzt wird, kann diese Seite gewinnen. Als Titan gewinnt man, indem alle Einwohnermarker gefressen wurden, ein Charakter der Menschen getötet wurde oder alle Kanonen auf dem Wachturm zerstört wurden.

Die Charaktere.

Das Spiel läuft über mehrere Runden, die aus sieben, schnell verinnerlichten Schritten bestehen. Zunächst darf der Titan zwei Aktionskarten auswählen. Eine wird offen, die andere verdeckt ausgespielt. Dies ist ein cleverer Mechanismus um sowohl die Unberechenbarkeit der Titanen als auch die Erfahrung des Aufklärungstrupps spielerisch darzustellen und erfordert vorausschauendes Denken. Denn die beiden in dieser Runde gespielten Karten sind für die nächste gesperrt. Ist dies getan, würfeln die Menschen. Dies kann gleichzeitig geschehen. Die Spielenden dürfen ihre Würfel so oft neu werfen, bis sie das gewünschte Ergebnis ausliegen haben, um Aktionen auszuführen oder um die Bedingungen der ausliegenden Taktikkarte zu erfüllen. Lediglich geworfene Titan-Symbole müssen liegen bleiben. Denn diese gehen, wenn alle ihren Wurf endgültig stehen lassen, an den Titanen.

Hier wird auf geschickte Art und Weise das Dilemma der Kämpfenden eingebaut: Geht man auf Nummer sicher oder riskiert man eine Attacke des Titanen, um möglichst viel Schaden anzurichten? Dieser kann mit den so zur Verfügung gestellten Symbolen die Fähigkeiten des in dieser Partie gewählten Titanen ausführen. Beispielsweise ist Heilung möglich, das Verletzen von Held*innen oder das Fressen von Einwohner-Markern. Hier zeigt sich eine große Balancing-Schwäche des Spiels: Im Zwei- oder Drei-Personen-Spiel sind nur zwei menschliche Charaktere mit je fünf Würfeln dabei. Somit gibt es für den Titan einen sehr kleinen Würfelpool für seine Fähigkeiten. Denn diese benötigen zwischen drei und fünf Titan-Symbole, um aktiviert zu werden. Die Seite wird dadurch sehr geschwächt, während die Seite der Menschen sogar durch leichteres Ausspielen der Taktikkarten einen Vorteil erhält. Der kleine Würfelpool schränkt die Menschen wenig bis kaum ein. Es dauert im Zweifel zwei, drei Runden länger, bis der Titan genug geschwächt ist.

Einwohner-Marker und Titanleiste.

Titan-Symbole, die in dieser Runde nicht ausgegeben werden, gehen an die entsprechenden Personen zurück und dürfen neu geworfen werden. Sind die Würfel gefallen, schreitet erneut die Titan-Seite zur Tat. Die Aktionskarten werden abgehandelt, es sei denn, die Menschen können und wollen die auf den Karten abgedruckten Würfel-Symbole ausgeben, um eine oder gar beide Aktionen zu verhindern. Egal ob verhindert oder nicht, ist hiernach der Aufklärungstrupp im sechsten Schritt an der Reihe und kann die verbliebenen Würfel ausgeben. Die Reihenfolge ist dabei vollkommen frei und gibt den Teilnehmenden eine überraschend große Möglichkeit zu taktieren. Neben dem bereits mehrfach erwähnten Titan-Symbolen bieten die ansehnlichen Würfel aber noch weitere Möglichkeiten.

Die Würfel.

Mit dem Bewegen-Symbol können sich die Menschen auf den verschiedenen Ebenen bewegen. Mit dem Schwert-Symbol kann der Titan verwundet werden, ebenso mit dem Kanonen-Symbol. Falls eine Aktionskarte des Titanen nicht verhindert werden konnte, ist es einzelnen Charakteren noch möglich mit zwei Ausweichen-Symbolen einer Attacke gezielt auszuweichen. Das letzte der Symbole zeigt das stilisierte Emblem des Aufklärungstrupps. Dieses Symbol erlaubt das Manipulieren des Taktikkarten-Stapels. Diese Karten sind der zentrale Schlüssel für die Menschen, um das Spiel zu gewinnen. Jede dieser Karten besitzt drei Bedingungen (meist, dass Charaktere auf einer bestimmten Ebene bestimmte Symbole ausgeben müssen), die erfüllt werden können um entweder einen besonders starken Bonus für die Held*innen zu aktivieren, oder das Spiel zu gewinnen. Bei letzterem Fall ist eine der drei Bedingungen immer, dass die Lebensanzeige des Titanen in der Todeszone sein muss. Um die Bedingungen erfüllen zu können, kann man statt der eigentlichen Aktion eines Würfelsymbols dieses für die Taktikkarte nutzen.

Die Taktikkarten offenbaren das zweite große Balancing-Problem. Im Zwei- oder Drei-Personen-Spiel müssen nur zwei der drei Bedingungen erfüllt werden. Lediglich bei den beiden spielgewinnenden Taktiken ist wenigstens noch vorgegeben, dass der Titan in der Todeszone und ein Charakter in Nackennähe (der einzigen Stelle, wo ein Titan tödlich verwundet werden kann) ist. Dies gepaart mit dem oben beschriebenen Würfelpool machen es dem Titanen fast unmöglich, diese speziellen Partien zu gewinnen.

Die Taktikkarten.

