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Gute Vorausplanung und die Wahl der richtigen Aktionen gehören bei Eurogames zu den Basiselementen. Precognition wirbt mit einem neuartigen Mechanismus, mit dem Spielende begrenzt „in die Zukunft“ schauen und ihre künftigen Aktionen sehen können. Ist das nur ein Gimmick oder eine faszinierende neue Möglichkeit?

Die Welt ist mal wieder untergegangen. Irgendeine nicht näher benannte Katastrophe hat zuerst fast alle Menschen ausgelöscht und den Großteil der Überlebenden danach ihrer Gedanken und Emotionen beraubt. Nur wenige Ymune waren immun gegen diese Effekte – daher auch ihr künstlich wirkender, mystifizierter Name. Aber es gibt Licht im Dunkel: Es wurde eine Alge entdeckt, die die Krankheit rückgängig machen kann – zumindest für ein paar Tage. Unter den Ymunen fanden sich sogar vier Personen, die durch die Alge gar die Fähigkeit erlangten, in die Zukunft zu blicken.

So erfuhren sie von einem Ort, an dem eine bessere Zukunft auf die Menschheit wartet. Die Vier machten sich also mit jeweils einem Boot auf die Reise dorthin auf und versuchen nun, andere Ymune zu rekrutieren und möglichst viele Menschen gesund an diesen Ort zu bringen.

So viel zur Geschichte hinter Precognition, die wir wie bei den meisten Eurogames aber sogleich vergessen. Denn weder ist sie besonders interessant, noch findet sie sich im eigentlichen Spielverlauf besonders gut wieder. Erwähnenswert ist sie allenfalls, weil sie Teil eines erkennbaren Trends des letzten Jahres ist: Postapokalypse, gerade in Verbindung mit Krankheiten, hat, sicher nicht zuletzt durch Covid-19, eine kleine Renaissance erlebt. Revive spielt in einer zukünftigen Eiszeit, Planet B sogar auf einem anderen Planeten, nachdem wir den unseren nicht mehr nutzen konnten, und in Aftermath ist die Menschheit gleich ganz ausgestorben.

Da Themen von Eurogames meist irrelevant sind, müssen diese durch ihre Mechanismen bestechen. Alte Bekannte neu mischen kann funktionieren, reicht aber oft nicht mehr aus, um wirklich aus der Masse hervorzustechen. Also muss ein einzigartiges Element her. Precognition hat hier tatsächlich etwas an Bord: Das Dual-Select-System.

Standardaufbau für drei Personen
Standardaufbau für drei Personen

Spielablauf

Anders als die meisten Regelhefte beginnt das von Precognition nicht mit einer Liste der Komponenten, sondern mit einer Doppelseite, die das Dual-Select-System erklärt. Zu Beginn jeder Runde haben die bis zu vier Spielenden jeweils zwei Karten offen vor sich liegen und ziehen je zwei weitere vom eigenen Stapel. Dazu werden dann die beiden Entscheidungskarten genommen und drei Stapel aus je zwei Karten gebildet. Die einzige Regel dabei: Die Entscheidungskarte, die die mit ihr kombinierte Karte nach links weitergibt, muss auf einer der beiden offenen Karten landen. Die beiden anderen Paare sind einmal zwei Aktionskarten. Diese werden nach rechts weitergegeben und bilden dort die offene Auslage für die nächste Runde. Und zu guter Letzt dann noch eine Aktionskarte, die man selbst in dieser Runde spielt.

Das klingt alles kompliziert, und ist in der Erklärung auch nicht simpel. Aber ein- oder zweimal durchgeführt ist der Mechanismus recht eingängig. Direkte Folge des Ablaufs ist, dass man immer sicher weiß, dass man eine der beiden Karten, die man in der aktuellen Runde nach rechts gibt, in der nächsten Runde als Aktion zurückbekommen wird. Hier kommt die titelgebende Präkognition ins Spiel, denn man kann begrenzt „in die Zukunft schauen“.

Die Aktionskarten der ersten von drei Phasen des Spiels
Die Aktionskarten der ersten von drei Phasen des Spiels

Mit den beiden aktuellen Aktionen – eine selbst gewählt, die andere von rechts zurückerhalten – werden nun kranke Menschen eingesammelt, neue Ymune rekrutiert, Nahrung gesammelt oder Batterien gebaut, die bestimmte Maschinen an Bord des eigenen Schiffes aktivieren. Eine Karte zu benutzen kostet gar nichts, aber will man beide nutzen, muss man eine von den Karten abhängige Anzahl bereits gesunder Menschen wieder krank machen. Wenn die beiden Aktionskarten die gleiche Farbe haben, wird zusätzlich zu deren Hauptfunktion auch die jeweilige Bonusaktion nutzbar.

