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Das erste Quellenbuch zur zweiten Edition von 7th Sea liefert 80 Charaktere zur freien Verfügung am Rollenspieltisch und nimmt es sich zum Ziel, dem Leser Theah durch die Augen dieser sowohl niederträchtigen als auch edelsinnigen Individuen zu zeigen. Dabei beschreibt es großartig, hat aber ein paar blinde Punkte im Sichtfeld.

Was der Band an Großartigem liefert, liegt in der tollen Beschreibung seiner Helden und Schurken, die allesamt interessante Subjekte sind. Durch ihren Blick gewinnt die Spielwelt Farbe. Die grauen und farblosen Stellen finden sich dagegen in den Regelzusätzen wieder.

Inhalt

Der Inhalt des Bandes ist schnell erklärt: Es bietet jeweils 40 ausgearbeitete Helden und Schurken, wobei die zusätzlichen Regeln auf drei bis vier Seiten passen: Das Quellenbuch konzentriert sich also rein auf die vorgestellten Charaktere, die es aber in schlecht durchdachtem Rahmen präsentiert.

Der hässliche Rahmen

Bevor wir zum Lob des Inhalts kommen, streift der Blick erst über die Fassung, die doch recht hässlich geraten ist. Helden sowie Schurken sind in fünf Typen unterteilt, die sich an den Traits orientieren. Das heißt, die Helden des IndomitableTyps richten sich ebenso wie ihr dunkles Ebenbild, die Beast-Schurken, am Trait Brawn aus. Darüber hinaus soll diese Unterteilung aber auch den Charakter definieren. So sollen die Heroinnen des Indomitable-Schlages besonderes draufgängerisch und wagemutig sein, während ihre bestialischen Gegenspielerinnen ihre Ziele wütend und brachial verwirklichen. Die Typus-Beschreibungen füllen ihre zwei Seiten durch übertriebene und sich wiederholende Phrasen. Einzig die Hinweise auf typische Intrigen der Schurken sind sinnvoll.

Warum diese Abschnitte so schlecht erscheinen? Das hat drei Gründe:

  1. Die Werte der nachfolgenden Heroen passen meist nicht in die Kategorie und erzeugen so einen Widerspruch.
  2. Zumindest auf Seiten der Helden lassen sich die Geschichten der Charaktere nicht in diesen Rahmen fassen. Die Zuordnung wirkt, wenn man die Tatsache hinzunimmt, dass selbst die Werte nicht passen, völlig willkürlich.
  3. Die Praxis der Einteilung legt wenigstens auf Heldenseite unnötige und einengende Maßstäbe fest. Schlimm ist das vor allem, weil die Heroen nicht nur als NSCs gedacht sind, sondern ausdrücklich auch gespielt werden können. Das System leistet aus diesen Gründen, zumindest auf der Protagonisten-Seite, nichts Positives. Im Feld der Bösewichte sieht das etwas anders aus. Der Werteaspekt fällt hier weg, da die Schurken bei 7th Sea abstrakte Werte erhalten. Die Geschichten wirken größtenteils passend, und die Schurken fallen eher in die zusammenhängenden Muster der übergeordneten Einteilung in die verschiedenen Typen.
Von Helden und Schurken
Von Helden und Schurken

Das schöne Bild

Die vorgestellten Charaktere sind dagegen gut gezeichnet. Fast jede Geschichte ist spannend geschrieben, häufig nachvollziehbar, und in sehr vielen Fällen erfrischend ungewöhnlich. Der gesamte bisher bekannte Kontinent wird abgedeckt, und jedem Winkel dieser Welt entspringen interessante Charaktere. Die große Stärke der Beschreibungen ist ihre Diversität und ihre Kreativität. Es ist schon keine schlechte Leistung, 80 Personen zu erschaffen, und sich dabei nicht nur in Klischees zu ergehen und zu wiederholen. Vom sarmantischen Husaren in Rente, der sich den Schutz seiner Stadt vor einer übernatürlichen Schurkin zur Aufgabe genommen hat, zur Bierbrauerin aus Eisen, die nahezu besessen vom perfekten Bier ist – der Band bietet viel. Ungewöhnlicher wird es beim giftmischenden Apothekarius, der durch seinen Glauben an eine omnibeseelte Welt, von sich selbst nur in der dritten Person Plural spricht.

