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In der fernen Zukunft von Equinox ist die Erde zerstört und Mystiker nutzen die Macht ihrer astralen Kräfte, um gegen die verderbende Kraft der Dämonen anzukämpfen. Mit dem Match-System ist für diesen Hintergrund ein eigenes Regelwerk entwickelt worden, das flexibel viel Raum zum Erzählen von Geschichten geben soll.

Mit ihrem Science-Fantasy-Produkt Equinox hat der deutsche Verlag Pro Indie 2016 ein neues Rollenspiel veröffentlicht, das in einen Setting- und einen Regelband aufgeteilt wurde. In englischer Sprache ist es parallel beim entsprechenden Ableger Vagrant Workshop erhältlich. Beide Fassungen waren zunächst nur als PDF oder Print-on-Demand verfügbar; im Herbst des letzten Jahres aber hat der Uhrwerk Verlag Equinox in sein Programm aufgenommen und ansehnliche Hardcover produziert. Diese Rezension des Regel-Handbuchs basiert auf eben jener Druckfassung.

Die Spielwelt

Der Hintergrund von Equinox wird in dem separaten Setting-Handbuch beschrieben, das bereits an anderer Stelle rezensiert wurde (Rezension Equinox Setting-Handbuch). An dieser Stelle soll deshalb eine kurze Zusammenfassung reichen: Die astrale Kraft der Erde schwillt in Zyklen auf und ab; auf dem Höhepunkt des gegenwärtigen Zyklus hat die Menschheit mit Portalen durch den Astralraum zahlreiche interstellare Kolonien errichtet. Gleichzeitig wurde aber auch den Dämonen aus den Tiefen des Astralraums ermöglicht in unsere Realität einzudringen. Im Kampf gegen die Dämonen wurde die Erde zertrümmert, und das Sonnensystem ist nun der Sprungnexus zu den überlebenden fünf Kolonien, die sich zur Rettung der Menschheit zu einem Konsortium zusammengetan haben. Die Spieler verkörpern Mystiker, die intuitiv auf die Kraft des Astralraums zur Steigerung ihrer Fähigkeiten zugreifen, gleichzeitig aber auf der Flucht vor der rigiden Einverleibung durch das Konsortium sind.

Die Regeln

Das Match-System wurde von den Autoren zwar gezielt auf Equinox zugeschnitten, gibt aber auch zu, das Rad nicht neu zu erfinden. Gleich zu Beginn des Regelbands beschreibt Autor Carsten Damm Einflüsse wie die One Roll Engine (ORE), Fate oder West End Games d6.

Ein Charakter bei Equinox, stets ein Mystiker mit übernatürlichen Fähigkeiten, wird im Wesentlichen beschrieben von seinen Attributen, Fertigkeiten, Kräften und Zaubern. Diese können jeweils in einem Grad von 1 bis 5 vorliegen.

Die sechs Attribute sind zusammengefasst in die drei Paare Können (Agilität und Aufmerksamkeit), Macht (Physis und Präsenz) sowie Vitalität (Hartnäckigkeit und Härte). Dazu kommen gerade einmal drei mal sechs Fertigkeiten, die analog in die Kategorien Körperlich (z. B. Athletik oder Steuern), Geistig (z. B. Erinnern oder Heilen) oder Sozial (z. B. Führen oder Täuschen) gruppiert sind.

Von den Attributen werden zudem einige Merkmale wie Widerstandswerte, Gesundheit oder Wunden abgeleitet.

Die Kräfte sind es schließlich, die einen Mystiker auszeichnen. Durch sie kann ein Charakter seine natürlichen Fertigkeiten auf eine Weise steigern, die Normalsterblichen nicht zugänglich ist. Zum einen gibt es da Kräfte, die nur Mystikern eines bestimmten Pfads offenstehen: So verfügt der Gauner etwa über unverschämtes Glück, kann der Maschinist die besten Geräte erschaffen oder der Pilot im Raumkampf brillieren. Dazu kommen für alle noch zugängliche allgemeine Kräfte wie Beeindrucken, Lügen oder Reflexe.

Auf dem Pfad des Hexers lernt ein Mystiker zudem arkane Kraft in Zauber zu lenken, wie etwa eine Barriere oder eine Illusion. Um bei der Verwendung von Kräften und Zaubern keinen Schaden durch die mystische Energie zu nehmen, die dabei kanalisiert wird, muss ein Charakter für jede einzelne einen Grad der Abschirmung beherrschen, der ihn davor schützt.