Nachdem die Aktionen ausgeführt wurden, können aktive Maschinen Boni geben, kranke Menschen werden geheilt und eventuell Gefahrenstufen generiert, die Menschen direkt komplett töten. Zu guter Letzt fahren die Boote weiter auf dem Fluss, und das nächste Plättchen dort wird aufgedeckt. Nach den Runden vier, acht und zwölf müssen dann die gesunden Menschen mit neuer Nahrung versorgt werden, um nicht wieder zu erkranken. In den anderen Runden sind es zufällige Effekte, die alle Spielenden treffen. In den ersten drei Runden positiv, danach immer negativ.

Nach Runde zwölf endet das Spiel, und wer auch immer die meisten gesunden Menschen an Bord hat, gewinnt.

Die Fahrt des Bootes auf dem Fluss erzeugt einen Zufallsfaktor und ist zugleich eine Art Rundenzähler
Die Fahrt des Bootes auf dem Fluss erzeugt einen Zufallsfaktor und ist zugleich eine Art Rundenzähler

Ungewöhnliche Aktionswahl, begrenztes Engine Building, Ressourcen sammeln – Das sind die Mechanismen, die Precognition verwendet. Die Engine ist dabei sowohl wörtlich in den aktivierten Maschinen zu sehen als auch in den Ymunen in der Krankenstation, die jede Runde Menschen heilen können, wodurch nicht nur die Möglichkeit besteht, beide Aktionskarten zu nutzen, sondern auch am Ende des Spiels die eingesammelten kranken Menschen in gesunde verwandelt zu haben, um damit den Sieg zu erringen.

Das entscheidende Element ist aber mit Sicherheit der Dual-Select-Mechanismus, kombiniert mit der Tatsache, dass die Bonusaktionen auf einigen Karten enorm stark sind. Genau hier liegt auch der Knackpunkt: Zum richtigen Moment diesen Bonus aktivieren zu können entscheidet schnell über Sieg oder Niederlage. Wirklich gut beeinflussen lässt sich das aber nicht. Denn selbst wenn man in der Lage ist, zwei gleichfarbige Karten zu übergeben, muss man danach noch immer eine solche Karte ziehen oder selbst in der Auslage haben, um den Bonus dieser Karte bekommen zu können. Auf beides hat man aber keinen Einfluss. So verpufft die Präkognition schnell dadurch, dass man am Ende doch zu wenig Kontrolle über die Aktionskarten hat.

Im Standardspiel sind die Maschinen immer gleich
Im Standardspiel sind die Maschinen immer gleich

Mit zunehmender Erfahrung, und bei Nutzung der Expertenseiten der Maschinen, lässt sich ein wenig besser vorausplanen. Die Karten, die pro Jahreszeit gezogen werden, sind immer die gleichen, und so kann man im weiteren Verlauf der Jahreszeit schon erahnen, was da auf dem eigenen Zugstapel noch liegt. Und die Expertenmaschinen geben Boni dafür, bestimmte Karten zurückzugeben, was die Entscheidung beeinflussen wird. Auch könnte man eine Karte weitergeben, von der man weiß, dass sie genau das ist, was dem*der Nachbar*in fehlt. Dadurch steigt die Chance, die andere Karte zurückzubekommen. Hierdurch entsteht eine ungewöhnliche Art der Interaktion, die in Eurogames ansonsten oft zu kurz kommt.

In der Variante für Expert*innen gibt es insgesamt zwölf verschiedene Maschinen zur Auswahl
In der Variante für Expert*innen gibt es insgesamt zwölf verschiedene Maschinen zur Auswahl

Diese Interaktion findet aber nur mit den Spielenden direkt links und rechts statt. Wird mit vier Spielenden gespielt, interagieren die jeweils zwei gegenübersitzenden Personen quasi überhaupt nicht miteinander. Wenn gerade diese Person am Ende gewinnt, fühlt sich das schnell ärgerlich an.

Ausstattung

Das Artwork auf den Karten ist brauchbar, aber wirkt durch den Nebel, der über vielen Szenen liegt, recht beliebig. Das ist nicht weiter tragisch, da das Thema an sich ja nicht Fokus des Spiels ist. Die verwendeten Symbole für verschiedene Spielelemente sind eingängig und schnell verstanden. Etwas sonderbar mutet vielleicht an, dass für Nahrung das häufig verwendete Symbol des Kornzweigs gewählt wurde, es sich in diesem Spiel aber eigentlich um Algen handeln sollte. Denn wenn es wirklich Nahrung wäre und nicht die besondere Eigenschaft der Algen, dann müssten auch Ymune und Kranke versorgt werden. Da aber nur gesunde Menschen Nahrung brauchen, und wieder zu Kranken werden, wenn sie diese nicht erhalten, kann es sich nur um die in der Geschichte erwähnten Algen handeln. Das mögen ausgeschiedene Korinthen sein, aber es fiel mir einfach auf.