Ist am Ende des sechsten Schrittes keine Siegbedingung eingetroffen, wandern alle Würfel zu den Spielenden zurück und der Titan füllt seine Aktionskarten wieder auf.

Ausstattung

Der Turm und der Titan.

Das rechteckige Format der Spielschachtel erinnert schwer an düstere Verbrechen von Milton Bradley aus den 1980er- und 1990er-Jahren. Doch mit dieser Vermutung tut man den Verantwortlichen unrecht. Das Format passt ideal für das vorgefertigte Sortiersystem und vor allem für den Korpus des Titanen. Eine quadratische Box wäre bei diesem Spiel schlicht Materialverschwendung gewesen. Die Sortierung ist praktisch und alles hat seinen klar zuzuordnenden Platz.

Die Haptik der Pappkomponenten ist überragend. Da der Titan und der Wachturm nach jeder Partie auseinandergebaut werden müssen, um wieder in den Karton zu passen, liegt die Vermutung nahe, dass der Karton schnell abnutzt und einreißt. Aber die Einzelteile sind überraschend dick und die Verbindungspunkte mit genügend Spiel versehen, um nicht wackelig zu sein und kein Quetschen zu verursachen. Dadurch sieht unser Titan noch immer frisch aus. Die Würfel sind angenehm schwer und die Spielkarten gleiten durch ihre Beschaffenheit gut. Das Mischen ist dadurch auch bei den größeren Karten krampffrei möglich.

Die verschiedenen Titanen.

Grafisch lebt das Spiel von den Artworks, die aus der Anime-Adaption bekannt sind. Dadurch fällt es gerade Fans der Serie sehr leicht, sich schnell in das Spiel hineinziehen zu lassen.

Leider kann die Anleitung nicht mit der Qualität des restlichen Materials mithalten. Zwar ist auch hier das Papier und die reine Druckqualität sehr gut, aber der Inhalt ist nahezu unbrauchbar. Die Anleitung wirkt sehr gehetzt geschrieben, als ob jemand das Spiel in fünf Minuten mündlich erklären müsste. Dies war so schlimm, dass die Testrunde aufgegeben hat und auf Regelvideos zurückgegriffen hat. Die Erklärungen sind in dem Heftchen eine riesige Wall of Text, die zwar mit einer thematisch passenden Schriftart auf einer thematisch passenden Textur vorzufinden ist, in dieser Kombination aber schlicht physische Kopf- und Augenschmerzen machen. Dass bei den durchaus brauchbaren Beispielen teilweise falsche Grafiken eingesetzt wurden, setzt dem Ganzen die Krone auf. Die Übersicht über den Rundenablauf auf der U4 tröstet dann etwas über den Rest der Anleitung hinweg, da diese wirklich hilfreich ist.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Asmodee; Don´t Panic Games
  • Autor*in(nen): Antoine Bauza, Ludovic Maublanc
  • Erscheinungsjahr: 2021
  • Sprache: Deutsch
  • Spieldauer: 30 Minuten
  • Spieler*innen-Anzahl: (2) (3) 4 5
  • Alter: ab 10 Jahren (wir empfehlen aufgrund der Thematik das Spiel erst ab 14 Jahren)
  • Preis: ca. 36 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

Bonus/Downloadcontent

Auf der Webseite von Asmodee gibt es die deutsche Anleitung zum Download.

Fazit

Attack on Titan – Das letzte Gefecht hat sehr positiv überrascht. Wir hätten nicht gedacht, dass ein Spiel, das eigentlich aus eher wenigen Würfeln und Karten besteht, so viel Tiefgang bieten kann. Das beginnt schon bei der Auswahl der Titanen und Charaktere, die maßgeblich über den Verlauf einer Runde entscheiden. Die Spielmechaniken spiegeln sehr plastisch den Todeskampf zwischen den Menschen und den Titanen wider, ohne dabei unnötig kompliziert zu werden. Die Regeln des Spiels sind superschnell erklärt und verinnerlicht, die einzelnen Schritte gehen flüssig ineinander über. Auch die vermeintlichen Downtime-Sequenzen für die Titan-Spielenden durch das Taktieren mit den Würfeln sind verschmerzbar.

Durch die Diskussionen fällt es leichter sich in die Gegenseite einzufühlen, um die eigene Taktik in der nächsten Runde anzupassen. Und ein bisschen liebevoll-neckischer Trash-Talk, um die Konzentration zu stören, kann bei einem solchen Spiel auch nicht schaden. Wären da nicht die massiven Balancing-Probleme im Zwei- und Drei-Personen-Spiel hätte Attack on Titan – Das letzte Gefecht möglicherweise die Höchstbewertung erhalten. So ist es ein sehr solides und spaßiges Spiel, welches mit viel Liebe zum Detail die berühmte Vorlage effizient ausnutzt. Fans dürften begeistert sein und auch die Spielenden, die mit der Serie nicht in Berührung gekommen sind, werden abgeholt.

 

  • Sehr gute Adaption der Manga- und Anime-Vorlage
  • Wenige Regeln und doch überraschend tiefgängig
  • Hochwertiges Spielmaterial
 

  • Massive Balancing-Probleme im Spiel zu zweit oder dritt
  • Der Glücksfaktor schadet der taktischen Tiefe
  • Anstrengende und fast unbrauchbare Anleitung

 

Artikelbilder: © Asmodee
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Jessica Albert
Fotografien: Tim Billen
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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