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Vampire Live ist häufig der erste Berührungspunkt mit LARP, der Schritt vom Spieltisch in den Spielraum hinein. Wie ist es jedoch für einen langjährigen Fantasy-Larper das erste Mal in dieses System einzutauchen? Dieses Experiment hat unsere Redakteurin Myriam Bittner in der neuen Domäne Neo Turicum in Zürich gewagt.

Wenn man sich in der LARP-Szene umhört, haben viele Larper irgendwann in ihrer Laufbahn einmal Vampire Live gespielt. Das Setting der Vampirclans, welche alle mit ihrer eigenen Geschichte, clanspezifischen Fähigkeiten und Schwächen sowie Mindsets und Zielen aufwarten, lädt zu einem Reigen der Intrige und des gegenseitigen Belauerns ein. Anders als im Fantasy-LARP, wo unter den ‚Helden‘ trotz des Konfliktpotenzials häufig ein Konsens gesucht wird, herrscht eine grundsätzliche Stimmung des Misstrauens vor. Die World of Darkness ist definitiv kein Zuckerschlecken und nur der, der sich geschickt zu behaupten weiß und sich nicht in zu vielen Fäden verstrickt, überlebt lange genug, um wirklich das Potential eines alten Vampirs ausschöpfen zu können.

Tell me more

Das Spielsystem unterscheidet sich durch weitaus mehr Telling von den heute etablierteren LARP-Spielweisen, die größtenteils versuchen Telling zu vermeiden – wobei das natürlich stark vom jeweiligen Spielverständnis der Gruppe abhängt. Dennoch wird Vampire Live auch heute noch von vielen als ‚Einstiegsdroge‘ in die Welt des Liverollenspiels gehandelt, gerade weil das Vampire-Franchise ein solch umfassendes Portfolio bietet: Wer vielleicht mit dem Pen&Paper angefangen hat, der kennt bereits viele der Regeln und ist das Telling eher gewöhnt. Ob man nun am Tisch sitzen bleibt und sich nur sporadisch in wörtlicher Rede unterhält, oder die Aktionen im Raum mit einigen Accessoires und Vampirzähnen nachspielt, dieser Schritt ist klein genug, um eventuelle Scheu abzubauen. Wer auf der anderen Seite vielleicht die Videospiele Bloodlines oder Redemption kennt, dem ist das visuelle Nachspielen von Dialog- oder Kampfszenen eher vertraut und er zieht daraus seine Motivation, das ganze einmal live erleben zu wollen.

Dennoch sieht sich Vampire Live vor allem von Seiten anderer Fantasy-LARP-Settings häufig mit negativen, abwertenden Kommentaren konfrontiert: „Die spielen ja gar nicht aus.“ „Das hab ich mal früher gemacht, aber jetzt nervt es mich nur noch.“ „Da wird zu viel geklüngelt, die vermischen zu sehr OT und IT.“ So kann es schnell passieren, dass man als Larper, der selbst nie Berührungspunkte mit Vampire Live hatte, ein negatives Bild eines Settings bekommt, das man selbst nie gespielt hat. Grund genug für mich, einmal den Spieß umzudrehen und ein Experiment zu wagen: Wie ist es, als langjähriger Larper, der mit mittelalterlichen Fantasy-Settings angefangen hat, plötzlich ins Vampire Live einzutauchen?

Domäne und Setting

Einen guten Einstieg in das bisher sehr unbekannte Setting bot eine gerade neu gegründete Domäne in Zürich. Die Gruppe bestand sowohl aus langjährigen Vampire-Spielern als auch aus kompletten LARP-Neulingen, was eine spannende Mixtur versprach.

Schauplatz des Spiels war eine zum Party- und Versammlungshaus umfunktionierte Scheune in Zürich, direkt gegenüber einer Polizeiwache – eine Tatsache, die auch Einzug ins Spiel fand.

Gespielt wurde nach einer gekürzten und angepassten Version des Katharsis-Regelwerks von 2015.  Die Wahl des Regelwerks zeigt schon an, dass es der Gruppe um einen stärkeren Immersionsfaktor ging als das ‚einfache‘ Nachspielen einer Pen&Paper-Session.

Der Immersionsfaktor des Katharsis-Regelwerks

Das Katharsis Regelwerk vermeidet für eine klare Ausrichtung hin zum immersiven Spiel wenn möglich das Telling.

