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Väterchen Frost steht vor der Tür – und mit ihm die gemütlichste Jahreszeit zum Lesen. Auch in der Phantastik spielen Schnee und Eis ihre Rolle: Es gilt, Eisplaneten zu erkunden und die Antarktis zu erforschen, dem großen Schlaf zu widerstehen und das Herz des Winters zu erweichen. Aber seht selbst …

Wenn es schon nachmittags dunkel wird und einem draußen fast die Ohren abfrieren, verlässt man das Haus am besten gar nicht mehr. Stattdessen baut man sich eine Burg aus wunderwarmen Wolldecken und kuschelt sich mit einem Stapel guter Bücher ein, bis der Frühling kommt. Um auch richtig in Winterstimmung zu geraten und die Gemütlichkeit der eigenen vier Wände noch besser wertschätzen zu können, braucht es allerdings das richtige Setting: sommerliche Blumenwiesen und wuselnde Großstadtplaneten weichen verschneiten Wäldern, einsamen Eiswüsten und klirrenden Winternächten. Falls jemand noch auf der Suche nach der richtigen Lektüre für die kalte Jahreszeit ist, verrate ich euch hier meine liebsten Romane in Eis und Schnee.

The Bear and the Nightingale – Katherine Arden (Del Rey)

Vasya Petrovna wächst mit ihren Geschwistern im Norden Russlands auf, weit entfernt von Moskau und dem Hof des Zaren. Die Christianisierung ist in vollem Gange, doch auf dem Land erzählt man sich noch immer nachts am Feuer von alten Göttern und Schutzgeistern, und von Morozko, dem Winterkönig, der schon mancher jungen Frau zum Verhängnis wurde. Vasya weiß, dass die Geschichten wahr sind, denn wenn sie im Sommer halb wild durch die Wälder streift, spricht sie mit den Tieren und lernt, die magischen Bewohner des Waldes zu sehen. Als ihr verwitweter Vater eine streng gläubige Adlige aus der Hauptstadt heiratet, die seine vagabundierende jüngste Tochter zu einer guten Partie erziehen soll, ahnt er nicht, dass dies das Schicksal der gesamten Familie verändern wird. Etwas Böses lauert jenseits des Dorfes, etwas, das sich die Angst von Vasyas neuer Stiefmutter zu Nutze machen will, um sich endgültig zu befreien und Russland zu beherrschen …

The Bear and the Nightingale © Del Rey

Die Romanistin und Slawistin Katherine Arden passt die altbekannte Konstellation aus einem magischen Mädchen, das seiner Zeit voraus ist, verstockten Dörflern, die sie der Hexerei verdächtigen, und einem übernatürlichen Winterkönig, dessen Achtung sie gewinnen muss, so organisch in ihr mittelalterliches Russland ein, dass sie einem ganz neu und unverbraucht vorkommt. Indem sie viel Wert auf die Familienkonstellation legt und sich im ersten Buch ganz auf die Jugend der Protagonistin konzentriert, schafft sie eine beinahe kinderbuchartige Idylle, in die das Christentum und seine Vertreter wie ein Fremdkörper eindringen, um den Leser wie Vasya mit dem Gefühl eines nicht wiedergutzumachenden Verlusts von Wärme und Geborgenheit zurückzulassen. Ihre weiteren Abenteuer in der Winternight-Trilogie führen die junge Frau bis nach Moskau an den Hof des Zaren, doch im Herzen trägt sie stets ein verzaubertes Haus im kalten Herzen des Waldes, wo auch im Sommer der Schnee niemals taut. Dass selbst die zunächst nur angedeutete Romanze zwischen dem Hexenmädchen und dem Winterkönig nie gänzlich ins Klischeehafte verfällt, verdankt sich vor allem Ardens konsequentem Selbstfindungsthema, das nicht disneyhaft verkürzt in der Begegnung mit irgendeiner wahren Liebe gipfelt, sondern im Kampf einer modernen Heldin gegen die Zwänge und Erwartungen einer feudalen Gesellschaft.

