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Ob Sammler*in oder Purist*in – manchmal kommt für Liverollenspielende der Moment, an dem die Lust auf ein neues Charakterkonzept da ist. Doch vom diffusen „Bock auf was Anderes“ bis zum fertigen Charakter braucht es ein paar Schritte, die nicht allen leicht fallen. Wir stellen drei Fantasy-Universen vor, die inspirieren können.

Fantasy-Literatur prägt für viele Liverollenspielende die Art, wie sie Fantasy sehen und darstellen. Das Hobby Fantasy-Larp selbst hat seine Wurzeln zu nicht geringen Teilen in Romanen der 80er und 90er Jahre, sowie deren Verfilmungen – im Falle des wohl bekanntesten Universums, J.R.R. Tolkiens Mittelerde, sogar noch früher. In der Zwischenzeit hat sich der Charakterbau nach Regelwerken aus Tabletop- und Pen-and-Paper-Rollenspielen durchgesetzt. DSA, D&D oder das Warhammer-Multiversum sind beliebte Hintergründe, die die entsprechende Handreichung in Form von klaren Regeln und fertigen Charakterkonzepten gleich mitliefern.

Im Folgenden liegt das Augenmerk aber auf Quellen für eine Charaktererstellung abseits von expliziten Rollenspiel-Hintergründen, mit Blick auf drei Universen, die verschiedene Möglichkeiten für scheinbar bekannte Konzepte bieten – und dabei auch einfach mal wieder Lust auf Lesen machen (sollen). Auch wenn das Augenmerk auf Hintergrund und möglichen Charakterkonzepten liegt, enthält dieser Artikel möglicherweise Spoiler für die Reihen „Song of the Lioness“, „Immortals“ und „Protector of the Small“ von Tamora Pierce, „Abhorsen“ und dessen Fortsetzungen von Garth Nix und „Runelords“ von David Farland.

Triggerwarnungen

Frauenfeindlichkeit, Sexismus, Tod

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Tortall – eine klassische Mittelalter-Fantasy

Begonnen 1983, erstrecken sich die Romane rund um das Königreich Tortall, seine Nachbarstaaten und deren Held*innen über mehr als zwanzig Werke. Jeweils meist einer Heldin folgend, führen Tamora Pierces Romanreihen Lesende durch ihre Welt, verschiedene Gesellschaftsschichten und ein gut überschaubares Magiesystem.

Gesellschaft: Auf den ersten Blick ein klassisches 80er-Jahre Fantasy-Universum, befindet sich Tortall mit Beginn des ersten Romans Die Schwarze Stadt im Umbruch. Eine junge Frau rebelliert gegen gesellschaftliche Konventionen und taucht als Junge verkleidet in der Ausbildung zum Ritter unter. Mit dem Beginn ihrer Karriere, nach bestandener Prüfung, führt sie Lesende durch ihre Heimat. Klassische Rollenbilder sowie Vorurteile sind weit verbreitet; Lesende begegnen Rittertum, einem König der Schurken und ethnischen Gruppen, die von Wüstenvölkern bis Reiterkulturen reichen. Das Leben des Adels wird gut beleuchtet und bietet einen ersten Einblick in die gesellschaftliche Ordnung. Mit Einführung der zweiten Heldin und der Rückkehr der Unsterblichen erweitert sich das Universum um eine High-Fantasy-Komponente. Das feudale System wird kritisch beleuchtet und zeigt erste Risse, Emanzipation und Geschlechtergerechtigkeit sind Themen, die auch den Charakteren bewusst sind.

Rittertum, vielleicht gegen gesellschaftliche Konventionen?

Magie: Das Universum um Tortall bietet zwei gut bespielbare Magie-Systeme an. Das verbreitetere ist die sogenannte Gabe, welche sich auf alle im Larp verbreiteten Magiefertigkeiten übertragen lässt, aber dennoch mit ausreichend Einschränkungen daherkommt, um nicht zu mächtig zu werden. Magiebegabte Charaktere sind im Besitz einer besonders ausgeprägten Stärke, nach der ihre Gabe ausgerichtet ist, seien dies Heilung, Hellsicht oder Kampfmagie. Jede Gabe ist ihrem Besitzer oder ihrer Besitzerin farblich zuzuordnen – ein liebevolles Detail, das sich in Leuchteffekten oder Tränken gut unterbringen lässt.

Ebenso kann das Nutzen der Gabe akademisch erlernt und gelehrt werden, auch Kristallmagie, Runen und Alchemie sind als klassische Larp-Elemente auf dieses Universum übertragbar.

Die seltenere Variante bildet die sogenannte Wilde Magie, die sich am besten mit dem Attribut Tierhaftigkeit aus bekannten Systemen wie der World of Darkness vergleichen lässt: eine Affinität zu bestimmten Tieren, bis hin zur Fähigkeit, mit diesen zu sprechen. Sich hier heran zu trauen könnte eine Herausforderung bedeuten, ist aber nicht unmöglich.

