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Auf der Suche nach der verlorenen Stadt: Achtung! Cthulhu 2D20 schickt seine Charaktere mit Shadows of Atlantis auf eine weltumspannende, archäologische Schnitzeljagd in acht aufeinander aufbauenden Kapiteln. Es gilt Rätsel zu lösen, uralte Artefakte zu entdecken und, natürlich, Nazis zu bekämpfen. Worauf warten wir also?

Atlantis geht immer. Die sagenumwobene Stadt unter dem Meer inspiriert Werke von Pulp-Literatur – zu der wir Pulp-Rollenspielsettings hier einmal großzügig zählen wollen – seit über einem Jahrhundert. Mit Shadows of Atlantis legt Modiphius für sein Achtung! Cthulhu 2D20-System eine Kampagne vor, die ihre Held*innen auf die Jagd nach dem versunkenen Utopia schickt. Ob sich, abgesehen von der systeminhärenten Weltkriegskulisse, darin eine interessante neue Variante auf dieses Thema findet, lest ihr hier.

Inhalt

Eines wird schon beim Blick auf die Seitenzahl klar: Shadows of Atlantis ist kein Schnupperabenteuer, sondern ein komplexes Kampagnenbuch. Darin werden die SC – beziehungsweise Agent*innen, wie das Buch sie durchgehend nennt – in acht aufeinander aufbauenden Kapiteln auf eine archäologische Schnitzeljagd geschickt, die sie nicht nur um den gesamten Erdball, sondern bisweilen in die lovecraftschen Traumlande führt. Jedes Kapitel ist ein komplettes Abenteuer, das im Allgemeinen auf Vorwissen aus den vorherigen aufbaut. Wer interessiert ist, die Kampagne zu leiten, sollte eine Gruppe von Spielenden finden, die ernsthaft Spaß an cthulhoiden Welten und historischen Szenarien mit einem Schuss Pulp und ein wenig Spionagekrimi hat.

Die Kampagne führt die Charaktere zu ungewöhnlichen Orten und fast um die ganze Welt.

Die Charaktere sind, so ist es vorgesehen, Agent*innen in britischen Diensten, noch bevor der zweite Weltkrieg tatsächlich ausgebrochen oder die im Grundregelwerk beschriebene „Section M“, zuständig für alles Übernatürliche im Krieg, offiziell Teil der britischen Armee geworden ist. Das macht weiter nichts, denn selbstverständlich sitzen die Verantwortlichen für Section M schon in den Startlöchern, um die Gruppe anzuleiten. Für diese NSC wird der Gamemaster’s Guide gebraucht, für die Regeln der Player’s Guide.

Wettlauf nach Utopia

Vorsicht: Ab hier häufen sich Spoiler für den Plot.

Mit einem Mord in Wien – irgendwann nach dem so genannten „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland, aber vor dem Überfall auf Polen – an einem bekannten Archäologen beginnt die Kampagne und entwickelt sich rasch zu einem Wettlauf gegen okkulte Mächte. Denn es wird schnell klar, dass auch andere dasselbe suchen wie die Spieler*innencharaktere – nämlich die Mutter aller MacGuffins, die versunkene Stadt Atlantis. Genauer gesagt, eine mysteriöse Maschine atlantischer Bauart, deren Einzelteile von den letzten Überlebenden nach dem Untergang an unterschiedlichen Teilen der Erde versteckt wurden. Die Gruppe soll diese nun finden und idealerweise korrekt zusammenfügen, bevor die für Hitler arbeitende (und, wie immerhin der SL bekannt sein sollte, mit außerirdischen Mächten im Bunde stehende) Fraktion der Nachtwölfe dasselbe tut. Und diese sind, wie zu erwarten ist, nicht gerade zimperlich in ihren Methoden.

Mit den Nachtwölfen und ihren Verbündeten ist nicht gut Kirschen essen.