Zusätzlich verfügt ein Charakter noch über sogenannte Tags, Schlüsselwörter und –sätze ähnlich den Aspekten aus Fate, die bewusst für Vor- und Nachteile ins Spiel gebracht werden können. Dazu hat jede Figur einen kleinen Vorrat an Karma.

Für Tests bedient sich das Match-System ausschließlich sechsseitiger Würfel. Dazu addiert man die Grade von Attribut und Fertigkeit, um die verfügbare Zahl Würfel zu erhalten. Deren Summe muss einen vom Spielleiter festgelegten Mindestwurf erreichen, der von 7 (sehr leicht) über 18 (Durchschnitt) bis 28 (sehr schwer) gehen kann.

Schon bei diesem einfachen Mechanismus führt das Match-System aber zwei clevere Besonderheiten ein. Zum einen sind die sechs Attribute und achtzehn Fertigkeiten frei kombinierbar, was den Spielern großen Freiraum beim Einsatz ihrer Spielwerte gibt. Auch sind so elegant verschiedene Interpretationen derselben Fertigkeit möglich: Aufmerksamkeit und Wahrnehmung kann helfen, im Schatten einen verborgenen Gegner zu suchen, während Präsenz und Wahrnehmung dazu dient, die Körpersprache des Gegenübers zu deuten.

Zum anderen wird nicht nur die Summe der Würfel ausgewertet; Pasche geben zusätzliche Effekte. Dazu wird sowohl die Größe, also die Anzahl identischer Ergebnisse, als auch der Wert, also die gezeigte Zahl, herangezogen. Da aber eine Größe von 2 sehr häufig vorkommen kann, werden für Zusatzeffekte erst Pasche ab Größe 3 herangezogen. Ein Wert ab 2 ist von steigendem Vorteil, einer von 1 verkompliziert die Dinge.

Der Einsatz von Kräften und Zaubern erweitert den Testmechanismus um einige Elemente. Zunächst muss der Mystiker festlegen, mit welcher Energie von 1 bis 5 dies geschehen soll. Von großer Bedeutung ist hier das gegenwärtige mystische Feld, die Präsenz von astraler Kraft. Sie gibt die maximal mögliche Energie an und kann zudem durch dämonischen Einfluss befleckt sein. Um durch den Fluss mystischer Kraft keinen Schaden zu nehmen, sollte der geistige Widerstand zusammen mit der Abschirmung nicht darunter liegen. Die eigentliche Aktivierung ist ein Test wie oben beschrieben, die Wirkung wird ermittelt und durch die gewürfelten Pasche erweitert.

Die Regeln für Konflikte decken sowohl physische als auch soziale Konfrontationen ab und folgen ebenfalls dem Testschema, wobei die Mindestwürfe für das Treffen eines Ziels durch das Dreifache dessen adäquaten Attributs dargestellt werden und Schaden vom sogenannten Bedrohungsgrad der verwendeten Waffe bestimmt wird. Hier kommen außerdem Aktionspunkte zum Einsatz, die den Umfang der möglichen Handlungen bestimmen und mit zunehmender Verwundung auch sinken.

Um aufwendigere Konflikte nicht in langatmige Würfelrunden ausarten zu lassen, bietet Equinox zudem die Möglichkeit der Konfrontationen. Hier werden in mehreren Bietrunden zunächst die Konsequenzen innerhalb der Geschichte eingesetzt, um nachher ähnlich der Pokervariante Texas Hold’em nach und nach die eigenen Würfelergebnisse zu offenbaren. Diese Option mag einerseits sehr abstrakt wirken, andererseits erhält sie die Spannung über den Ausgang eines Konflikts aufrecht und setzt diese elegant in die Weiterführung der Geschichte am Spieltisch um.

Da in einem Science-Fantasy-Setting wie Equinox für eine Gruppe natürlich ein eigenes Raumschiff unverzichtbar ist, beschreibt ein separates Kapitel deren Attribute und Regeln und führt auch einige Beispielraumschiffe auf.

Insgesamt machen die Regeln von Equinox einen soliden Eindruck. Der Testmechanismus erweitert das bekannte Konzept des Mindestwurfs um einige originelle Elemente wie die Auswertung von Paschen und die sehr offene Möglichkeit zur Kombination von Attribut und Fertigkeit entsprechend den Umständen der Geschichte am Spieltisch. Gerade letztere hat es mir angetan, allerdings kann auch gerade diese Offenheit natürlich zu Diskussionen oder unnötigen Verzögerungen führen, die durch klare Vorgaben nicht auftauchen würden. Auch frage ich mich nach der Lektüre, ob die kleinen Zusatzelemente wie Tags, Karma oder Aktionspunkte wirklich eine Bereicherung darstellen, oder ob eine schlankere Reduzierung auf den zentralen Testmechanismus nicht vorteilhafter wäre.

