Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Seit unserer ersten Betrachtung von Into the Odd im OSR Spotlight sind ein paar Jahre vergangen, das System hat einen festen Kreis von Fans und über den erfolgreichen Kickstarter eine Neuauflage erhalten – Grund genug, sich mit hilfreichen Arcana ausgestattet erneut nach Bastion zu wagen.

Eine fremdartige Welt
Eine fremdartige Welt

Into the Odd zeigte nach seinem Erscheinen 2014, dass man aus dem seit Jahrzehnten bestehenden und in unzähligen Variationen gelebten Oldschool-Prinzip „Jemand will Schätze aus Dungeons holen“ immer noch neue Ideen herausarbeiten kann. Der minimalistische Regelansatz zusammen mit der einzigartig (merk)würdigen, nach industrieller Fantasy anmutenden Spielwelt konnte schon bald viele Fans für sich begeistern, und die Creative Commons-Lizenz für das Regelsystem zieht bis heute viele Dutzend Erweiterungen, Hacks, Zusatzregeln und Vieles mehr nach sich.

So war es auch kaum überraschend, dass der Kickstarter, den Free League für die Neuauflage Into the Odd Remastered realisiert hat, mit über 4000 Unterstützer*innen schnell abgeschlossen werden konnte. Chris McDowall, der Autor der ersten Edition, zeigt sich auch für die Überarbeitung verantwortlich. Derzeit ist das Buch nur für die Backer verfügbar und soll voraussichtlich im Oktober in den Handel gelangen.

Die Spielwelt

Auf nur drei Seiten wird die eigentliche Spielwelt „The Odd World“ nur rudimentär und schlaglichtartig mit ein paar Absätzen zur Hauptstadt „Bastion“, der umliegenden Wildnis und weiteren Städten beschrieben.

Das kurze Kapitel sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in den anderen Kapiteln reichlich Eindrücke zur Spielwelt vorhanden sind. The Odd World will kein ausführlich beschriebenes Setting sein, welches mit Beschreibungen zu Landstrichen, Kulturen und Geschichte zum Träumen verführt, sondern vielmehr engagierte und fantasievolle Menschen dazu einladen, die Welt selbst mit Ideen und Leben zu füllen.

Als Inspiration dienen die stimmungsvollen, teilweise surreal anmutenden, collagenhaften Illustrationen, ein paar Beispiele großer Persönlichkeiten und die Beschreibungen der ungewöhnlichen Monster sowie der „Fallen Marsh“ (siehe unten), die man auch außerhalb des mitgelieferten Szenarios nutzen kann.

Mit dem „Oddpendium“ erhält man schließlich auf den letzten 20 Seiten eine reichhaltige Sammlung von Zufallstabellen, deren besondere Themen den ungewöhnlichen Hintergrund noch einmal unterstreichen: Von üblichen Einwohner*innenlisten über seltsame Kreaturen, arkane Kulte bis zu Auswirkungen von Essen in der Tabelle „I eat the stuff“ erhält man hier einen reichhaltigen Fundus, an dem man sich bedienen kann.

Inspirierende Tabellen
Inspirierende Tabellen

Ausgangspunkt der Spielgruppe ist immer Bastion, ein Moloch von einer Stadt, die von dampfenden Fabrikschloten, düsteren Kulten und marodierenden Banden beherrscht wird. Die einzige Möglichkeit, hier etwas zu werden, sind die Mächte der fremdartigen Gegenstände, die „Arcana“ genannt werden und deren Funktionsweise man erst einmal herausfinden muss. Jedes dieser Artefakte ist einzigartig, weshalb sich niemand davon trennen möchte. Deshalb gilt: Du hast ein Arcana – oder du musst es dir nehmen. Besonders wagemutige Entrepreneur*innen begeben sich für die Suche nach diesen Gegenständen auf gefährliche Expeditionen in die Tempel, Gewölbe und teilweise verstörend seltsame Wildnis um Bastion. Im besten Fall kommt man mit Schätzen und Artefakten zurück, die einem Macht, Ruhm und Reichtum verleihen – oder man öffnet versehentlich ein Einweg-Portal in die Hölle.