So heißt es im Regelwerk: „Alles für das Spiel eines Charakters Relevante soll unmittelbar dargestellt werden, seien es Ghule, die in die laufende Handlung eingreifen, oder kurze Telefonate mit anderen Charakteren. Das unmittelbare Erleben ist Grundlage des Spiels. Eine erzählerische Ebene (Telling) in Spielszenen sollte vermieden werden.“

Anstatt die Fähigkeiten (Disziplinen) der einzelnen Vampire also durch Telling auszudrücken, wurden unauffällige Fingerzeichen benutzt: Ein oder mehrere Finger, je nach Intensität, in der Schläfengegend stand für geistige Disziplinen, Arme vor der Brust zeigten an, dass der Charakter sich einer Verbergungsmaßnahme bedient, also von den anderen Vampiren bis zu einem gewissen Grad nicht wahrgenommen wird. Wer also einen anderen Spieler manipulieren wollte, musste sich auch mit Worten durchaus anstrengen, um die Szene glaubhaft zu machen, wer übernatürliche Stärke demonstrieren wollte (gekennzeichnet mit einem roten Band ums Handgelenk), ließ dies ins Spiel mit einfließen („Gib auf, du weißt, dass ich stärker bin als du!“ etc.).

Auch unauffällige Opt-Out-Zeichen konnten genutzt werden, so etwa der ‚Lookdown‘, die Augen mit der Hand beschirmend, um ohne die anderen im Spielfluss zu unterbrechen, eine Szene zu verlassen, wenn es einem OT zu viel wurde.

Diese klare Ausrichtung hin zum immersiven Spiel mag einige meiner Urteile im folgenden färben, da ich selbst Immersionsspieler bin, und vielleicht erklären, weshalb der Unterschied zwischen den beiden Genres als weniger stark definiert wahrgenommen wurde.

Der Plot und die Spieler

Das Katharsis-Regelwerk bespielt beinahe ausschließlich Camarilla-Clans, also die sieben Clans Ventrue, Tremere, Brujah, Toreador, Gangrel, Malkavianer und Nosferatu, die sich der Aufrechterhaltung der Maskerade verschrieben haben. Am Spielabend selbst waren längst nicht alle der Domäne als Bürger oder Gäste angehörigen Vampire anwesend, dadurch waren die Toreador mit einem Gast, einem Kind und einem Ghul überraschend eine starke Kraft. Bis auf die Tremere waren sonst alle Camarilla-Clans vertreten, was einen interessanten Einblick in die unterschiedlichen Clantypen ermöglichte.

Der Grund des einberufenen Elysiums war die Feier zur Neugründung der Domäne, Einladungen wurden weit gestreut, was einen Neueintritt um einiges leichter machte.

Schon zu Beginn des Spiels war die Atmosphäre spürbar eine andere als an sonstigen bereits erlebten IT-Abenden in anderen Genres. Ich spielte einen Gast vom Clan der Brujah, aber selbst meine auferlegte Kaltschnäuzigkeit geriet schnell gehörig ins Wanken beim Eintritt in den Festsaal. Nicht nur der an der Stirnseite des Raums thronende, alles im Blick habende Prinz generierte eine Atmosphäre der ständigen Beobachtung, auch die sich leise unterhaltenden, in Kleingruppen zusammenstehenden Spieler schafften es, ein Grundprinzip des Vampire Live sofort sichtbar zu machen: Hier traut keiner keinem, schon gar keinem Fremden und man gibt so wenig wie möglich voneinander Preis. Man umschleicht sich, agiert gerade so höflich wie man muss, aber jedes Zeichen der Schwäche könnte das letzte sein. Wo man im Fantasy-LARP bei allen Unterschieden als ‚Heldengruppe‘ häufig generisch Gut gegen Böse propagiert, ist hier sich jeder selbst der Nächste.

Spannender Einstieg, aufregende Entwicklungen

Die Spannung zwischen der Neugierde der Neuspieler und der gebotenen Vorsicht im Spiel aufgesetzter Freundlichkeit war sehr reizvoll.

Erfreulicherweise führte das jedoch in keinster Weise dazu, dass ich als Neuspieler wenig angespielt wurde. Im Gegenteil. Es wurde sich ausführlich beschnuppert, nachdem das erste Eis gebrochen war, auch wenn im Spiel immer wieder deutlich wurde, dass die Freundlichkeit aufgesetzt war. Genau diese Spannung zwischen teilweise auch OT gefühlter Neugierde und IT gebotener Vorsicht machte einen großen Reiz des Spiels aus.

Doch es blieb natürlich nicht bei einfacher Unterhaltung. Kurz nach Beginn des Abends tauchten eine mit Symbolen verzierte Holzscheibe und ein Schriftstück auf, welche für ein Ritual zum Schutz der neuen Domäne verwendet werden sollten. Da dieses Ritual jedoch das Blut aller Anwesenden forderte, hielt sich die Begeisterung naturgemäß in Grenzen.

