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Heimweh nach dem Kurfürstendamm? Kein Problem. Direkt nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung von Shadowrun 6 legt Pegasus mit einem Quellenband zur Anarchenstadt Berlin nach. Vielfach geteilt und wiedervereinigt, unregierbar und voller Möglichkeiten ist die Stadt auch im Jahr 2080. Für Schattenläufer ein äußerst lohnenswertes Pflaster.

Ach, Berlin! Sehnsuchtsort, Modemetropole, Intrigenhauptstadt, Touristenfalle und Sündenbabel an der Spree! Wir sprechen hier natürlich vom Berlin der 2080er in der dystopischen Welt von Shadowrun – eventuelle Ähnlichkeiten mit der heutigen Bundeshauptstadt sind sicher reiner Zufall. Während in der fünften Edition (und auch im ADL-Kapitel des deutschen Grundregelwerks) eher Hamburg im Mittelpunkt stand, tritt nun Berlin ins Rampenlicht des ersten Quellenbandes von Shadowrun: Sechste Welt. Das Ambiente scheint bekannt: Chaos, Gewalt und gelebte anarchistische Utopie existieren noch immer nebeneinander in der Freistadt – wenn auch zunehmend im Schatten von Konzerninteressen. Was sonst noch neu ist, lest ihr hier.

Inhalt: Dit is Berlin!

Schon die Einleitung zu Berlin 2080 macht klar: Selbst in einer so vielfältigen kulturellen und politischen Landschaft wie der Allianz Deutscher Länder (ADL) ist die einstige Hauptstadt Berlin immer noch ein Sonderfall. Eine gemeinsame Identität ist der Stadt auch nicht zuzuweisen – jeder Stadtteil, jeder Kiez ist eine Welt für sich. Der Versuch, diese unterschiedlichen Welten irgendwie im Sinne von Konzerninteressen oder dem Politikbetrieb zusammenzubringen, führt regelmäßig zu Konflikten. Das ständige Chaos und die Konkurrenzkämpfe der Mächtigen machen Berlin zu einem entsprechend lohnenswerten, wenn auch gefährlichen Pflaster für Runner.

Berlin 2080 – eventuelle Ähnlichkeiten mit der heutigen Bundeshauptstadt sind sicher reiner Zufall.

Mit 202 Seiten gibt der Quellenband eine äußerst detailreiche Einführung in die zahlreichen Bezirke, Konzernarkologien, Industriebrachen und anderen Stadtviertel der vielfach geteilten und wiedervereinigten Metropole. Nach einer kurzen Zusammenfassung der jüngsten Geschichte (die unter anderem den Mobkrieg zwischen den Roten und Weißen Vory behandelt) beschreibt ein ausgiebiger „Stadtrundgang“ das Setting mit einigem Fluff, bevor die nächsten Kapitel „spielrelevantere“ Informationen zu örtlichen Syndikaten, Gangs, Konzernen und Politiker*innen bieten. Der Text schafft es dabei, einen Eindruck vom Flair des Megasprawls zu verschaffen – mitsamt seinen zahlreichen Identitäten, dem hemmungslosen Individualismus vieler seiner Einwohner*innen und dem fast schon liebgewonnenen alltäglichen Chaos zwischen dem Shariastaat des Emirats Kreuzberg und den freilaufenden Paracrittern im von Aztechnology kontrollierten Spandauer Forst. Eines fällt bei der Lektüre auf: An vielen Stellen scheint die Berliner Szene der 2080er sich wieder auf die 1920er Jahre zurückzubesinnen – der letzten goldenen Ära der Stadt, vor ihrem tiefsten Fall. Ob die Shadowrun-Autor*innen damit wohl etwas andeuten wollen?

Personen, Hintergründe, vorangegangene Ereignisse

Personendetails: Nakaira zum Beispiel ist eine Medienpersönlichkeit der Freistadt Berlin.

Vorherige Quellentexte wie Datapuls:Berlin aus der fünften Edition bleiben zwar aktuell, jedoch geht Berlin 2080 mehr ins Detail über die beteiligten Personen, die Hintergründe und die Folgen der dort beschriebenen Ereignisse – schließlich sind wir inzwischen in den 80er Jahren angekommen. Die Spielinformationen knüpfen daran direkt an, sind aber, dank des geschichtlichen Überblicks am Anfang, auch ohne die älteren Texte verständlich. Hausmacht in Berlin ist immer noch die 2055 gegründete Berliner Verwaltungs-AG, kurz BerVAG, der offiziell die Verwaltung Berlins inklusive Gerichtsbarkeit unterliegt – da, wo nicht die Syndikate oder die Anarchie herrschen.

