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Spielen ohne festes Skript ist das Grundprinzip des Rollenspiels, live oder am Spieltisch. Doch auch die Theaterbühne kennt diese Spielform, und sie wird immer beliebter: Improvisationstheater. Wo sich LARP und Theater zwischen Spontaneität und Status begegnen und was ein LARPer von einem Impro-Schauspieler lernen kann, erfahrt ihr hier.

Wenn ich gefragt werde, was dieses LARP eigentlich ist, was ich da mache, behelfe ich mir oft mit einem Vergleich: „LARP ist so etwas wie Improvisationstheater, nur machen wir das ein ganzes Wochenende lang oder noch länger und haben kein Publikum außer uns selbst.“ Das sorgt dann für gewöhnlich zumindest für einen kleinen Aha-Effekt, denn improvisiertes Theater ist den meisten ein Begriff. Doch wie ähnlich sind sich diese beiden Formen des Rollenspiels wirklich?

Was ist Improvisationstheater?

Improvisiertes Theater ohne vorgegebenen Text ist wohl so alt wie das Theater selbst. Schon in der Antike war die Mimesis, eine alltagsnahe Improvisation von einem oder mehreren Darstellern, als Aufführungsform neben dem klassischen Drama bekannt. Durch die immer stärker werdende Hinwendung zu vorher festgelegten Texten und Szenen geriet diese Art des Schauspiels in den Hintergrund, bis die Comedia dell’Arte sie auf breiterer Basis wiederentdeckte und im Italien der Renaissance zur volksnahen Kunstform erhöhte.

Die heutige und bekannteste Form des Improvisationstheaters hat ihren Ursprung in England als eine Idee des Dramaturgen Keith Johnstone, aus dessen Feder auch mehrere Bücher zum Thema stammen. Zwei Gruppen von Schauspielern treten in einem Wettstreit, dem sogenannten Theatersport, gegeneinander an und versuchen, nach jeweils pro Runde vorgegebenen Themen das Publikum am besten zu unterhalten. Die Gruppe mit den meisten Punkten gewinnt den Abend – doch die eigentlichen Gewinner sind alle Beteiligten.

Durch die kurzweiligen Szenen und den Wettkampfcharakter erfreut sich Improvisationstheater und besonders Theatersport großer Beliebtheit. In Deutschland registriert die internationale Plattform improwiki.com 380 eingetragene Gruppen, weltweit sind es über 1000. Die tatsächliche Zahl dürfte noch um einiges höher liegen, und ständig schließen sich neue Gruppen zusammen.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Wo genau jedoch kommt dabei LARP ins Spiel, abgesehen von der Tatsache, dass Rollenspieler unentwegt improvisieren? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede finden sich bei beiden Formaten konkret?

Der Faktor Zeit

Impro-Theater lebt komplett vom und für den Moment. Nichts ist vorher abgesprochen, auch wenn viele Gruppen sehr gut aufeinander eingespielt sind. Während zumindest von Seiten der SL und der NSCs im LARP eine grobe Richtung vorgegeben wird, fehlt dieses Gerüst auf der Bühne vollkommen. Impro-Szenen sind den ungeplanten Begegnungen zweier Charaktere auf einer Con ähnlich, die vorher noch nie miteinander in Berührung kamen. Auch hier ist der Ausgang der Szene völlig ergebnisoffen, nur gelenkt durch die momentane Motivation der beiden Charaktere, was sie also überhaupt erst dazu gebracht hat, sich miteinander zu unterhalten.

Wo LARP grundsätzlich auf fortlaufende Geschichten von Charakteren ausgelegt ist, die sich von Con zu Con immer weiter ausdifferenzieren, sind die Ereignisse und Charaktere des Impro-Theaters kurze Momentaufnahmen, die verworfen werden, sobald das Signal ertönt, die Szene zu beenden. Einzelne Elemente wieder aufzugreifen entspricht nur dann der Praxis, wenn ein Wiedererkennungseffekt beim Publikum erzielt werden soll, der mit entsprechender Anerkennung quittiert wird.

Bei dieser mangelnden Zeit, die Impro-Theater für die Entwicklung von Charakteren aufwendet, bleibt es nicht aus, dass die Charaktere flach erscheinen, oft nur auf eine prägnante Eigenschaft reduziert und klischeebehaftet. In der Theorie heißen diese Charaktere stock characters, also jene, die man ohne große Vorbereitung „auf Lager“ hat. Beispiele wären etwa „der eifersüchtige Ehemann“, „die Femme Fatale“ oder „der Polizist“. Sie sind für das Publikum oft mit nur wenigen Worten oder Aktionen sofort erkennbar und erfüllen eben diesen Zweck: Ohne großen Aufwand lenken sie eine Szene in eine bereits bekannte Richtung. Die Femme Fatale wird verführen, der Polizist wird jemanden verhaften, der eifersüchtige Ehemann wird zur Unzeit nach Hause kommen.