Natürlich werden auch klischeehafte Stereotypen verwendet, dabei aber gut präsentiert, oder in ungewöhnliche Umgebungen versetzt. Es gibt ihn hier nicht, den simplen guten Retter ohne eigenen Ballast. Viele Themen unserer modernen Gesellschaft, die sonst in Tischrollenspielbücher keinen Eingang finden, wie Homosexualität oder die Selbst-Identifikation mit dem anderen Geschlecht, werden hier mühelos integriert, ohne dabei jedes Mal zum großen Aufhänger der jeweiligen Geschichte stilisiert zu werden. Die Vorgestellten haben in einigen Fällen Beziehungen zueinander und ineinander verstrickte Geschichten. Jede Heldin und Schurkin bekommt zu ihrer grundlegenden Beschreibung noch Hinweise zur Darstellung beigelegt und drei Ziele bzw. Intrigen, die sie verwirklichen will. Es wird also eine breite Palette an Möglichkeiten geboten. Besonders für den Spielleiter kann sich dieses Buch als wahre Goldgrube an potenten Plot-Ideen und einsetzbaren Charakteren erweisen. Die Schurken bieten schon für sich genommen 40 Ideen zu 40 Abenteuern.

Für die Spieler sieht das ein wenig anders aus. Die Heroen und Heroinnen haben eine sehr klar ausdefinierte Geschichte, mit klarer Einbindung in die Welt, definierten Zielen und häufig schwerwiegenden Verpflichtungen wie Kinder. Das macht sie wenig variabel im Einsatz. Ein guter Weg wäre mit Sicherheit, wenn Charaktere gewählt werden würden, die eine Verbindung zueinander haben, oder der erste Plot um einen vorgefertigten Spielercharakter konzipiert wird, während die anderen Spieler selbsterstellte Helden oder Heldinnen verwenden. So ließe sich beispielsweise um die Familientragödie der ussurischen Zwillinge Viktor und Agafya Markovich ein wunderbarer Plot stricken, wenn ein Spieler die Rolle Viktors übernimmt. Den jungen ussurischen Tierfreund aber in ein anderes Szenario zu verschiffen, wäre sowohl schwierig als auch wenig fruchtbar.

Die rechtschaffenden Charaktere gefallen am Ende doch noch ein wenig besser, da ihre Geschichten stärker divergieren und in vielen Fällen nachvollziehbarer sind. Das ist allerdings Kritik auf wirklich hohem Niveau. Denn weder die brutale Kapitänin der menschenfressenden Piratencrew im hohen Norden, noch der insektenbeherrschende, intrigante Hofnarr sind in irgendeiner Weise langweilig oder uninteressant. Die Hinweise zur Erlösung der Widersacher fallen ebenfalls erstaunlich sinnvoll aus. Sie wirken nicht konstruiert, und häufig besteht die Einsicht in die simple Unmöglichkeit eines solchen Versuches.

