Disziplinen im Vampire Live: Großartige, nutzlose Werkzeuge

Vampire sind übernatürliche Wesen mit mystischen Fähigkeiten. Sie stecken Schläge einfach so weg, kontrollieren Gedanken und Gefühle oder verschwinden vor den Augen anderer. Und trotzdem – all diese besonderen Fähigkeiten helfen im Vampire Live längst nicht so sehr, wie man glauben mag.

Natürlich ist es überaus praktisch, wenn der eigene Charakter solche Fähigkeiten besitzt. Ein großes Arsenal übernatürlicher Kräfte ist wie ein großzügig ausgestatteter Werkzeugkoffer und eröffnet ganz neue Wege der Problembewältigung.

Das alleine löst aber längst nicht all die Probleme, denen der Vampir sich regelmäßig gegenüber sieht. Die besten Werkzeuge helfen nicht, wenn sie ungeschickt eingesetzt oder unrealistische Erwartungen an das Ergebnis gestellt werden. Denn eine sichere Lösung sind übernatürliche Fähigkeiten niemals. Auch wenn übernatürliche Fähigkeiten eine Reaktion erzwingen, muss diese nicht unbedingt so aussehen, wie man sie sich im Geiste ausgemalt hat.

Kurzum: Die übernatürlichen Fähigkeiten sind großartige Möglichkeiten, sehr viel Spiel anzustoßen. Eines sind sie aber nicht, und das ist eine Lösung für die Probleme deines Charakters.

Von welchen Fähigkeiten sprechen wir?

In World of Darkness von White Wolf gibt es verschiedene übernatürliche Fähigkeiten beziehungsweise Disziplinen, die den Vampiren eigen sind. Dazu gehört zum Beispiel Dominate, womit Befehle erteilt und Erinnerungen verändert werden. Mit Auspex können Vampire Gedanken und Gefühle lesen und senden, während Potence dem Vampir eine unmenschliche Stärke verleiht. Dies sind nur drei Disziplinen der Clans der Camarilla, einer der großen Vampirgruppierungen der World of Darkness.

Jeder Vampirclan besitzt drei von mehreren Disziplinen, und je nach persönlicher Ausrichtung eines Charakters spezialisiert er sich in einer oder zwei davon, versucht, sie alle zu meistern, oder bemüht sich, die Disziplinen anderer Clans zu lernen.

In anderen Settings besitzen Vampire andere Fähigkeiten. Und sogar die Disziplinen der World of Darkness können von Spielgruppe zu Spielgruppe unterschiedlich im Spiel umgesetzt werden. Eines haben sie aber gemeinsam: Sie sind übernatürliche Fähigkeiten. Und das bringt uns zum nächsten Punkt, nämlich dass Vampire untereinander nichts Außergewöhnliches sind.

Ein Vampir ist nicht außergewöhnlich

Zumindest nicht in der vampirischen Gesellschaft. Denn dort sind übernatürliche Kräfte gang und gäbe. Jeder Vampir weiß, dass jeder andere Vampir über besondere Fähigkeiten verfügt.

Sicher, selbst ein schwacher Vampir ist deutlich mächtiger als normale Menschen. Da das Spiel im Vampire Live sich aber meist auf die Interaktion mit anderen Vampiren oder übernatürlichen Wesen fokussiert, fällt dieser Vorteil weg. Ein Vampir in einer Vampirgesellschaft ist also nichts Einzigartiges. Stelle es dir vor wie einen Fantasy-Con, auf der jeder einzelne Teilnehmer einen magisch begabten Charakter darstellt: Die einen sind vielleicht noch Lehrlinge, während die anderen Erzmagier verkörpern. Aber jeder Charakter kann Magie wirken.

Dadurch wird das Kräfteverhältnis in gewisser Weise angepasst. Vampirische Kräfte können noch immer wirkungsvolle Werkzeuge sein, mit denen man in einer Konfrontation die Oberhand behält. Aber ebenso kann das Gegenüber eine solche Trumpfkarte aus dem Ärmel ziehen, und schon hat man das Nachsehen.