Wie in der Reihe zu Stereotypen im LARP besprochen wurde, ist es auch beim Live-Rollenspiel oft gar nicht schlecht, erwartbar zu sein. LARP lebt von seinen stock characters Priester, Paladin und Co., doch die Herausforderung für einen Spieler besteht eben darin, dem Stereotyp eigenes Leben einzuhauchen, sodass der Charakter Tiefe bekommt und man ihn nicht nur gern spielt, sondern auch gern mit ihm gespielt wird. Die jahrelange Spielzeit eines LARP-Charakters im Gegensatz zu seinem Pendant auf der Impro-Bühne ist hierbei sowohl Chance als auch Imperativ zur Ausgestaltung.

Keine Zuschauer

Mehrfach ist im bisher Gesagten ein bestimmtes Wort gefallen: Publikum. Die Trennung zwischen Spielern und Publikum bleibt in allen Formen des Impro-Theaters immer erhalten. Zuschauer tragen zwar durch Eingaben und Vorschläge zur groben Richtung der Szenen bei, wirken jedoch nicht aktiv mit. Im LARP gibt es kein unbeteiligtes Publikum. Selbst wenn Spieler auf einer Con an einer sich darbietenden Szene nicht direkt beteiligt sind, so nehmen sie diese doch hauptsächlich durch die Augen ihres Charakters wahr und bilden sich dementsprechend ein Urteil. Mag der Spieler selbst eine Konfrontation noch so spaßig finden, die Sicht seines Charakters steht an erster Stelle und färbt seine Reaktion.

Statusspiele

Zum Stichwort Konfrontation hat Keith Johnstone, der Vater des modernen Theatersports, eine eigene Theorie entwickelt, welche sich nicht nur auf Bühnenszenen, sondern auch auf den Alltag der Realität bezieht: Jedem Charakter ist ein bestimmter Status zu eigen, welcher zwar mit seinem sozialen Rang konform gehen kann, das aber keinesfalls muss. Hoch-Status bedeutet im Positiven Selbstbewusstsein, einen forschen Gang, ein einnehmendes Wesen. Negativer Hoch-Status kann sich in Arroganz, Selbstüberschätzung und Ignoranz zeigen, generell auch in der Einstellung, stets im Recht zu sein. Der „typische Lichti“ wäre ein Beispiel für einen Hoch-Status, aber auch die resolute Wirtin, die keine Unruhen in ihrer Taverne duldet und auch schon mal einem Baron auf die Finger klopft.

Dagegen zeichnet niedriger Status sich durch Unterwürfigkeit, schnelles Nachgeben in Konflikten und generelle Schüchternheit aus. Dazwischen gibt es drei weitere Abstufungen dieser Extrempositionen, insgesamt kennt Johnstones Modell also derer fünf. Jede Konfrontation, sogar jede Form der Begegnung laut Johnstone, ist nichts weiter als ein gegenseitiges Ausspielen des Status. Dabei ist der Status eines Charakters nicht auf alle Zeiten festgelegt, sondern kann sich während einer solchen Begegnung durchaus ändern, etwa wenn ein selbstbewusster Anführer vorprescht und nach Misslingen der Aktion Abbitte leisten muss.

Improvisations-Schauspieler setzen diese Techniken bewusst ein, um einen bestimmten Effekt zu erzielen – meist, ohne dass das Publikum es bemerkt. Im LARP hingegen ist die Statustheorie weitaus weniger bewusst im Einsatz, da sie weniger bekannt ist. Auch wenn im LARP konfliktarme Begegnungen direkte Konfrontationen überwiegen, wird dennoch unbewusst oft gerne Konfliktspiel gesucht, weil der Ausgang des gegenseitigen Statusspiels hohen Unterhaltungswert hat. Besonders „spannend“ gestalten sich Konfrontationen dann, wenn zwei oder mehr Hoch-Status-Charaktere mit unterschiedlichen Ansichten aufeinanderprallen. Die gesamte Dynamik des Drachenfestes beispielsweise basiert auf diesem Prinzip: Die Avatare der unterschiedlichen Lager sind gleichrangige Hoch-Status-Kontrahenten, deren zerstörerische Konfrontation durch einen Wettstreit abgewendet wird, an dem sich im Status variable Gefolgsleute der Avatare beteiligen.

Gemeinsam oder gar nicht

Eine Erfahrung macht jeder Spieler ständig, ob er auf der Bühne oder dem Zeltplatz einer Con steht, durch alle Unterhaltungen und Konfrontationen: Alleine geht es nicht. Rollenspiel lebt vom Zusammenspiel, von der gegenseitigen Kooperation und Rücksichtnahme, aber auch vom wachen Einsatz eines jeden. Viele Charakterkonzepte funktionieren nur mit dem Rückhalt anderer Charaktere. Ein Anführer ist nur dann ein Anführer, wenn ihn die Spieler als solchen behandeln, eine Wunde oder Verfluchung braucht das Echo anderer Charaktere und wird sinnlos, wenn sie ignoriert wird. Eine Szene im LARP, an die sich alle erinnern, besteht aus gemeinsamer “Screentime”, aus dem ausgeglichenen Zusammenwirken mehrerer Spieler, die im richtigen Moment entweder vortreten oder sich zurücknehmen. Auf der Bühne braucht es ebenso einen wachen Geist, der genau erkennt, wann man selbst gefordert ist und wann man dem Anderen sein Rampenlicht lässt.