Ein paar Seiten Regelzusätze

Die wenigen Mechaniken, die hinzukommen, sind fast zu vernachlässigen. Die Zusammenfassung der vier neuen Advantages des neuen Hintergrundes zur Charaktererstellung, des kurz angerissenen Fechtstils, des neuen Typus einer Gegnergruppe, und der zwei neuen Zaubereien füllen gerade mal eine Seite. Einzig eine neue Regel, die ihr Pendant im Grundregelwerk ersetzen soll, verdient eine nähere Betrachtung. Die Intrigen der Schurken und Schurkinnen funktionieren nun wie die Storys der Helden und sollen parallel dazu den Fortschritt des Bösewichts abbilden und regeln. Prinzipiell gilt nun schon die gleiche Kritik, mit der ich diese Mechanik in meinem Ersteindruck zum Grundregelwerk versehen habe, aber damit ist es nicht genug. Prinzipiell kann die Spielleiterin einen gewissen Satz an Einflusspunkten ausgeben, um eine neue Intrige zu kreieren. Die Anzahl der Schritte, die benötigt wird, um die Intrige zum Erfolg zu bringen, ist gleich der Anzahl an investierten Einflusspunkten. Aber hier kommt nun der große Haken. Im Gegensatz zu den Geschichten der Helden schreiten diese Intrigen nicht durch erreichte Handlungsziele voran, sondern ganz simpel am Ende einer Spielsitzung. Wieder zeigt sich, dass das Regelwerk an vielen Stellen enorm wenig durchdacht ist. Eine Spielrunde ist eine völlig inadäquate Einheit zum Messen von im Spiel verstrichener Zeit. Viele von euch haben mit Sicherheit schon mal einen oder sogar mehrere Abende ohne großen Zeit- und Handlungsfortschritt verbracht. Durch selbsteingefügte Stufen lässt sich das Problem vielleicht leicht lösen, doch dass das Spieldesign mit der einzigen größeren Regelneuerung in diesem Band aber dermaßen schlecht verfährt, ist einfach enttäuschend. Somit setzt sich der Trend des Grundregelwerkes fort: Wo die Weltbeschreibung in Kreativität erglänzt, rostet das Räderwerk der Regeln vor sich hin.

Erscheinungsbild

Das gesamte Layout und die Illustrationen sind bis auf zwei seltsame Ausnahmen, in denen der kulturelle Kleidungsstil ohne Erklärung komplett verfehlt wurde, gelungen. Ein Index ist vorhanden, und das Buch wurde zu großen Teilen sinnvoll strukturiert.

Die harten Fakten:

  • Verlag: JohnWickPresents
  • Autor(en): Elizabeth Chaipraditkul, Mark Diaz Truman, u. a.
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Englisch
  • Format: PDF
  • Seitenanzahl: 210
  • Preis: 19.99 USD (PDF)
  • Bezugsquelle: DriveThruRPG

 

Fazit

Machen wir es kurz: Der Band ist gut. Das, was er leisten möchte, nämlich eine Vielzahl von Einblicken in die Spielwelt durch die Augen ihrer Bewohner zu liefern, erfüllt er mit Bravour. Die Geschichten sind abwechslungsreich, spannend geschrieben, und häufig kreativ gestaltet. Es wird ein sehr breites Spektrum an Personen abgedeckt. Eine Menge Abenteuerideen und viel Rohmaterial zur Ausgestaltung werden dem Spielleiter in die Hände gelegt. Soweit wäre alles gut, wäre da nicht der unnötige Rahmen und die nicht durchdachte Regelergänzung.

Doch dies sind leidlich kleine Wermutstropfen, welche die klare Essenz des Buches kaum zu trüben vermögen, denn das Quellenbuch leistet am Ende das, was es soll. 19.99 USD sind für dieses PDF gut verwendetes Geld, wenn man ein Sammelsurium von 80 interessanten Charakteren haben möchte.

Artikelbilder: JohnWickPresents
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

Über den Autor

nick-randackNick Randack ist bei Tischrollenspielen mit erzählerischem Tiefgang und starker Hintergrundwelt schnell Feuer und Flamme. Das Regelkonstrukt des System sieht er mehr als notwendiges Übel für ein erfolgreiches Zusammenspiel, denn als wirkliche Bereicherung. Bei der Auswahl der Spielwelten ist er prinzipiell offen, wobei zu abstruse und schillernde Realitäten ihn eher schrecken und bodennahe und am besten an echter Mythologie angelehnte Kosmen seinen mentalen Geschmacksorganen munden.

 

 

 

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