Ein Charakter ist mehr als die Summe seiner Fähigkeiten

Die übernatürlichen Fähigkeiten eines Vampirs haben großen Einfluss auf ihn. Wer in der Lage ist, die Gedanken anderer zu lesen, hat ganz andere Möglichkeiten als jemand, dem diese Option nicht zur Verfügung steht. Solche Möglichkeiten eröffnen dem Charakter bestimmte Wege und formen ihn – wie auch immer er dazu stehen mag.

Gleichzeitig ist ein tiefgründiger und vielschichtiger Charakter mehr als nur eine Sammlung von Disziplinpunkten auf einem Charakterbogen. Er hat persönliche Ziele, Ängste und Marotten. Seine Disziplinen können ihm helfen zu erreichen, was er sich ersehnt, aber sie definieren ihn nicht.

Disziplinen verstärken deine Handlungen

Die besonderen Fähigkeiten eines Vampirs sind Werkzeuge, und als solche funktionieren sie nur so gut, wie sie eingesetzt werden. Oder mit anderen Worten: Es hilft dir nicht, wenn dein Charakter durch übermenschliche Stärke sehr viel Schaden mit seiner Waffe austeilt, du den Gegner aber nicht triffst.

Die Disziplinen deines Charakters funktionieren im Vampire Live am besten, wenn sie verstärken, was du bereits tust. Mehr Schaden zu verursachen oder mehr Treffer auszuhalten macht dich nicht zu einem guten Kämpfer. Kannst du aber bereits kämpfen, sind solche Fähigkeiten sehr nützlich und machen dich zu einem formidablen Gegner.

Gleiches gilt für soziale Disziplinen: Wenn du empathisch wie ein Stück Brot bist und den Charme eines übellaunigen Eremiten hast, wird auch die übernatürliche Fähigkeit, dir andere Charaktere gewogen oder gar in dich verliebt zu machen, nicht ihr volles Potenzial erreichen. Weißt du aber, wie du dich anderen nähern und eine zwischenmenschliche Verbindung aufbauen kannst, wirst du sehr viel weiter kommen.

Und das ist ein sehr wichtiger Punkt: Der Einsatz von Disziplinen erzwingt eine Reaktion, aber wie genau diese ausfällt, hängt sowohl von deinem Spiel als auch von deinem Gegenüber ab.

Sind Disziplinen Interpretationssache?

Die Antwort ist ein eindeutiges Jein.

Einerseits sind diese besonderen Fähigkeiten im Regelwerk einer Gruppe oder Chronik beschrieben. Damit steht grundlegend fest, welchen Effekt welche Disziplin auf ein Opfer hat.

Gleichzeitig liegt es aber auch immer am Opfer, wie genau seine Reaktion aussieht. Denn auch klare Beschreibungen haben oft einen gewissen Interpretationsspielraum. Bleiben wir beim Beispiel der beeinflussten Gefühle und dem Verliebtmachen: Wie genau sich das verliebte Opfer verhält, kann der Anwender der Disziplin nicht vorhersagen. Es kann ihn aus der Entfernung anhimmeln, ihm den ganzen Abend zu Diensten sein oder eifersüchtig jeden anderen von seiner Seite vertreiben. Keine dieser Reaktionen wäre falsch, auch wenn sie vielleicht nicht dem entsprechen, was der Anwender sich erhofft hat.

Aber natürlich kann der Darsteller des Opfers nicht entscheiden, eine auf ihn angewandte Disziplin zu ignorieren, nur weil ihm die Darstellung nicht gefällt. Innerhalb der Definition der Disziplin muss er reagieren und darauf eingehen. Als Opfer einer Disziplin muss man fair bleiben: Wenn jemand mittels Disziplinen in deinen Geist eindringt, um herauszufinden, welche Personen jetzt gerade von großer Relevanz für dich sind, kann deine Antwort nicht eine Szene aus deiner Vergangenheit sein, die nichts mit der Frage zu tun hat.