Religion: Der Götterpantheon Tortalls ist überschaubar und recht generisch. Den Kern bilden Mithros, seines Zeichens Gott des Krieges, der Sonne und der Rechtsprechung, die Göttin, eine klassische Muttergottheit, und der Schwarze Gott, der Tod. Darum herum existieren einige kleinere Gottheiten, deren Anbetung von klassischem Priesterspiel bis zu direktem Dialog reichen kann. Die Existenz der Gottheiten wird als Fakt behandelt, Interaktionen mit Sterblichen sind bekannt.

Für wen ist das Universum geeignet? Tortall ist ein vergleichsweise einfaches Mittelalter-Universum, in dem für die meisten gängigen Konzepte Platz ist, seien diese nun gut oder böse. Anfänger*innen werden hier genauso ihren Platz finden wie Altlarper*innen. Es gibt wenige Einschränkungen und eine große bespielbare Zeitspanne, die gut ausgearbeitet ist. Wird in der Zeit nach den Unsterblichen-Kriegen gespielt, ist auch die Interaktion mit Fremdrassen kein großes Problem. Einziger Nachteil ist, dass nach den ersten beiden Quartetten nur noch vereinzelte Werke ins Deutsche übersetzt wurden. Tortall ist dennoch ein niederschwelliger Hintergrund, der viele Möglichkeiten lässt, dem man aber nicht auf jeder Veranstaltung begegnen wird.

Ancelstierre und das Alte Königreich – Zwanziger Jahre und Nekromantie

Nekromantie ist in den meisten Liverollenspiel-Hintergründen ein heißes Eisen, das nur auf der NSC-Seite angefasst wird und dabei selten über stöhnende Untote und den allseits bekannten „Raise!“ hinausgeht. Garth Nix‘ Abhorsen-Reihe kommt dagegen mit einem Nekromanten-Konzept daher, welches man durchaus als licht bezeichnen könnte – sowie einer Welt, die, von einer Mauer getrennt, den technischen Stand und die Ästhetik der 1920er Jahre mit einem von Magie durchzogenen Fantasy-Reich verbindet.

Gesellschaft: Spielende finden in der Abhorsen-Reihe gleich zwei mögliche Welten vor, in denen ein Charakter seine Heimat haben könnte: Ancelstierre, eine grobe Entsprechung Großbritanniens zur Zeit des Ersten Weltkrieges mit all dessen technischen Möglichkeiten und Einschränkungen. Auf der anderen Seite das Alte Königreich, ab dessen Grenze all diese Errungenschaften nicht mehr funktionieren und die Magie herrscht. Ancelstierre besitzt eine realitätsnahe Gesellschaft mit Handwerk, Militär und Schulen für höhere Töchter und Söhne, ist sich aber der Existenz und Magie seines direkten Nachbarn voll bewusst und ergreift entsprechende Vorsichtsmaßnahmen. Ein streng bewachter Grenzstreifen trennt die beiden Reiche und schützt vor unerwünschten Übertritten.

Das Alte Königreich macht seinem Namen alle Ehre, denn es stellt eine klassische Fantasy-Kulisse mit einigen Besonderheiten dar. Einen Kernaspekt bildet hierbei die Existenz von Nekromantie.

Magie: Das Magiesystem des Alten Königreichs unterscheidet zwischen Charta– und Freier Magie, zwei entgegengesetzten Systemen. Chartamagie ist hierbei die lichte, geordnete Form, während Freie Magie zwar potentiell mächtiger ist, aber einen korrosiven Effekt auf ihre*n Wirker*in und ihre Umwelt hat. Somit sind die Möglichkeiten für akademisches wie auch freieres Magiespiel mit gewissen Kosten für einen möglichen Charakter gegeben. Den besonderen Reiz dieser Welt macht das Konzept der Nekromant*innen aus. Anders als in den meisten Universen sind diese im Alten Königreich mit der Aufgabe betraut, die Grenze zwischen Leben und Tod zu erhalten, statt zu verwischen. Ausgestattet mit einem Set an Handglocken, kann der*die Nekromant*in Kontrolle über Untote ausüben. Dabei ist jede Glocke sowie deren Klang einem bestimmten Spruch zugeordnet. Eine wird Untote erheben, während eine andere diese direkt wieder in das Reich des Todes befördert – und den läutenden Nekromanten oder die Nekromantin gleich mit. Die Zuordnung der Glocken ist auf andere Gegenstände übertragbar. Damit ist das Konzept auch spielbar, wenn Spielende es etwas anpassen möchten.

Religion: Religion spielt im Abhorsen-Universum keine große Rolle. Die Unterscheidung von ethischen Prinzipien und die Rolle von Charta– versus Freier Magie übernehmen das moralische Gerüst, das Charaktere sonst in Göttern und Klerus finden.