Der erste Band ist unter dem Titel Der Bär und die Nachtigall kürzlich auf Deutsch erschienen.

Die harten Fakten

  • Verlag: Del Rey
  • Autorin: Katherine Arden
  • Erscheinungsdatum: 10. Januar 2017
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN: 978-1-1018-8593-2
  • Preis: 19,95 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Antarktika – Kim Stanley Robinson (Heyne)

Bis heute steht Kim Stanley Robinson für literarisch anspruchsvolle, verkopfte soziale Science-Fiction, die vor wissenschaftlichen Exkursen nicht zurückschreckt. Mit Antarktika erklärt der Autor der Mars-Trilogie seine Liebe zum einst so ewig scheinenden, doch nun bedrohten Eis des Südpols und zu den Geschichten, die sich um ihn ranken. Leichte Unterhaltung sieht anders aus, aber wer sich für Polarforschung interessiert, bereits als Kind den tödlichen Wettlauf zwischen Scott und Amundsen nachgespielt hat und von Gletschern im Schein der Mitternachtssonne träumt, hat hier sein Buch für den Winter gefunden.

Die Science-Fiction-Elemente, mit denen die Geschichte durchsetzt ist, sind zunächst kaum wahrnehmbar. Ähnlich wie in seinem 2018 erschienenen Erfolgsroman New York 2140 arbeitet Robinson detailliert und gewissenhaft ein spezifisches Milieu aus, das sich aus der Perspektive verschiedener Figuren zusammensetzt, die in der Antarktis leben und arbeiten. Valerie Kenning ist eine professionelle Bergsteigerin, die als Reiseleiterin historische Expeditionen nachstellt. X ist mit seiner Arbeit als General Field Assistant unzufrieden und heuert bei einer Firma an, die in der Polregion zwielichtigen Geschäften nachgeht. Ta Shu ist mit einem Stipendium zu Gast auf einer Forschungsstation und möchte an heiligen antarktischen Orten meditieren. So erschließt sich die ungastliche Eiswelt als ebenso vielseitig wie ihre BewohnerInnen, ist Rückzugsort, Herausforderung, Forschungsobjekt, Arbeitsplatz und Heiligtum, ohne dass sich zwischen diesen Be-stimmungen ein Widerspruch ergäbe.

Antarktika © Heyne

All das gerät in Gefahr, als der Antarktis-Vertrag, der militärische Operationen und Ausbeutung von Bodenschätzen untersagt und die Polarregion zu einem neutralen Gebiet macht, auszulaufen droht. Politiker und Großkonzerne stehen ebenso in den Startlöchern wie militante Umweltschützer, um die unberührte Wildnis entweder nutzbar zu machen oder zu schützen, und bald geraten die Figuren zwischen die Fronten. Wer Robinson kennt, weiß, dass es dabei auf keinen actionreichen Showdown hinausläuft, denn politische Fragen verlangen eben nach einer politischen Lösung. Nebenbei erfährt man unzählige Fakten über die Geschichte der Antarktis, ihre Wetterverhältnisse, gängige Forschungsmethoden und das Überleben bei extremen Witterungsbedingungen. Lehrreicher könnte eine Winterlektüre gar nicht ausfallen.

Die harten Fakten

  • Verlag: Heyne
  • Autor: Kim Stanley Robinson
  • Erscheinungsdatum: 1. Januar 2001
  • Sprache: Deutsch (aus dem Amerikanischen übersetzt von Peter Robert)
  • Seitenanzahl: 687
  • ISBN: 978-3-4531-8779-5
  • Preis: —
  • Bezugsquelle: nur antiquarisch, etwa beim Amazon Marketplace

 

Eiswelt – Jasper Fforde (Heyne)