Natürlich gibt es auch große extraterritoriale Konzerngebiete, wie etwa das Waldgebiet zwischen Falkensee und Oranienburg, in dem Aztechnology merkwürdige – und gefährliche – Critter züchtet und höchswahrscheinlich unschöne Experimente an Metamensch und Tier durchführt. Die Evo Corporation unterhält in Berlin-Zehlendorf ihre deutsche Zentrale, Saeder-Krupp gehört Tempelhof, und Renraku hat das, was einmal Wedding war, in eine Art Klein-Japan mit Berliner Flair verwandelt.

Im Untergrund des dystopischen Zukunft-Berlins brodelt es.

Neben den großen Zehn gibt es natürlich auch zahlreiche AA- und A-Konzerne, die ein Stück vom Berliner Kuchen abhaben wollen, nicht zuletzt der Medienkonzern DeMeKo. Auf dem Gebiet des organisierten Verbrechens bleibt die Russenmafia interessant, deren Roter und Weißer Zweig unter der Elfe Nadjeska „Drakova“ Girkin nach jahrzehntelangem Krieg vereint wurden – doch ihre Macht steht auf wackligem Boden. Dazu gibt es natürlich noch eine große Auswahl an anderen Syndikaten, kriminellen Clans, Sprawlguerillas und Straßengangs, die sich als Gegner*innen, aber auch als Auftraggeber*innen eignen. „Herr Schmidt“ trägt schließlich bekanntlich nicht immer Anzug. In klassischer Shadowrun-Manier stellt der Haupttext all diese Machtspieler*innen vor und gibt damit Information und Inspiration, während die „Kommentare“ darunter immer wieder Plot-Aufhänger und Zusatzinformationen zusteuern.

Matrix, Magie, Insiderwissen

Im Kapitel „Matrix und Magie“ sind Hintergrundinformationen für Hacker*innen, Technomancer*innen und Erwachte Charaktere gesammelt. Da wird unter anderem das Schwarze Netz vorgestellt, ein mehr oder weniger geheimes Kabelnetzwerk, das eine Alternative zur allgemeinen Matrix darstellt, sowie mehrere matrixbasierte Alternativnetze, die vor der Überwachung durch die Konzerne schützen sollen (aber dafür von anderen kontrolliert werden). Das Kapitel listet außerdem wichtige magische Orte – wie das von rachsüchtigen Geistern heimgesuchte Gelände des KZ Sachsenhausen und andere Spukorte – und Gruppierungen auf.

Das Kapitel „Schattenseiten“ stellt schließlich das zusammen, was alle Shadowrunner, die in Berlin länger als einen halben Tag überleben wollen, wissen müssen. In den „Gelben Seiten für die Schatten“ findet man unter anderem Hehler*innen, Streetdocs und Taliskrämer*innen. Noch technischer wird es im Kapitel „Spielinformationen“, das eher für die Spielleitung vorgesehen ist. Da gibt es unter anderem ein Würfeltool, um zufällig Gebäude und Stadtviertel zu designen, sowie eine Liste generischer NSC und Werte zu eventuell in der Hand der Gegenseite auftretenden Drohnen und Fahrzeugen. Wichtige Locations mit Bodenplänen finden sich ebenfalls hier.

Erscheinungsbild

Ganz im Stile des Grundregelwerks von Shadowrun: Sechste Welt ist auch das Layout des Berlin-Quellenbandes durchgehend hell und ansprechend, der Text gut zu lesen. Wichtige Informationen stehen in Kästen, die in cyberpunkigem Lila gehalten sind. Besonders positiv fallen die hochqualitativen Illustrationen auf: ohne harten Bildrand, aber auch ohne in den Text hineinzuragen, lockern sie die Gestaltung nicht nur auf, sondern wirken fast wie ein Blick ins wilde Berlin der 2080er. Mehrere Karten geben einen guten Überblick über die politisch-geografische Lage Berlins – Kenner*innen der Stadt haben an diesen vielleicht etwas mehr Freude als Menschen, die nie in Berlin gelebt haben, aber gerade solche brauchen das Kartenmaterial umso mehr (schon allein, weil das Kapitel „Stadtrundgang“ keinem sinnvollen geographischen Muster folgt). Die grafische Gestaltung allein macht schon Lust zu spielen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Pegasus
  • Autoren: Torben Föhrder, Philipp Frey, Christian Götter, Tobias Grunow, Tobias Hamelmann, Jan Helke, Melanie Helke, Jörg Middendorf, Sascha Morlok, Florian Oldenburg, Christian Paschke, Benjamin Plaga, Andreas “AAS” Schroth, Niklas Stratmann
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: Deutsch
  • Format: PDF, Hardcover
  • Seitenanzahl: 202
  • ISBN: ISBN 978-3-95789-308-6
  • Preis: 19,95 EUR
  • Bezugsquelle: DriveThruRPG