Ein Vorbild für LARP?

Da stellt sich doch die Frage: Wenn unbewusst bereits so viel Improvisationstheater in den Vorgängen rund um LARP steckt – kann dann nicht LARP von den Erfahrungen und den vielfältigen theoretischen Ansätzen des Impro-Theaters profitieren?

Spontan sein

Dazu vielleicht ein weiteres Beispiel, das vielen Spielern so oder ähnlich schon einmal begegnet ist.

Wer kennt sie nicht, die folgende Situation: Gerade eben hat der Schurken-NSC einen epischen Satz gesprochen, der unbedingt Paroli verlangt, eine epische Antwort im Stil eines Helden. Doch während der NSC und jeder Autor eines Skripts, sei es Film oder Buch, Stunden oder Tage dafür aufwenden kann, den Satz in der perfekten Wort- und Tonwahl zu formulieren, bleiben dem Spieler nur wenige Sekunden – und das reicht häufig nicht für den gewünschten Grad an Epik. Die deutsche Sprache kennt, dem Französischen entlehnt, ein Wort für genau diese Situation: Treppenwitz. Die Gewitztheit für die perfekte Antwort, die man jedoch erst hinterher entwickelt, auf der figurativen Treppe nach oben aus der Szene hinaus. Doch dann ist es zu spät, um die Antwort zu geben, und man ärgert sich, dass sie nicht zur Stelle war, als man sie brauchte.

Jetzt mag man einwenden: Na gut, nicht jeder ist so spontan und schlagfertig, das ist eben so. Aber das Improvisationstheater lehrt: Spontan sein kann man lernen!

Kein professioneller Improvisations-Schauspieler stellt sich einfach auf die Bühne und legt los. Hinter der scheinbar angeborenen Spontaneität steckt eine Fülle von Trainingsspielen, die Hemmungen abbauen und schnelles Antworten fördern. Assoziationsketten, Gruppendynamik und Spielen unter Zeitdruck sind nur einige wenige Schlagwörter. Und durch alles zieht sich das Credo: Nicht zu viel nachdenken, machen! Es gibt keine schlechte Improvisation, denn jeder weiß, dass man nicht viel Reaktionszeit hat. Trainingsspiele können helfen, die Angst vor der eigenen Sprachlosigkeit im Moment des Spielens abzubauen.

Wo stehe ich, wo stehen wir?

Gleichzeitig hilft, sich klarzumachen, dass jede Unterhaltung – besonders in einem oft feudal geprägten Fantasy-Setting – ein Spiel mit Status ist, den eigenen Charakter besser zu verstehen und dadurch besser zu spielen. Welchen Status hat mein Charakter, welchen hat mein Gegenüber? Ist er trotz eines hohen Sozialstatus vielleicht kein Anführer? Nicht zuletzt kristallisiert sich im bewussten Statusspiel innerhalb einer Gruppe eben jener Effekt heraus, den Außenstehende als „stimmige“, oft unterhaltsame Gruppendynamik wahrnehmen.

Sag Ja!

Ein Grundprinzip im Improvisationstheater ist die Ja-Regel oder die positive Reaktion. Das bedeutet jedoch nicht, dass einer Provokation nur freundlich begegnet werden sollte, im Gegenteil. „Ja“ zu sagen heißt, ein Spielangebot anzunehmen, auch wenn man mit etwas anderem gerechnet hat, den eigenen Plan notfalls kurzfristig über Bord zu werfen und sich schnell etwas Neues auszudenken. Ein „Nein“ erstickt eine Szene sofort im Keim, während ein „Ja, aber“ neue Spielräume öffnet. Natürlich sollte man nichts bejahen, was grundsätzlich gegen die Prinzipien des eigenen Charakters geht. Ein Spieler, dessen Charakter Vorurteile gegenüber fremden Rassen besitzt, sollte jemanden, der ein Mitglied einer solchen Rasse spielt, nicht unbedingt ignorieren, sondern ihn vielleicht offen angehen. Auch das bedeutet, „ja“ zu einer Szene zu sagen, denn daraus können sich Folgeszenen entwickeln.

Über allem steht zu guter Letzt das Axiom einer jeden Improvisation: Eine Szene gelingt nur, wenn alle gemeinsam daran arbeiten. Und das gilt umso mehr für LARP, wo Charaktere nicht nur für wenige Sekunden bespielt werden, sondern die Spieler gemeinsam eine Welt erschaffen, die im besten Fall über Jahre hinweg besteht – mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen.

Artikelbild: ©ABC

 

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