Charaktererschaffung

Charaktere werden in Equinox mit einem Budget an Charakterpunkten (CP) erschaffen. Die Gruppe hat dabei die Wahl, ob sie Anfänger (60), Erfahrene Abenteurer (90) oder Veteranen (120) spielen möchte.

Nach der Entscheidung für eine menschliche Subspezies und entsprechende Attributsmodifikatoren und Spezialfähigkeiten wählt man den Pfad des eigenen Mystikers. Davon stehen drei mal drei zur Auswahl: Die auf zwischenmenschliches spezialisierten Gauner, Händler und Sucher, die kampfstarken Piloten, Soldaten und Wächter sowie die arkane Energie wirkenden Beschwörer, Maschinisten und Hexer. Diese Entscheidung bestimmt die einfacher zu erlernenden Pfadfertigkeiten und Pfadkräfte.

Hat man sich danach Gedanken über den Hintergrund, Motivation und Tags gemacht, darf man 12 CP auf die Attribute verteilen, die alle bei Grad 1 anfangen und 1 CP pro weiteren Grad kosten. Im nächsten Schritt werden die sekundären Merkmale davon abgeleitet. Anschließend gibt man seinen Vorrat an CP für das Erlernen von Kräften, Zaubern und Fertigkeiten aus. Etwas ungewohnt ist hier, dass man nicht etwa den Grad einer Kraft oder eines Zaubers selbst lernt, sondern die Abschirmung, mit der man sich vor den schädlichen Auswirkungen bei deren Einsatz schützt.

Auch Besitztümer werden abstrakt durch einen Grad von 1 bis 5 in Ressourcen gemessen: Alle Gegenstände mit Kosten bis zu diesem Grad darf man dann für CP kaufen und im Spiel einsetzen, ansonsten sind sie nur wirkungslose Dekoration. Passenderweise finden sich im Regel-Handbuch genau die Spielwerte der Gegenstände, die im Setting-Handbuch beschrieben werden.

Eine umfangreiche Liste von Archetypen mit fertigen Werten für die Fertigkeiten und Kräfte vermag die Charaktererschaffung zu beschleunigen. Diese vielseitige Übersicht besticht mit zahlreichen ansprechenden und auch exotischen Berufen wie Archäologe, Dämonenjäger, Kredithai, Richter, Staffelführer oder Technomant. Lediglich die Spezies und die Attribute muss man bei diesem Weg noch getrennt bestimmen.

Dennoch kann man sich bei der Charaktererschaffung ein wenig verlaufen. Die ausführlichen Seitenverweise für die Regelbegriffe machen mitunter einiges Nachschlagen nötig; auch die sehr umfangreiche Zahl von Kräften und Zaubern verlangt zunächst eine genaue Lektüre, um sich zurechtzufinden.

Spielbarkeit aus Spielleitersicht

Equinox widmet ein sehr ausführliches Kapitel den Pflichten des Spielleiters. Dies ist in einem betont flapsigen Ton geschrieben, der ungewohnt aber auch ansprechend ehrlich ausspricht, dass dies „nun einmal eine Mistaufgabe voller Fallstricke ist“, die aber auch sehr erfüllend sein kann. Ein weiteres Kapitel beschreibt die Konzipierung von Abenteuern mit ihren Aufhängern, Handlungssträngen, Strukturen und Gegenspielern.

Zudem finden sich im Regel-Handbuch die Spielwerte der Kreaturen und Dämonen, die auch im Setting-Handbuch geschildert werden. Den Abschluss bildet das kurze Beispielszenario „Verborgene Schätze“, das die Gruppe eine alte Raumstation erkunden lässt. So erhält der Equinox-Spielleiter ein kompaktes Rundumpaket, um seine erste Sitzung zu leiten, aber gerade bei den Kreaturen hätte ich mir noch ein paar Seiten mehr gewünscht.

Im Anhang sind noch einmal alle Regeln zur schnellen Referenz zusammengefasst. Gut so, denn während der Lektüre des Regel-Handbuchs musste ich doch diverse Male hin- und her blättern, um mich mit den ganzen Begrifflichkeiten zurechtzufinden.

Spielbarkeit aus Spielersicht

Neulingen im Rollenspiel ist zuerst ein kleines Kapitel zu Beginn des Regel-Handbuchs gewidmet, das auf allgemeine Spielerpflichten hinweist: Seid anwesend und bringt eure Sachen mit, seid kreative Teamspieler und macht mit.