So weit, so klassisch. Die Kampagne hält sich dabei an die erst im 19. Jahrhundert aus Platos Dialogen zu einer ernsthaften Legende zusammenfabulierte Atlantisgeschichte: Vor etlichen Jahrtausenden lebte eine hochentwickelte Zivilisation irgendwo im Atlantik (daher der Name), bis sie die Götter erzürnte und durch diese von der Erde getilgt wurde. Und weil die Spielwelt die von H.P. Lovecrafts Cthulhu-Mythos ist, sind die Götter in Wahrheit mächtige außerirdische Wesen, die ihre ganz eigene Agenda haben. Wichtig ist außerdem, dass die Atlanter*innen ihrer Zeit geistig und technologisch weit voraus waren, vielleicht selbst gar keine Menschen. Die wenigen Überlebenden brachten den sonst etwas zurückgebliebenen menschlichen Kulturen etwas von ihrer überlegenen Technik bei und förderten so ihre zivilisatorische Weiterentwicklung.

Die kolonialen Stereotype, die diese Geschichte seit ihrer Entstehung bedient, haben sicher auch den von Archäologie begeisterten und für seinen Rassismus bekannten geistigen Vater des Cthulhu-Mythos beeinflusst. Diese werden durch den übergreifenden Plot der Kampagne Shadows of Atlantis leider kaum in Frage gestellt: Die Agent*innen arbeiten sich von Europa nach Asien vor und enden schließlich in Grönland: Ultima Thule. Innerhalb der Kapitel ist immerhin der Wille zu erkennen, die Geschichte von ihren kolonialen Ursprüngen abzukoppeln und sie verzichtet weitgehend auf rassistische Stereotype. NSC, sowohl die hilfreichen als auch die feindlich gesinnten, sind keine Pappkameraden, sondern mit Empathie beschrieben. Ähnliches gilt für die vielen verschiedenen Kulturen, denen die Charaktere auf ihrer Weltreise begegnen. Gerade in den investigativen Teilen der Abenteuer findet sich viel Liebe zum Detail und einige Easter Eggs für Archäologie-Nerds.

Hier ist der Plot, einen anderen haben wir nicht

Etwas inkohärent ist dabei, wie viel Eigenleistung von der Spielleitung gefordert ist. In manchen Kapiteln wird einfach vorausgesetzt, dass die Agent*innen dem Plot folgen. Das irritiert besonders dann, wenn dieser sehr eigenartige und ungewöhnliche Handlungen vorsieht, die man ohne direkten Befehl auch von Militärangehörigen nicht unbedingt erwarten kann (etwa eine Reise in die Traumlande zu machen). In anderen wiederum werden alternative Szenarien beschrieben, die eintreffen, falls die Spielenden sich dem Plot verweigern. Es bleibt unklar, nach welchen Kriterien das geschieht. Möglicherweise müssen die Situationen, zu denen keine Alternative gegeben wird, als Aufruf zum Railroading gelesen werden: Hier ist der Plot, einen anderen haben wir nicht.

Dazu ist nicht immer klar, wie sich die Kapitel aneinander anschließen. Das fällt vor allem im Übergang von Kapitel 3, das in Ägypten spielt, zu 4 und 5, in Nepal und Indien auf. Kein wirklich auffälliges Indiz aus den ersten drei Kapiteln, die ihrerseits logisch aufeinander aufbauen, ergibt einen zwingenden Grund, ausgerechnet in Indien weiterzusuchen, was zu Fragen bei den Spielenden führen könnte. Es wird dafür immerhin die Möglichkeit gegeben, dass an dieser Stelle eine andere Gruppe, wenigstens mit neuen Charakteren, den Faden aufnimmt, aber das führt erfahrungsgemäß zu Frustration, wenn Spielende sich gerade in ihren Charakter eingefunden haben. Nach diesem Bruch sind die Kapitel wieder einigermaßen logisch aufeinander aufgebaut.

Sollte man sich in der Tat entschließen, die Kampagne mit zwei verschiedenen Gruppen von Charakteren, vielleicht sogar zwei verschiedenen Spieler*innengruppen zu spielen, könnte sich gegen Ende eine Möglichkeit ergeben, diese zu einer Gruppe zusammenzuführen. Das sei allerdings nur empfohlen, wenn man Erfahrung mit großen Gruppen hat.