Die Eiszeit hat nie geendet, die Menschheit hat sich evolutionär angepasst und ist zu einer Spezies pelziger Winterschläfer geworden, die ihre gesamte Kultur aufs Überleben ausrichten musste. Über lange Zeit hinweg war die Sterblichkeitsrate im Winter sehr hoch, doch dann trat die Firma HiberTech ihren Siegeszug an und versetzte ihre Kunden in einen künstlichen Schlaf, welcher die Überwinterung erleichtert. So schlummern die einfachen Bürger beim ersten Schneefall selig ein und die Städte werden still, verwaltet von einigen wenigen Wächtern, den Winterkonsuln, die der Müdigkeit widerstehen und die schutzlosen Schläfer vor Schaden bewahren. Als der Waisenjunge Charlie Worthing ausgewählt wird, diese gefährliche Verantwortung zu übernehmen, kann er sein Glück zunächst kaum fassen – doch als sein Mentor eines plötzlichen Todes stirbt (in dem Berufsfeld keine Seltenheit), steigt er schlagartig in der Hierarchie auf und muss sich fortan mit kannibalischen Schlafwandlern, schizophrenen Vorgesetzten und einem infektiösen Traum auseinandersetzen.

Eiswelt © Heyne

Jasper Fforde, der für seine humorvoll-literaturverliebte Thursday Next-Reihe bekannt ist, übertrifft mit diesem kuriosen Winterthriller alle Erwartungen und umgeht souverän die klassischen Fallen eines so sehr auf Überleben und Populationskontrolle ausgelegten Settings, sodass sein Zynismus nie ins Geschmacklose umschlägt. Die Geschichte um Charlie, der als Aufsteiger wider Willen mehr als ein Geheimnis zu lüften hat, nimmt so viele wohlüberlegte Wendungen, die man oft nicht hat kommen sehen, dass es immer schwerer fällt, das Buch aus der Hand zu legen. So komplex die Handlung ist, so übersichtlich sind dabei die Schauplätze. Sie werden zu Inseln inmitten der tödlichen Kälte; mit fortschreitendem Winter kommt jeder Ortswechsel einer Mutprobe gleich. Die schrulligen Charaktere – Ffordes große Stärke – haben einen hohen Wiedererkennungswert, wirken herrlich absurd, aber nie unplausibel, denn der lange schlaflose Winter treibt merkwürdige Blüten im menschlichen Sozialverhalten. Überraschend, ungewöhnlich und ungemein komisch ist dies der Roman über abgefrorene Ohren, von dem ihr garantiert nicht wusstet, dass ihr ihn braucht.

Die harten Fakten

  • Verlag: Heyne
  • Autor: Jasper Fforde
  • Erscheinungsdatum: 12. November 2018
  • Sprache: Deutsch (aus dem Englischen übersetzt von Kirsten Borchardt)
  • Seitenanzahl: 656
  • ISBN: 978-3-4533-1969-1
  • Preis: 14,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Spinning Silver – Naomi Novik (Macmillan)

„Mädchen trifft magischen Winterkönig“ scheint ein beliebtes Thema nach dem Motto „Mein übernatürlicher Liebhaber“ zu sein, das sich nicht nur Katherine Arden, sondern auch bei Naomi Novik findet, deren Romane ebenfalls von slawischer Folklore inspiriert sind. Wo Arden noch mit dem Klischee spielt, arbeitet Novik es komplett um, bis kein Eisblock mehr auf dem anderen bleibt.

Spinning Silver © Macmillan

In der sehr freien Rumpelstilzchen-Nacherzählung Spinning Silver nimmt die junge Geldverleiherin Miryem den Mund etwas zu voll und behauptet während einer Kutschfahrt durch eine kalte Winternacht, Silber zu Gold spinnen zu können. Bald darauf steht der König der Staryk vor ihrer Tür, in dessen verzaubertem Eisreich das gelbe Metall eine Seltenheit darstellt. Nun muss Miryem für den magischen Herrscher, der offenbar keinen Sinn für Metaphorik hat, drei Taschen Silber vergolden, um seine Königin zu werden – ein Ausgang, auf den in Wahrheit beide wenig Lust haben. Dabei ist Miryem nicht die einzige, die auf eine Zwangsehe mit einem übernatürlichen Wesen zusteuert …

Spinning Silver ist eines der schönsten modernen Märchen, die man sich denken kann. Es lebt von Handels- und Schuldstrukturen, macht, dem in vielen Volksmärchen tradierten Antisemitismus entgegenwirkend, das Judentum als praktizierte Religion zum Thema und zeigt, dass man problematische Strukturen und Narrative aufbrechen kann, ohne die Geschichte dahinter zu schmälern.

