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Manchmal hat man das Gefühl, alles schon einmal gesehen zu haben. Überall ist man umgeben von grimmigen Zwergen, hübschen Elfen und verchromten Straßensamurai. Gibt es da nichts Besseres? Diesen Gedankengang hatte sicherlich jeder Spielleiter schon einmal. Wir wollen euch heute einige Tipps geben, damit der Versuch nicht zum Rohrkrepierer wird.

Heute wieder aufgelegt, aber damit fing es für viele an - die DSA-Startbox nebst Abenteuer
Heute wieder in neuer Form aufgelegt, aber damit fing es für viele an – die DSA-Startbox nebst Abenteuer

In gewisser Weise leben wir Rollenspieler in einem goldenen Zeitalter. Die Verkaufszahlen der frühen 90er Jahre, in denen DSA-Boxen in jedem Spielzeuggeschäft zu finden waren, werden vielleicht nie wieder erreicht. Dafür war es wiederum noch nie so einfach, sich Inspiration zu suchen und selbst kreativ zu werden. Neben einer – im Vergleich zu früher – gigantisch ausdifferenzierten Produktpalette der professionellen Verlage ist das Internet voll von Eigenkreationen engagierter Spieler.

Mal ganz zu schweigen von der Masse an leicht zugänglichen Sekundärmedien wie Filmen, Serien, Dokumentationen, Hörspielen oder ähnlichem. Wenn man sich von der Masse des Verfügbaren nicht einschüchtern lässt, dann hat man einen wahren Hort an Ideen. Doch trotzdem kommt man immer wieder in die Situation, dass das Vorhandene nicht exakt den eigenen Wünschen entspricht. Mancher Spielleiter verspürt daher früher oder später den Wunsch, etwas vollkommen Eigenes zu erschaffen, um seine eigenen oder die Wünsche seiner Gruppe zu befriedigen. Nur ist es nicht unbedingt leicht, dem Wunsch auch Taten folgen zu lassen. Gerade im Angesicht der Menge von existierenden Settings.

Damit an dieser Stelle nicht die Entscheidungsparalyse einsetzt, sollen in diesem Artikel einige Hilfestellungen aufgezeigt werden, um die eigene Idee auch in eine spielbare Form zu verwirklichen. Um die sehr theoretischen Überlegungen auch greifbarer zu machen, wird am Ende jedes Absatzes ein kurzes Beispiel gegeben, aus dem sich die Skizze einer Kampagnenwelt ergeben soll.

Vorab seien zwei Dinge explizit gesagt. Erstens: In diesem Artikel wird nur und ausschließlich über Hintergründe und Settings-Entscheidungen gesprochen. Der Regelpart wird aus mehreren Gründen bewusst ausgeklammert. Nicht nur würde eine Diskussion der verschiedenen möglichen Regelkerne, potentieller Würfel und deren stochastischen Verteilungskurven den Rahmen sprengen. Der Autor hat auch schlicht nicht genug Erfahrung, um kompetent darüber zu referieren.

Zweitens: Die Ideen hier sind nur ein möglicher Weg an das Ziel der eigenen Kampagnenwelt. Andere Wege sind ebenso valide und können für bestimmte Schreibtypen vielleicht sogar besser funktionieren. Doch nun genug Disclaimer. Steigen wir direkt in den Prozess ein.

Die Basis setzen: Was will ich erreichen?

Zunächst einmal sollte man sich zu Beginn klar machen, was genau man eigentlich erschaffen möchte. Hier sollte man nicht danach streben, etwas vollkommen Neues erschaffen zu wollen. Der Anspruch, etwas von bestehenden Erzähltraditionen vollkommen Losgelöstes zu erschaffen, wird jeden Schreiber früher oder später in die Krise treiben. Von daher sollte man diesen Anspruch am besten direkt von Anfang an fallen lassen. Die Kunst liegt vielmehr in der Rekombination und Variierung bekannter Stilelemente. Wenn man weit genug abstrahiert, lässt sich nahezu jedes – zu seiner Erscheinungszeit originelle – Konzept auf eine grundlegende Kombination vorher bestehender Elemente reduzieren.