Trotz der Weltkriegskulisse, vor der sich die Kampagne abspielt, ist sie nicht übermäßig kampflastig. Die Lösung der Einzelabenteuer ist oft – in klassischer Cthulhu-Manier – eher auf investigative als kämpferische Fähigkeiten der Charaktere ausgelegt. Immer wieder hat auch die Spielleitung die Möglichkeit, einen Endkampf mehr oder weniger gefährlich zu gestalten, wenn er sich denn nicht ganz vermeiden lässt. Aber natürlich sind die Gegner*innen unserer held*innenenhaften Charaktere nicht ganz ohne. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Gruppe scheitert – ein gruseliges Szenario, das dann allerdings zu weiteren Abenteuern führen mag.

Es kann auch mal zur Sache gehen. Ansonsten sind eher investigative Fähigkeiten gefragt.

Erscheinungsbild

Das Layout des Kampagnenbuchs entspricht dem des Grundregelwerks. In Blau gehalten, wie der Gamemaster’s Guide, mit Illustrationen nicht überfrachtet, aber immer wieder schön gestaltet, hält er das Leseerlebnis angenehm. Bisweilen wäre es schön gewesen, wenn die Illustrationen auch das abbilden, was im Text beschrieben wird und wichtigen NSC ein Gesicht geben würden. Dies ist allerdings nur hin und wieder der Fall. Regelmäßig stehen dafür aber Bodenpläne der zu entdeckenden archäologischen Strukturen zur Verfügung, was für Planung und Kampfszenen sehr hilfreich ist.

Wie im Grundregelwerk bereichern Zitate, die an den Rändern wie hingekritzelte Tagebucheinträge stehen, das Ambiente. Der Schreibstil ist generell elegant und gut lesbar, und die Beschreibungen der Szenerie tragen ebenfalls positiv zum Ambiente bei. Das PDF ist mit einem Index versehen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Modiphius
  • Autor*innen: Bill Heron, John Houlihan, Lynne Hardy
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: Englisch
  • Format: Druck, PDF
  • Seitenanzahl: 236
  • ISBN: 978-1-912743-75-9
  • Preis: 15,75 USD (PDF), 26,24 EUR (Print), 41,95 EUR (PDF + Print)
  • Bezugsquelle: Fachhandel, DriveThruRPG, Sphärenmeister, idealo

 

Fazit

Shadows of Atlantis ist eine komplexe, aus acht Kapiteln aufgebaute Kampagne, die die Charaktere auf verschiedene Kontinente, in die lovecraftschen Traumlande und sogar nach Ultima Thule führt. Jedes Kapitel ist dabei ein vollwertiges Einzelabenteuer, das investigatives Talent, kreative Lösungsansätze und immer wieder auch ein gewissen Kampfgeschick erfordert. Die unerschrockenen Held*innen im Dienste der britischen Krone müssen rätselhafte atlantische Technologie vor einer brutalen Fraktion von Kultis*innen im Dienste Adolf Hitlers entdecken und in Sicherheit bringen. Es ließe sich hier kritisieren, dass die Autor*innen mit Atlantis hier das wohl älteste Kaninchen der archäologisch inspirierten Pulp-Literatur aus ihrem Hut ziehen, aber Klassiker sind ja nicht umsonst Klassiker.

Die Kampagne ist grundsätzlich gut aufgebaut, wenn auch die SL bisweilen die ein oder andere Lücke ausbessern müsste, um sie zwischen den einzelnen Kapiteln voranzubringen. Die Kapitel selbst sind logisch aufgebaut und machen beim ersten Lesen schon einmal Spaß. Besonders für an Archäologie und Geschichte Interessierte finden sich darin immer wieder Easter Eggs, was ebenfalls Freude bringt.

Der kolonialistische Unterton, der der Atlantissage anhängt, fällt leider weitestgehend unter den Tisch und bleibt damit in gewisser Weise unwidersprochen. Wer darüber für das Spiel hinwegsehen kann, oder gar eine Möglichkeit findet, dies im Plot zu thematisieren, kann mit dieser archäologischen Schnitzeljagd aber etliche erfreuliche Spielabende füllen.

  • Komplexe Kampagne
  • Investigativ
  • Schöne Beschreibungen
 

  • Nicht immer kohärent
  • Kein echtes Infragestellen kolonialer Narrative

 

Artikelbilder: © Modiphius
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Sabrina Plote
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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