Während der Kernmechanismus mit Auswertung von Mindestwurf und Paschen schnell erlernt ist, verlangt die Erschaffung eines Charakters mit der umfangreichen Auswahl an Kräften und Zaubern eine ausgiebige Lektüre. Die Spieler werden trotz dieses Umfangs aber nicht allein gelassen. Durch die oben bereits erwähnte umfangreiche Liste von Archetypen, kann man sich gerade die zeitaufwändige Auswahl von Fertigkeiten und Kräften sparen und in relativ kurzer Zeit einen eigenen und dennoch sehr individuellen Charakter präsentieren.

Ein konkretes Beispiel während der Charaktererschaffung hilft, den Überblick zu behalten; eingeschobene Kommentare der Autoren beantworten zudem potentielle Unklarheiten, die bei der Regellektüre aufkommen können.

Ganz ungeduldige finden in einem der letzten Kapitel auch sechs komplett ausgearbeitete Beispielcharaktere mit allen Werten, Hintergrund und Beziehungen, die sofort in das kurze Abenteuer „Verborgene Schätze“ einsteigen können.

Erscheinungsbild

Wie schon das Setting-Handbuch ist auch das vom Uhrwerk Verlag produzierte Regel-Handbuch von sehr guter Qualität mit stabilem Hardcover-Einband und kräftigem Druck, was den Preis von 39,95 EUR gut rechtfertigt.

Auch das Innenleben hat die Optik des Settingbands mit einer Hintergrundtextur aus blauen Farbklecksen und einem sehr übersichtlichen zweispaltigen Aufbau. Dazu hat man dem Regelband deutlich mehr Illustrationen spendiert, die den Fließtext angenehm auflockern und beschriebene Archetypen oder Ausrüstung bebildern.

Der umfangreiche Anhang lässt nichts zu wünschen übrig: Auf Charakter-, Gruppen- und Fahrzeugbogen folgen sechs Seiten mit den zusammengefassten Regelgrundlagen. Ein ausführliches Schlagwortverzeichnis ermöglicht auch das schnelle Nachschlagen bei Detailfragen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Pro Indie / Uhrwerk Verlag (deutsch), Vagrant Workshop (englisch)
  • Autor: Carsten Damm
  • Erscheinungsjahr: 2016
  • Sprache: Deutsch/Englisch
  • Format: Hardcover
  • Seitenanzahl: 308
  • ISBN: 978-3-95867-060-0
  • Preis: 39,95 EUR (Hardcover), 16,00 / 24,95 USD (PDF deutsch/englisch)
  • Bezugsquelle: Amazon (deutsch), DriveThruRPG (deutsch/englisch), Sphärenmeister (deutsch/englisch)

 

Downloadcontent

Auf dem Internetauftritt von Equinox von Pro Indie und Vagrant Workshop gibt es jeweils einen separaten Bereich für Ressourcen. Hier findet man entsprechend auf Deutsch und Englisch PDFs der Charakter- und Gruppenbögen sowie Schnupperversionen des Setting- und des Regel-Handbuchs.

Über den Uhrwerk Verlag oder DriveThruRPG kann man zudem das kostenlose Schnellstarter-Set beziehen.

Fazit

Mit dem Regel-Handbuch komplettieren Pro Indie/Uhrwerk das Rollenspiel Equinox zu einem runden Gesamtpaket. Das darin vorgestellte Match-System macht einen soliden, leicht erlernbaren Eindruck. Die mystischen Fähigkeiten der Spielercharaktere ermöglichen eine große Bandbreite an individuellen Charakteren, um das Universum von Equinox zu erkunden. Frische Ideen wie die freie Kombination von Attributen und Fertigkeiten bei Tests oder die Einbeziehung von Paschen in das Endergebnis bringen originelle Abwechslung ins Spiel.

Aber wirklich neu wird das Rad vom Match-System nicht erfunden. Etablierte Mechanismen wie Mindestwürfe bieten auch andere, die Ergänzung um Feinheiten wie Schlüsselbegriffe, Karma oder Aktionspunkte empfinde ich zwar als nett, aber nicht unbedingt nötig.

Das sollte aber Interessierte nicht abhalten: Das Regel-Handbuch ist perfekt auf den Hintergrund von Equinox zugeschnitten und liefert zudem die Spielwerte, die man im Setting-Handbuch vermisst. Wer mit dem einen Band liebäugelt, kann sich bedenkenlos auch den anderen zulegen.

Artikelbilder: ProIndie/Vagrant Workshop, Uhrwerk Verlag
Dieses Produkt wurde kostenlos als Druck zur Verfügung gestellt.

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