Um ein paar Beispiele zu bringen: Shadowrun: Wie wäre es, man nimmt Cyberpunk 2020, aber mixt Fantasy-Rassen und Magie dazu? Earthdawn: Wie wäre es, man nimmt Dungeons and Dragons, aber baut den Hintergrund so, dass es Sinn macht, Höhlen voller Monster und Schätze allerorten zu haben? Vampire the Masquerade: Man nehme die moderne Welt, aber im Verborgenen gibt es jahrhunderteüberspannende Verschwörungen und Machtspieler uralter Vampirclans.

Das sind sicherlich nur ein paar typische Beispiele für eine Kampagne, und die meisten kommen einem heute auch nicht mehr so frisch und originell wie vor zwanzig bis dreißig Jahren vor, aber das grundlegende Prinzip ließe sich problemlos auf aktuelle Titel übertragen. Zunächst also beginnt man im ganz Groben. Mit einem Elevator-Pitch sozusagen. Wenn man sich darüber klar geworden ist, dann kann man anfangen, dem Setting etwas Fleisch auf die Knochen zu geben. Dabei bleibt man bei dieser Methode dem Prinzip „Vom Großen zum Kleinen“ weiter treu.

Ein Wort nebenbei: Es ist auch kein Problem, die spätere Gruppe – so man denn schon eine in der Hinterhand hat – von Anfang an in den Prozess des Weltenbaus einzubauen, um sie so direkt zu involvieren und es hinterher leichter zu machen, den Spielleiterhut weiterzugeben.

Die großen Fakten: Weltenbau aus der Makroperspektive

King for a day von post world games

Der erste Schritt wurde getan, weswegen es Zeit wird, etwas genauer hinzusehen. In diesem Schritt sollte man die grundlegenden Fakten und damit den Zuschnitt des Settings betrachten. Soll es sich um eine ganze Welt wie Lorakis handeln, oder dreht sich das gesamte Setting nur um ein einziges Tal, wie in King for a Day? Dementsprechend setze ich die Grenzen meiner Welt. An dieser Stelle entscheide ich auch bereits mit über den Tenor meiner kommenden Kampagne. Biete ich eine riesige Spielwiese, in der die Charaktere frei sind eine ganze Welt zu durchschreiten, oder will ich einen lokalen Fokus etablieren?

Egal wie ich mich entscheide, an diesem Punkt ist es ratsam, die grundlegende „Kosmologie“ des Settings zu etablieren. Was sind die zentralen Eckpfeiler meines Settings, um die herum ich meine Themen setzen will? Hier können grundlegende Konflikte und Fraktionen der Welt beschrieben werden, vor deren Hintergrund sich später die Handlungsbögen entwickeln können. Nicht zuletzt entsteht hier auch das spezifische Genre des Settings, welches uns in den folgenden Schritten begleiten wird.

Beispiel – Die Welt Concordia

Machen wir an dieser Stelle einmal einen Schritt fort von der Theorie und betrachten das Beispiel einer High-Fantasy-Welt. Sicherlich nicht die seltenste Erscheinungsform eines hausgemachten Settings und in diesem Fall die Basis der Spielrunde des Autors. Zu Beginn stand der Wunsch, eine mehr oder weniger typische Fantasy-Welt zu erschaffen, die gerade dabei ist, sich aus einer Phase der Barbarei und des Zerfalls heraus zu kämpfen. Eine Welt, die einige Jahrzehnte Zeit hatte sich neu zu formen, aber die noch genug in Bewegung ist, dass eine Gruppe entschlossener Individuen ihren Verlauf ändern kann, ohne gleich Jahrhunderte von Traditionen umzustoßen.

Es wurde festgelegt, welche Rassen sich in dieser Welt bewegen, welche Religionen es gibt und was die großen Ereignisse der Vergangenheit waren, die die Welt an den Punkt gebracht haben, an dem das Spiel beginnen soll. Außerdem wurde das grobe Startgebiet festgelegt, das den regionalen Fokus der Kampagne darstellen sollte. In diesem Fall ein Vielvölkerreich, das sich unter der Angst vor der drohenden Endzeit gebildet hat und sich als Garant des Friedens zwischen den zivilisierten Rassen versteht.