Bildlich gesprochen: Eine Disziplin ist eine Bühne, auf der Anwender und Opfer spielen und sich ausprobieren können. Aber der Anwender gibt das Thema vor, an welches das Opfer sich halten muss.

Disziplinen sind keine Schnellstraße zum Erfolg

Disziplinen im Vampire Live sind keine Abkürzung zum gewünschten Ergebnis. Zumindest nicht, wenn du nicht dennoch gewillt bist, Mühe in deine Abkürzung zu investieren. Wie überall im Leben gilt auch für Vampire: Nichts ist kostenlos oder einfach zu erreichen.

Mit dem Einsatz von Disziplinen kann schnell etwas erreicht werden, das sonst sehr viel mehr Zeit in Anspruch nimmt. Aber dafür ist auch die Wirkung nur von kurzer Dauer, und anschließend sind die Opfer meistens nicht sehr gut auf einen zu sprechen. Der Einsatz einer Fähigkeit ist kein Ersatz für eine über mehrere Treffen aufgebaute Beziehung zu anderen Charakteren.

Natürlich gibt es Situationen, in denen Vampire ihre Disziplinen wie eine Brechstange einsetzen. Dann knacken sie den Geist ihres Gegenübers ohne Rücksicht auf Verluste, weil sie keine Zeit oder Motivation haben, subtil vorzugehen. Oder sie setzen rohe Gewalt ein, oder erzwingen ein bestimmtes Verhalten durch direkte, offene Befehle. Eine langfristige, positive Beziehung entsteht auf diese Weise aber nicht.

Sei kreativ!

Die übernatürlichen Fähigkeiten eines Vampirs sind im Vampire Live insgesamt ein zweischneidiges Schwert. Einerseits stecken sie voller Möglichkeiten, andererseits können sie auch zu gänzlich unerwarteten Ergebnissen führen.

Je größer und präziser definiert das erhoffte Ergebnis ist, desto größer ist die Chance, dass es nicht so funktioniert, wie du es dir erhoffst. Gleichzeitig können viele kleine, kreative Einsätze von Fähigkeiten dich deinem Ziel sehr nahe bringen.

Um zum Beispiel einen anderen Charakter in Schwierigkeiten zu bringen, musst du ihn nicht direkt zwingen, offen mächtige Charaktere anzugreifen. Mein Lieblingsbeispiel für den kreativen Einsatz: Charakter A veränderte die Erinnerung von Charakter B dahingehend, dass Charakter B felsenfest überzeugt war, Charakter C an diesem Abend bereits begrüßt zu haben, weshalb Charakter B diesen den restlichen Abend nicht weiter ansprach. Charakter C war entsprechend wütend, ignoriert worden zu sein, und begann, eine Gegenreaktion zu planen.

Fazit: Disziplinen sind Impulse, keine Lösungen

Die vampirischen Fähigkeiten sind sehr starke Spielimpulse, die vom Gegenüber eine Reaktion einfordern. Je nachdem, wie eine Disziplin rollenspielerisch verpackt ist, ist sie mehr oder weniger wirkungsvoll.

Je genauer du dein Gegenüber kennst, desto sicherer kannst du abschätzen, wie es reagieren wird. Vollkommen sicher kannst du aber niemals sein. Der Einsatz einer übernatürlichen Fähigkeit ist daher nur ein Impuls, mit dem du einen anderen Charakter in eine bestimmte Richtung schubst.

Selten ist der Einsatz einer Disziplin die direkte Lösung eines Problems. Denn wie genau dein Gegenüber reagiert, hängt von dem anderen Spieler ab. Statt auf ein bestimmtes Ergebnis zu warten, sei offen für Überraschungen! Nur, weil etwas nicht so ausgeht, wie du es dir ausgemalt hast, heißt das nicht, dass der andere schummelt. Und macht nicht gerade diese Chance des Unerwarteten einen großen Reiz im Vampire Live aus?

Artikelbilder: © White Wolf, © Onyx Path, deposiphotos:© prometeus, © IgorVetushko © chones