Gleichzeitig blieb die neue Domäne von den ansässigen Anarchen nicht unbemerkt, sodass zwei NSC als Spähtrupp mit den Spielern Kontakt aufnahmen und so viel wie möglich herauszubekommen versuchten. Wieder kam es zu einem wunderbaren Katz- und Maus-Spiel mit Halbwahrheiten und Fangfragen zwischen den zwei Gruppierungen, von den Spielern schön in Szene gesetzt.

Der Prinz, der ein Ghul war

Den Plottwist des Abends lieferte allerdings der Prinz der Domäne: Mit einem Mal durch einen seiner Ghule alarmiert, floh er überstürzt aus dem Elysium. Als er auch nach langen Augenblicken nicht mehr wiederkehrte, sahen sich die Ghule gezwungen, ein Geheimnis zu lüften: Beim Prinzen der Domäne handelte es sich den gesamten Abend über nicht um den mächtigen Ahn, sondern um seinen durch chirurgisch-kosmetische Eingriffe identisch aussehenden ältesten Ghul (eine Tatsache, der man auf die Schliche hätte kommen können, hätte man nur den Mumm besessen, sich einmal nahe genug an den ‚Prinzen‘ heranzuwagen und mit SL-Ansage tief einzuatmen – aber wer kommt auch auf sowas?!). Der wahre Prinz hatte sich aufgrund der riskanten Situation vieler unbekannter Gäste in einem sicheren Haus verschanzt – was sich allerdings nicht unbedingt als sicher erwies – und mit seinen Ghulen Kontakt gehalten. Doch nun war der Prinz spurlos verschwunden, die Domäne urplötzlich führerlos.

Mit dieser unsicheren Situation konfrontiert, kam für die Spieler – und damit auch für mich – die Stunde der Wahrheit: Denn nur jene, laut Ansage der Hüterin und des Sheriffs, welche sich der Domäne weiterhin verpflichtet fühlten, sollten sich dem Krisenrat anschließen. Als Gast war ich zu nichts verpflichtet, doch nach einigen Augenblicken des Zögerns fiel die Entscheidung: Ich schloss mich dem Krisenrat an, der jedoch außer Verdachtsmomenten gegenüber den Anarchen und Vampirjägern nicht viel Produktives bringen konnte; das Elysium löste sich langsam auf.

Fazit

Durch das sehr direkte Spielsystem, fast ohne Telling, und einer sehr subtil als NSC agierenden SL kam das erwartete ‚andere‘ Feeling des Vampire Live selten bis gar nicht auf. Das einzige Fremde war das modernere Setting und die daraus resultierende engere innere Verknüpfung von Spieler und Charakter. Das Katharsis-Regelwerk unterstützt Immersion durch die subtil integrierten Disziplinen und den Fokus auf das Ausspielen der Situation sehr. Zu keiner Zeit hatte ich das Gefühl, einfach nur eine Stufe über einem Pen&Paper-Abend zu spielen.

Von einer gläsernen Decke war so gut wie nichts zu spüren.

Was ebenfalls positiv hervorzuheben ist, war das integrative und gleichzeitig herausfordernde Spiel in der Gruppe. Durch die bunte Durchmischung der Clans und das offene Setting einer neugegründeten Domäne gab es mannigfaltige Spielangebote auch für die Gäste und Neuspieler, von einer ‚gläsernen Decke‘ war an diesem Abend so gut wie nichts zu spüren, es wurden nur klare Trennungen zwischen ‚ausgewachsenen‘ Vampiren einerseits und Kindern und Ghulen andererseits gezogen, wenn es um die Weitergabe von sensiblen Informationen zum Verbleib des Prinzen ging.

Dennoch war die Erfahrung eine erfrischend andere im Gegensatz zu bisher erlebten singulären IT-Abenden, irgendwo zwischen immersivem Krimidinner, IT-Taverne und Con anzusiedeln.

Und meine impulsive Entscheidung IT denjenigen zu folgen, die sich näher mit dem Schicksal der Domäne verknüpfen wollten, hatte durchaus auch einen OT-Grund.

Was weiter mit Neo Turicum geschieht, liegt mir durchaus am Herzen. Ich bin gespannt, wie sich die führerlose Domäne weiterentwickelt – und es gibt durchaus schon hochfliegende Pläne zusammen mit einigen anderen Spielern. Es lässt sich nicht leugnen: Ich habe Blut geleckt.

Artikelbilder: © VitalikRadko, © 4masik, © olly18, © ArturVerkhovetskiy, © SergeyNivens | depositphotos.com, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur

 

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