 

Bonus/Downloadcontent

Die Einleitung zu Berlin 2080 weist auf die Pegasus-eigene Seite shadowrun6.de hin, auf der regelmäßig kostenloser Content zur Verfügung gestellt wird. Darunter ist bisher, neben Charakterbögen zum Download, dem Charaktergenerator Genesis und anderen nützlichen Extras, auch das in Berlin angesetzte Abenteuer Schattentricks.

Fazit

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202 Seiten zum wildesten Sprawl der ADL: Berlin, watt lieb‘ ick dir. Berlin 2080 bietet tatsächlich umfassende und detaillierte Informationen zu den vielen verschiedenen Kiezen mit ihren politischen Systemen, Kulturen und Weltanschauungen sowie zu den politischen und wirtschaftlichen Interessen der Mächtigen an und in der Metropole. Das Setting wird so weit erklärt wie Berlin eben erklärbar ist – und das ist schon heute eine Mammutaufgabe. Zudem enthält der Quellenband eine Menge an Hintergrundinformationen für Spielleiter*innen, Aufhänger für Runs, wichtige Locations und eine Riesenauswahl möglicher Gegner und Verbündeten.

Obwohl ich dem stark vereinfachten Regelsystem von Shadowrun: Sechste Welt generell eher skeptisch gegenüberstehe, hat die Lektüre von Berlin 2080 mir Lust darauf gemacht, einen Run in Berlin zu planen. Das liegt einerseits an dem umfangreichen Informationsmaterial, sicher aber auch an der schönen Gestaltung des Bandes. Mehr muss zu einem Quellenbuch eigentlich kaum gesagt werden, oder? Prädikat: empfehlenswert.

 

Artikelbilderer: © Pegasus, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

11 Kommentare

  1. Klingt gut. Kurze Frage dazu: Wie brauchbar ist der Band für diejenigen die um 6E einen Bogen machen und bei einer von den älteren Editionen bleiben ?

  2. Danke für die Info.
    Dann sollte es auch mit SR4A halbwegs vernünftig gehen. An der Wertehöhen und Namen der Ausrüstungsgegständen bei den NSCs hat sich an sich ja nicht viel geändert.

  3. Hi, ich bin kein regelmässiger Leser Eurer Seite, daher bin ich mit Eurem üblichen Wertungsrahmen nicht vertraut. Wenn ich mir aber den Wertungsschlüssel ansehe, steht da zu diesem Daumen, dass das Produkt leichte Abstriche habe, aber in der Summe doch überzeuge.

    Nur – die Rezension nennt keinen einzigen Abstrich?

    Ist das ein Fall von „ganz oben kriegt nur der liebe Gott“, oder bleiben hier Mängel unerwähnt?

    • Hm, ich sage mal: es ist eine Mischung aus beidem.

      Tatsächlich ist die Wertung Daumen nach ganz oben bei uns sehr selten und für absolut perfekte Produkte ohne jeden Wermutstropfen vorbehalten.

      Mein Wermutstropfen bei diesem Produkt ist, dass ich mich nicht so recht mit dem Regelwerk von SR6 anfreunden kann. Zwar ist der Band auch (wie oben erwähnt) für andere Editionen brauchbar, jedoch gibt es eben auch viel, was auf den Regeln von SR6 basiert. Das müsste man konvertieren oder in älteren Quellenbüchern nachlesen.

      Falls du sie noch nicht gelesen hast, empfehle ich die Rezi zum SR6-Grundregelwerk von Norbert. Das System hat auch seine schönen Seiten, aber eben auch Abstriche. Meine Bewertung wäre etwas anders ausgefallen. Geschmäcker sind verschieden ;)

      • Hi, vielen Dank für Deine Antwort! Damit wird’s nachvollziehbarer, auch wenn ich im Ergebnis nicht zum gleichen Befund komme. Muss man ja aber auch nicht.

        Ich persönlich bringe SR6 keinerlei warmen Gefühle entgegen und halte es für eine Katastrophe von einem System, finde das Berlin-Buch aber dennoch einen der besten Settingbände, die ich je in der Hand hatte.

        Aber einerlei, ich weiss die Klarstellung zu schätzen!

  4. Hoy Chummer,
    danke für die Rezension, hat mir bei meiner Kaufentscheidung sehr geholfen. Auch super das du konsequent durch ge-gendert hast =)

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