Concordia – eine High-Fantasy-Welt mit vielen Völkern

Eine Stufe reinzoomen – Das Startgebiet und seine Umgebung

Nachdem man festgelegt hat, was die Charaktere sein können (Rassen, Klassen, Archetypen und ähnliches) und das Skelett einer Welt erschaffen hat, wird es nun Zeit, etwas mehr Fleisch auf die Knochen zu legen. Unser Startgebiet hat vielleicht einen Namen und eine grobe Geschichte, aber das wird wohl kaum reichen, um es potentiellen Spielern leicht zu machen, sich in die Welt einzudenken. Also geht es nun darum, mehr Details zu definieren, die unmittelbar zu Beginn der Kampagne eine Rolle spielen könnten. Man sollte sich also klar machen, was für die Charaktere als Erstes interessant werden wird und sich darauf konzentrieren.

Dabei hilft es natürlich, wenn man aus Schritt 1 eine ungefähre Vorstellung davon hat, was genau man eigentlich spielen will. Eine Gruppe hartgesottener Söldner eines expansiven Stadtstaats wird andere Ansprüche als eine Gruppe Gelehrter in einem riesigen Campus haben, ganz zu schweigen von der Ansammlung amoralischer Murderhobos, als die sich viele Abenteurergruppen eher früher als später entpuppen.

Hat man eine Ahnung davon was man braucht, dann heißt es zur Tat schreiten und nach dem gleichen Prinzip vorgehen. Sprich, zunächst einmal grobe Eckpunkte festlegen: Städte, Organisationen, Interessengruppen, politische Fraktionen, bedeutsame Orte und so weiter. Danach kann man diese Punkte weiter ausgestalten, sei es mit Fluff-Beschreibungen, damit verbundenen NSC, magischen Gegenständen und so weiter. Am Ende des ganzen Prozesses haben wir eine Region unserer Welt herausgehoben und ausgebaut.

Beispiel – Die Stadt Pecunafurt

Vorgefertigte Karten finden sich an vielen Orten, wie hier zB bei Torn Cities

Die Welt Concordia stand nach dem ersten Schritt, aber es ist natürlich schwierig, gleich eine ganze Welt zu bespielen. Also musste man etwas näher herangehen. Concordia als Ganzes trat in den Hintergrund, und eine einzelne Stadt, die Heimatstadt der meisten SC, trat in den Vordergrund. An dieser Stelle ging es vor allem darum, möglichst gute Anknüpfpunkte für die Spieler zu schaffen, damit die Charaktere direkt mit der Welt interagieren können. Die Stadt wurde zur Freistadt und bekam einen Stadtrat, bestehend aus Mitgliedern der reichsten Handelsfamilien mitsamt den dazu gehörigen internen Machtspielen. Daneben wurden mehrere Organisationen erschaffen, die im unmittelbaren Umland von Bedeutung sind und als Charakteranker oder Plot-Aufhänger dienen können. Außerdem wurden einige Bedrohungen festgelegt, die Plots anstoßen können und generell als Katalysatoren der Ereignisse funktionieren können.

Am Ende dieses Schritts stand also eine oligarchisch geführte Handelsstadt, die im unsicheren Frieden mit den umliegenden Adligen lebt. Nicht nur wird Pecunafurt von den Machtspielen der Handelsfamilien und ihrer wechselnden Bündnispartner paralysiert, es lauern auch noch weitere Gefahren. Unweit der Stadt erhebt sich eine Nekropole aus der Zeit vor dem Zerfall, die Wälder werden von wilden Bestien durchzogen und jenseits der Grenze sammelt das Nachbarreich angeblich Truppen, um alte Ansprüche mit Gewalt durchzusetzen. Insgesamt also eine schöne Bandbreite von möglichen Betätigungsfeldern für eine Gruppe engagierter Abenteurer, die der Welt ihren Stempel aufdrücken wollen.

 

Die letzte Einstellung – Feinschliff und Vorbereitung der Bühne

An sich sollten nun ausreichende Voraussetzungen geschaffen sein, dass man Spieler auf das Setting loslassen kann. Aber wie immer sind Details und Eigenheiten des Systems das Salz in der Suppe. Ehe man beginnt, kann man sich noch Gedanken dazu machen, ob man manchen Elementen noch einen besonderen Dreh oder Kniff angedeihen lassen möchte. Nicht nur hilft das dabei, den eigenen Blick für das Besondere des Settings zu schärfen, sondern Ecken und Kanten helfen auch dabei, den potentiellen Spielern Ankerpunkte zu geben. Immersion im und Engagement mit dem Setting werden so sicherlich einfacher.