Sollte man Arcana gefunden haben, gilt es, ihre Funktionsweise und Natur herauszufinden, denn nicht alle sind gleich mächtig:

  • Leichter zu findende Arcana zeigen beispielweise auf den Ort eines beliebigen, gewünschten Objektes oder erlauben es, alles zu essen, ohne dass einem etwas passiert.
  • Größere Arcana kann man vielleicht dazu benutzen, den Körper mit jemandem zu tauschen oder riesige Tentakel zu beschwören.
  • Legendäre Arcana sind mächtige Relikte, die meist von Einzelnen oder ganzen Fraktionen kontrolliert werden – wie etwa eine Kugel aus reiner Dunkelheit, in der alles verschwindet.
Beispiele für Arcana
Beispiele für Arcana

The Iron Coral

Mit 55 Seiten nimmt das Abenteuer The Iron Coral mehr als ein Drittel des Buches ein, was schon ein klares Indiz dafür ist, worum es in Into the Odd gehen soll: Expeditionen in Dungeons, um mächtige Arcana zu bergen

Dazu sollten sich in The Iron Coral viele Gelegenheiten bieten: Mit über 60 beschriebenen Räumen auf drei Ebenen und einer zusätzlichen Hex-Landkarte für die „Fallen Marsh“ die gefährliche Gegend, in welcher sich die Iron Coral befindet, handelt es sich hier um eine größere Expedition, die weit mehr als nur ein Spielabend einnehmen dürfte.

Für jedes Level gibt es darüber hinaus ganz im Geiste alter Oldschool-Abenteuer eine Tabelle mit passenden Zufallsbegegnungen wie auch eine Gerüchteliste für die „Fallen Marsh“.

Außerdem warten die Raumbeschreibungen mit einer cleveren Notation auf: Am Ende einer Raumbeschreibung deuten Pfeile in die Richtungen, in denen sich Durchgänge zu weiteren Räumen befinden. Damit kann man als SL auf der Karte schnell navigieren und die Bewegungen der Spielgruppe nachvollziehen – eine exzellente Hilfestellung.

Raumgestaltung des Iron Coral
Raumgestaltung des Iron Coral

Die Regeln

Into the Odd baut grundsätzlich auf den Oldschool-D&D-Regeln auf – so findet man kurze Regelungen für Gruppenmoral von Gegner*innen, Blast-Schaden, den Umgang mit plötzlichen Charaktertoden und den Reaktionswurf und so weiter. Dazu wurden aber moderne Bestandteile wie lange und kurze Rast eingebaut.

Die größte Abweichung dürfte aber die Reduktion des Grundmechanismus auf die drei Rettungswürfe gegen Strength, Dexterity und Willpower sein, die neben den W6 Lebenspunkten und dem Schadenswürfel der Waffe (die üblicherweise von W6 bis W8 reichen) die einzigen Werte sind, die ein Charakter aus Into the Odd hat.

Daraus leitet sich auch eine leicht andere Spielphilosophie ab: Es wird grundsätzlich nicht auf alles gewürfelt und dann geschaut, ob es klappt oder schiefgeht. Vielmehr dienen die Rettungswürfe dazu, einer konkreten Gefahr aus dem Weg zu gehen. Wenn keine Gefahr droht, wird gar nicht gewürfelt und die Aktion gelingt.

Damit ist es Aufgabe der Spielenden, die Situationen genau abzuwägen und Wege zu finden, die möglichst sicher sind, kluge und wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen und nach alternativen Lösungswegen zu suchen, was ganz im Sinne der OSR-Bewegung ist.

Denn Charaktere sind äußerst sterblich: Ein Angriff trifft immer, es wird daher direkt der Waffenschaden ausgewürfelt und mit den Lebenspunkten verrechnet. Sind diese auf 0, wird der Rest von Strength abgezogen und ausgewürfelt, ob man am kritischen Schaden stirbt.