Die harten Fakten

  • Verlag: Macmillan
  • Autorin: Naomi Novik
  • Erscheinungsdatum: 12. Juli 2018
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 480
  • ISBN: 978-1-5098-9902-9
  • Preis: 15,84 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon (auch in deutscher Übersetzung)

 

The Left Hand of Darkness – Ursula K. Le Guin (Gollancz)

Wer Le Guins schmerzhaft schönen, klugen und in vielerlei Hinsicht unübertroffenen Roman noch nicht gelesen hat, sollte das unbedingt nachholen – weshalb dann nicht diesen Winter? Wer das elaborierte Gedankenexperiment über Gender, Religion und interkulturelle Kommunikation bereits kennt, sollte es unbedingt wieder lesen – am besten noch, bevor der Frühling kommt. Immerhin ist es einer der wichtigsten Science-Fiction-Romane des 20. Jahrhunderts, der in fünfzig Jahren nichts von seiner Brisanz verloren hat.

Zu behaupten, Le Guin habe auf dem Eisplaneten Gethen einfach nur eine Gesellschaft ohne Geschlecht erfinden wollen, verkürzt ihren Ansatz. Im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass sich der Faktor Geschlecht vielleicht aus ihrer Geschichte herauskürzen lässt, nicht aber aus den LeserInnen, richtet sie mit dem Protagonisten Genly Ai einen irdischen Botschafter als vertraute Perspektive ein, der die eigentliche Frage aufwirft: Wie ist Geschlechtsneutralität aus einer bereits geschlechtlich vorgeprägten Perspektive zu denken? So wird man letztlich auf die Selbstverständlichkeit zurückgeworfen, mit der man dennoch allen Figuren, denen Ai begegnet, Geschlechter zuordnet, und, ebenfalls mit Ai, langsam lernen, dies nicht zu tun und auch in anderer Hinsicht die Fremdheit des „Anderen“ anzuerkennen. Hält man sich das vor Augen, ist es kaum zu glauben, dass dieses Buch bereits vor einem halben Jahrhundert geschrieben wurde.

Schnee und Eis, die Suche nach Wärme in bedrohlicher Kälte, bilden den motivischen Hintergrund des Romans, der auf Deutsch nicht umsonst zuerst als Winterplanet erschien. Dies kulminiert in Ais achzigtägiger Flucht durch die Eiswüste zwischen zwei Ländern, auf der er und Estraven, eine politisch hochgestellte Person, die plötzlich des Hochverrats angeklagt wurde, endlich beginnen, einander zu verstehen. Es ist ein alter Topos: Im Überlebenskampf gegen die unerbittliche Natur werden Fremde zu Freunden, besinnen sich auf ihre Menschlichkeit, Gemeinsamkeit und vertrauen einander in den wenigen ruhigen Stunden Geheimnisse an, die sie sonst niemals ans Licht kämen. So ist es auch das letzte Ziel des Buches, Gegensätze zu vereinen, Männlichkeit und Weiblichkeit, Leben und Tod, Licht und Dunkelheit sind keine Widersprüche, sondern gehen fließend ineinander über – und während die Sonne Tag für Tag früher untergeht, rezitieren wir leise: „Light ist the left hand of darkness / and darkness the right hand of light.“

Die harten Fakten

  • Verlag: Gollancz
  • Autorin: Ursula K. Le Guin
  • Erscheinungsdatum: 13. April 2017
  • Sprache: Englisch
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN: 978-1-4732-2162-8
  • Preis: 6,85 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon (auch in deutscher Übersetzung)

Titelbild: © paulgrecaud | depositphotos.com
Artikelbilder: Wie gekennzeichnet. Bearbeitung: Roger Lewin

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