Natürlich geht es an dieser Stelle nicht mehr darum, den Kern des Ganzen zu definieren oder einen grundlegenden Twist einzuführen. Vielmehr sollte man diesen Schritt als Politur eines fertigen Produkts verstehen. Sprichwörter der Gegend, lokale Legenden, skurille NSC am Startort, eine beliebte Sportart oder eine aktuelle Mode sind gute Beispiele dafür, wie man dem Setting etwas Würze verleiht, ohne es direkt auszukippen und neu anzusetzen. Aber auch hier gilt die alte Maxime, dass weniger manchmal mehr ist und man bei der Einführung von neuen Elementen mit Bedacht vorgehen sollte. An dieser Stelle haben die Spieler schon einen ganzen Berg an neuen Informationen bekommen, die es zu verdauen gilt. Eine einzelne Erzählung kann helfen, das Gelernte zu strukturieren. Eine Reihe von Erzählungen ist einfach nur mehr Material, das man verarbeiten muss.

Beispiel – Halblinge küsst man nicht

Lästige Halblinge leben in den Wäldern

Concordia, die Stadt Pecunafurt und die unmittelbar umliegenden Gebiete wurden etabliert, aber ein paar kleine Besonderheiten sollten dem Setting noch beschert werden. Am Beispiel einer Rasse und ihrer Besonderheiten in diesem Umfeld möchte ich den Dreischritt zum Schluss kurz illustrieren. In Schritt 1 wurde festgelegt, dass Halblinge eine existierende Rasse sein sollten. Allerdings wurde dann in Schritt 2 festgelegt, dass Halblinge in Concordia nicht dem typischen Tolkien-Bild entsprechen sollen.

An Stelle von gemütlichen, freundlichen kleinen Häuslebauern handelt es sich bei Concordias Halblingen um Waldbewohner, die sich vor den anderen Rassen verbergen und ihre Grenzen mit großem Eifer bewachen. Die anderen Rassen betrachten Halblinge insgesamt als Ärgernis, das Holzwirtschaft, Rodungen und Reiserouten unnötig verkompliziert. Allerdings sind die kleinen und wendigen Wesen schwer zu fassen, und man ist nach vielen fehlgeschlagenen Strafexpeditionen zu einer stillschweigenden Duldung der Waldstämme übergegangen.

Im abschließenden Schritt wurde diesem Themenkomplex dann noch ein Sprichwort spendiert. Da Halblinge ja nun qua Natur recht kleine Gesellen sind, würde ein Schwertstich eines Halblings beim durchschnittlichen Menschen sehr empfindliche Regionen treffen. Eine bewusst herbeigeführte Verletzung in diesem Bereich wird deswegen in der Welt auch als „Halblingskuss“ bezeichnet. Unschwer zu vermuten, dass solche Halbling-Zärtlichkeiten sich keiner gesteigerten Beliebtheit erfreuen.

Abschließende Gedanken – Das Setting als Werkzeug und Leinwand

Wenn man sich durch alle Schritte gearbeitet hat, steht man mit einem spielfertigen Setting da. Sicherlich hat man kein Aventurien erschaffen oder einen World of Darkness-würdigen Metaplot vorgelegt, aber man hat die Leinwand für die eigene Gruppe bereitgestellt und die notwendigen Werkzeuge bereitgelegt, damit es losgehen und die Welt sich entwickeln kann. Denn darin liegt die größte Stärke selbstgeschriebener Settings. Man hat die Möglichkeit, jeden Aspekt der Welt den eigenen Bedürfnissen anzupassen und spontan auf Ideen und Entwicklungen zu reagieren, ohne sich Sorgen über mögliche Inkompatibilitäten mit dem Kanon machen zu müssen.

Von dem Sense of Wonder mal ganz zu schweigen, der sich natürlich viel eher einstellt, wenn man eine Welt im Laufe der Zeit im Spiel neu entdeckt, statt zu versuchen, sich in einer stürmischen See aus Editionskriegen, Retcons und ausufernden Hintergrundbänden zurechtzufinden. Manchmal muss man eben zu neuen Ufern aufbrechen. Ich kann es jedem nur empfehlen, sich zumindest einmal auf das Experiment einzulassen.

Artikelbilder: post world games | grandfailure@depositphotos, Majorgaine@depositphotos, warpaintcobra@depositphotos | Torn World

 

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