Für wen ist das Universum geeignet? Sich an das Konzept eines lichten Nekromanten oder einer Nekromantin zu trauen, mag auf den ersten Blick einschüchternd klingen, kann aber zu spannenden Interaktionen führen. Es braucht sicher etwas Kreativität, das System in gängige Liverollenspiel-Systeme zu übertragen, die Darstellung in der Romanreihe bietet aber eine gute Handreichung für die eigene Vorstellungskraft. Dennoch sollten Spielende, die mit einem*r Nekromant*in des Alten Königreichs liebäugeln, etwas Erfahrung mitbringen und sich auch auf Konfliktspiel einstellen.

Limbus: Viele kennen den Tod als Spielstation – aber als Charakterkonzept?

Von Runen und Übereignern – ein Universum für Profis?

David Farland denkt mit seinen Runelords einige altbekannte Aspekte von Fantasy-Held*innen neu. Denn oft sind die Auserwählten einer Geschichte besonders schön, begabt, stark oder besitzen körperliche Attribute, die denen von Normalsterblichen überlegen sind. Die Welt der Runelords bildet da keine Ausnahme – doch hier hat all das einen hohen Preis. Wer über das Doppelte einer bestimmten Eigenschaft verfügen möchte, muss sie einem anderen Menschen wegnehmen. Es ergibt sich ein spannendes Abhängigkeitsverhältnis von Runenherr*innen und Übereigner*innen.

Ein*e besonders mächtige*r Herrscher*in ist die Summe all derer, die ihm oder ihr etwas übereignet haben. Im Gegenzug müssen diese Personen aber auch beschützt werden, denn der Tod der Übereigner*innen kostet ihre*n Herr*in die übereigneten Attribute.

Gesellschaft: David Farland beschreibt eine generische frühmittelalterliche Feudalgesellschaft, erweitert um das Prinzip der Übereignung. Angehörige der Adelshäuser sind in der Regel im Besitz besonders vieler überschriebener Attribute wie Schönheit, Schnelligkeit oder Körperkraft und entsprechend vielen Übereigner*innen. Möchte eine feindliche Fraktion ein Adelshaus zu Fall bringen, sind dessen Übereigner*innen das erste Ziel.

Auch Angehörige niederer Schichten können in den Besitz zusätzlicher Attribute gelangen, sofern sie eine*n Übereigner*in finden. Das Risiko ist hierbei nicht unerheblich, denn Übereigner*innen werden, je nachdem, was sie abgeben, bisweilen zu Invaliden.

Schönheit muss nicht immer die eigene sein…

Magie: Das Kernstück des Magiesystems macht das Prinzip der Übereignungen aus. Hier gilt es also abzuwägen, welche Attribute Spielende sich aussuchen, aber auch darstellen möchten. Dabei stoßen punktebasierte Systeme womöglich an ihre Grenzen. Übereignete Attribute, aber auch deren mögliche Nachteile müssen überzeugend dargestellt werden – wer beispielsweise besonders stark ist, muss eventuell mehr essen. Genauso muss, wer eine*n Übereigner*in darstellt, den entsprechenden Nachteil glaubhaft darstellen. Hat der Charakter etwa seine oder ihre Schönheit übereignet, lohnt sich der Griff zum Make-up. Ebenso möglich wie das Bespielen der Übereignungen ist Elementarmagie. Diese lässt sich als Verbundenheit zu einem bestimmten Element besser übertragen, bringt aber ihre ganz eigenen Tücken. So wird ein Erdmagier vermutlich anfällig sein für alles, was seinem Element auf der besuchten Veranstaltung Schaden zufügt.

Religion: Elemente und deren Hüter*innen, sowie Elementare, sind bekannte Größen und Menschen begegnen ihnen mit entsprechender Ehrfurcht. Ein entsprechender Klerus oder Pantheon sind nicht vorhanden.

Für wen ist das Universum geeignet? Die Welt der Runelords ist ein Universum, das am Besten von erfahrenen Spielenden belebt wird, denn das Prinzip der Übereignung verlangt Fingerspitzengefühl und eine überzeugende Darstellung. Die eigenen Fähigkeiten sollten gut eingeschätzt werden. Das gemeinsame Spiel als Übereigner*in und Runenherr*in kann jedoch eine ganz neue und spannende Dynamik hervorbringen. Es empfiehlt sich aber aufgrund seiner Implikationen von gegenseitiger Abhängigkeit und Verantwortung ausschließlich für erfahrene Spielende in einem Vertrauensverhältnis.

Fazit

Wer nach neuen Ideen für einen Charakter sucht, wird möglicherweise also im eigenen Bücherregal fündig. Ein Blick in ältere und weniger bekannte Universen lohnt sich hier besonders, weil diese oft noch wesentlich simpler und stereotypischer gestaltet sind als moderne Reihen.

Und selbst wenn Spielende am Ende nicht mit einem neuen Charakter aus der Lektüre herauskommen, so ist Zeit, die mit einem guten Buch verbracht wurde, doch immer gut genutzt.

 

 

Artikelbilder: © Depositphotos | escapejaja
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Susanne Stark
Fotografien: Nabil Hanano

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