Für Menschen und Ymune, ein Begriff, der als Fantasiewort für Immunisierte sehr aufgesetzt und erzwungen mystisch wirkt, gibt es Holzmeeple, für Batterien und Fünfergruppen aus Menschen und Ymunen Pappmarker. Nahrung und Gefahrenstufe werden auf dem zweilagigen Tableau der einzelnen Spielenden durch Holzwürfelchen auf entsprechenden Leisten eingestellt. Der befahrene Fluss wird durch robuste Papp-Plättchen symbolisiert. Dieses Material ist zweckmäßig und gut bis sehr gut. Lediglich die Batteriemarker könnten größer sein.

Die Plättchen für die Batterien sind recht klein geraten
Die Plättchen für die Batterien sind recht klein geraten

Leider lässt sich das Gleiche nicht unbedingt über die Karten sagen. Diese sind zwar von den Symbolen her klar gestaltet und gut erkennbar, allerdings zeigen einige davon schon nach den gespielten Testpartien Abnutzungserscheinungen an den Rändern. Eine besonders hohe Lebensdauer ist hier also nicht zu erwarten.

Die Haltbarkeit der Karten könnte besser sein
Die Haltbarkeit der Karten könnte besser sein

In der Schachtel findet sich ein rudimentäres, aber nützliches Papp-Inlay, dass das Herumrutschen des Materials einschränkt.

Das Material hat in der Schachtel ausreichend Platz, das Inlay ist nützlich

Die harten Fakten:

  • Verlag: Ludonaute (Asmodee)
  • Autor*in(nen): Julien Prothière
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: Deutsch
  • Spieldauer: 60-90 Minuten
  • Spieler*innen-Anzahl: 2 3 4
  • Alter: 12+
  • Preis: circa 45-55 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Bonus/Downloadcontent

Auf der Produktseite bei Asmodee finden sich unter Zusatzmaterial die Spielregeln zum Download. Auch ein Link zu einem Erklärvideo auf YouTube ist dort zu finden, in dem das Dual-Select-System mittels Animationen erklärt wird.

In den Regeln selbst finden sich alternative Spielmodi: Ein Team-Modus für vier Personen sowie ein kooperativer Modus. Beide wurden nicht getestet und gehen daher auch nicht in die Wertung mit ein. Der kooperative Modus klingt, als würde er thematisch besser zur Geschichte des Spiels passen, und der Dual-Select-Mechanismus könnte kooperativ zu spannenden taktischen Diskussionen und Entscheidungen führen. Ich vermute also, dass dieser Modus durchaus interessant sein könnte.

Die beiden im Spiel vorkommenden Meeple-Arten: Ymune (grün) und Menschen (blau)
Die beiden im Spiel vorkommenden Meeple-Arten: Ymune (grün) und Menschen (blau)

Fazit

Um sich aus der Masse der Eurogames hervorzuheben, brauchen Spiele entweder eine wirklich gute Mischung bekannter Elemente oder etwas Einzigartiges oder Neuartiges. Precognition hat mit dem Dual-Select-System genau so ein Alleinstellungsmerkmal an Bord. Dieser Aktionswahlmechanismus ist Dreh- und Angelpunkt des Spiels, und war zu Anfang etwas sperrig in der Erklärung, dann aber doch schnell verinnerlicht. Leider verpufft die Planbarkeit, die durch den „Blick in die Zukunft“ gewonnen wird, oftmals daran, dass die anderen zur Auswahl stehenden Aktionskarten relativ unplanbar sind. Somit sind die für das Spiel so wichtigen Kombinationen dann wieder schwer und nicht planbar genug zu erreichen. Gäbe es den Bonus für zwei gleichfarbige Karten nicht, wäre das Ganze nicht so tragisch, aber diese Boni sind auf manchen Karten derart stark, dass sie spielentscheidend und wichtiger als die eigentlichen Hauptaktionen sein können. Hier schießt sich der innovative Mechanismus durch Entscheidungen an anderer Stelle selbst in den Fuß.

Precognition ist ein paar Mal interessant zu spielen, um diesen Mechanismus kennenzulernen. Aber schnell vergeht der Spaß etwas, wenn man bemerkt, wie wichtig bestimmte Boni sind, und wie wenig Einfluss man auf die Verfügbarkeit dieser hat. Sehr schade.

Am Ende bleibt zu hoffen, dass wir den Mechanismus vielleicht in einem besseren Spiel wiedersehen, das nicht diese Probleme hat. In diesem seinem ersten Spiel kann er leider nicht wirklich überzeugen. Das heißt nicht, dass Precognition ein schlechtes Spiel ist. Für ein Eurogame bietet es vergleichsweise viel Interaktion – zumindest mit den direkten Nachbar*innen. Aber es gelingt dem Spiel am Ende dann doch nicht, sich weit genug aus der Masse hervorzuheben.

  • Neuartiger Auswahlmechanismus
  • Weitgehend gutes Spielmaterial
  • Relativ kurze Dauer
 

  • Auswahlmechanismus wird durch zu viel Unwägbarkeit untergraben
  • Karten zeigen schnell Abnutzung
  • Thema nahezu irrelevant

 

Artikelbilder: © Ludonaute © Asmodee
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Rick Davids
Fotografien: Holger Christiansen
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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