Charaktererschaffung

Auswahlmatrix für die Startausrüstung
Auswahlmatrix für die Startausrüstung

Ein Into the Odd-Charakter ist schnell erstellt: Mit 3W6 werden die Eigenschaften ausgewürfelt. Je nach Kombination aus erwürfelten Lebenspunkten und Wert des maximalen Attributes ergibt sich ein Ausrüstungspaket, was eventuelle niedrige Werte durch bessere Waffen ausgleicht.

Damit ist ein Charakter komplett – komplexe Hintergründe, Vernetzungen, Kulturen und dergleichen sind, wie bei OSR-Spielen üblich, nicht vorgesehen. Der Fokus liegt explizit darauf, mit einem neuen SC möglichst schnell wieder ins Spielgeschehen einsteigen zu können, sobald jemand stirbt.

Erscheinungsbild

Der für das einzigartige Artwork verantwortliche Grafiker Johan Nohr mag einigen schon durch das aufgrund der eigenwilligen Aufmachung berüchtigte Mörk Borg ein Begriff sein.

Für das neue Into the Odd wurde ein Stil gewählt, der durch collagenartige Zusammensetzungen von Holzschnitten, Zeichnungen, Fotos und aus alten Sachbüchern entlehnte Illustrationen den surrealen Charakter der Spielwelt weiter unterstreicht.

Gestützt wird die Optik durch ein übersichtliches, leicht lesbares Layout. Das Buch kommt im handlichen A5-Format, nimmt damit am Spieltisch kaum Platz weg. Index und ein farbiger Buchschnitt mit Kapitelunterteilungen machen das Buch noch besser handhabbar. 

Farben im Buchschnitt als Kapitalmarker
Farben im Buchschnitt als Kapitalmarker

Die harten Fakten:

  • Verlag: Bastionland Press
  • Autor*in(nen): Chris McDowall
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: Englisch
  • Format: A5 Hardcover
  • Seitenanzahl: 144
  • ISBN: 978-91-89143-60-9
  • Preis: ca. 36,95 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Sphärenmeister

 

Bonus/Downloadcontent

Wer noch Unterstützung für den OSR-Spielstil braucht, findet mit dem OSR-Primer oder der deutschen OSR-Fibel einen kostenlosen und hilfreichen Überblick. Für die online erhältlichen Zusatzinhalte für Into the Odd gibt es hier eine filterbare Übersichtsliste.

Fazit

Into the Odd ist ein waschechtes OSR-System, erwähnt dies aber an keiner Stelle im Buch. Wer den Kickstarter gebackt hat, weiß, was man zu erwarten hat. Wer aber per Zufall oder Empfehlung auf das Buch stößt und begeistert von der tollen Aufmachung zuschlägt, wird aber unter Umständen Schwierigkeiten haben, den nur sehr rudimentär angerissenen Spielstil zu verinnerlichen, wenn noch keine Vorerfahrungen vorhanden sind.

Wer sich darauf einlassen kann, findet hier eine von Grund auf erneuerte und in allen Belangen verbesserte Variante eines minimalistischen OSR-Kleinods mit einer selten erreichten Dichte an spielbaren Inhalten auf verhältnismäßig wenig Seiten.

Für den Ersteindruck wurde bis auf das Abenteuer alles gründlich gelesen. Letzteres wurde überflogen, da der Autor dieses zeitnah als Spieler erleben und darauf basierend einen Spielbericht nachliefern wird.

  • Übersichtliches und durchdachtes Layout
  • Sehr viel nutzbares Spielmaterial
  • Sehr umfangreiches Anfangsszenario
 

  • Schwer zugänglich für OSR-Neulinge

 

Artikelbilder: © Free League Publishing, Bastionland Press
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Alexa Kasparek
Fotografien: Benjamin Dose
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein