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Mit der Schatzinsel schuf Robert Louis Stevenson den vielleicht wichtigsten Piratenroman aller Zeiten, und sein verschrobener, aber charismatischer Smutje Long John Silver wurde eine prototypische Piratenfigur. Jetzt ist der Mann mit dem Holzbein zurück, als Protagonist seiner ganz eigenen Graphic Novel. Long John Silver ist ein atmosphärisch dichtes Meisterwerk geworden.

Bereits im Jahr 1881 veröffentlichte der aus Edinburgh stammende Romancier Robert Louis Stevenson seinen Klassiker der Jugendliteratur Die Schatzinsel. Die Geschichte des Jungen Jim Hawkins, der im Admiral Benbow Inn an eine Schatzkarte gelangt und mit der Hispaniola hinaussegelt, um Abenteuer auf den sieben Weltmeeren zu erleben, gehört zu jener Art Literatur, die man im Laufe seines Lebens mindestens einmal gelesen haben sollte. Ursprünglich erschien die Geschichte als Mehrteiler in einer Jugendzeitschrift und gehörte damit zur Populärkultur ihrer Zeit. Heute ist sie längst ein Klassiker geworden. Inspiriert wurde die Erzählung von einer Schatzkarte, die er und ein Schriftstellerkollege in die Hände bekamen.

Ihre wichtigste Figur neben dem jungen Jim ist sicherlich der Schiffskoch Long John Silver. All dies bildet den Saatboden, auf dem die Graphic Novel Long John Silver von Xavier Dorison und Mathieu Lauffray gediehen ist. Die Geschichte ist in einem der wichtigsten populärkulturellen Medien, dem Comic, erschienen. Es geht darin ebenfalls um eine Schatzkarte, und die zentrale Titelfigur ist niemand anderer als Long John Silver, der einbeinige Smutje der Hispaniola.

Handlung

Long John Silver erzählt eine atmosphärisch absolut stimmige Piratengeschichte. Eine junge und skrupellose Adelswitwe steht vor der Armut, denn ihr Mann ist auf See verschollen und ihr Land bringt keine Einnahmen mehr. Gerade, als sie in einer finanziell motivierten Ehe die Rettung aus ihren Nöten sucht, taucht der Bruder ihres Mannes auf dem Landgut auf und verkündet, der Gemahl könnte noch leben. Die neue Ehe kann nicht geschlossen werden, und die Lady steht vor dem Aus. Ihre einzige Hoffnung liegt in der Schatzkarte, die der Bruder gemeinsam mit einem seltsamen Indio aus der Neuen Welt mitgebracht hat.

Denn diese soll zur berüchtigten Stadt des Goldes führen, einem Relikt der Maya-Zeit. Eine Reise ins Ungewisse beginnt, und die Hoffnungen der jungen Frau liegen auf den seemännischen Künsten des gealterten Dr. Livsey, der den Lesern der Schatzinsel bestens als das allzeit aufrichtige gute Gewissen von Jim Hawkins bekannt ist, und dem skrupellosen, gerissenen aber auch charismatischen Piraten John Silver, der sich mit einer Gaststätte selbstständig gemacht hat. Natürlich kann Silver der Verlockung von Gold und Abenteuer nicht widerstehen, und so entbrennt ein Abenteuer, das alle Elemente einer gelungenen Piratengeschichte enthält. Es gibt Meutereien, Stürme, düstere Prophezeiungen und blutige Machtspiele auf See und an Land.

Der Leser wird gefesselt vom Geist des Abenteuers, aber auch von der drückenden Düsternis, die sich durch die Geschichte zieht. Stevenson wäre stolz darauf, hat er doch selbst angegeben, dass seine Figuren von keinem Geringeren als dem Altmeister des Grauens, Edgar Allen Poe, inspiriert seien. Am Ende bleibt dem Leser die Gewissheit, an mehr als nur einer großen Geschichte beteiligt gewesen zu sein. Er wurde Zeuge der Geburt einer Legende.

Charaktere

Die Charaktere des Comics sind in sich absolut stimmig und passen hervorragend zu Stevensons ursprünglichen Charakterisierungen. Lauffray und Dorison gelingt es hervorragend, den Figuren Leben einzuhauchen und sie mit Seele zu füllen.

Die starke, aber vom Schicksal getriebene Lady Hastings macht sich als weibliche Hauptrolle der Erzählung ausgesprochen gut. Man weiß nie recht, ob man sie mögen, bewundern oder bemitleiden soll. Ihre moralischen Zwiespalte und ihr knallharter Wille zu überleben machen sie zu einer faszinierenden Frauengestalt, die sich nur schwer in das Rollenkorsett der damaligen Zeit einpassen lässt.

Auch Dr. Livsey wird in seiner zaudernden Art und mit seinem stets erhobenen moralischen Zeigefinger hervorragend charakterisiert. Der einstige Held der Hispaniola ist in die Jahre gekommen, und das Alter war nicht gerade gnädig mit dem guten Doktor. Der Mann, der immer an das Gute und Aufrechte im Menschen glaubt, tritt erneut eine Reise voller harter Lehren und bitterer Entscheidungen an. Und diese Reise wird ihren Tribut fordern.

Doch die zentrale Figur dieser Graphic Novel ist John Silver selbst. Der alte Schiffskoch sprüht geradezu vor düsterem, zwielichtigen Charme. Selbst ein Relikt vergangener Tage, träumt er noch immer den Traum der Freiheit und des Goldes, der jeden Piraten antreibt und einst Freistaaten wie Nassau oder Tortuga hervorbrachte. Doch wie bereits in der Originalerzählung ist Silver auch ein Mann mit Herz. Seine Schale mag rau wie das Meer sein, doch sein Herz ist an manchen Stellen weich wie der Sand der Karibik. Die Charakterisierung, die wir hier von Silver erhalten, ist in sich noch stimmiger als die berühmte Neuinterpretation in der sehr gelungenen Fernsehserie Black Sails. Das ist ein sehr hohes Qualitätsmerkmal.

Zeichenstil

Die Zeichnungen von Matthieu Lauffray bestechen durch ihre Eindringlichkeit und die Dynamik und Stärke des Tuschestriches. Die Emotionalität der Bilder, ihr Sinn für Bewegung, Gefühl und Komposition, machen sie so eindrucksvoll, dass sie den Betrachter nicht nur lange begleiten, sondern mit jedem Betrachten mitten hineinziehen in den Mahlstrom aus Wellen und Gischt, den die Piraten zu überwinden haben. Die Mimik der Charaktere ist so lebendig, dass man sie manchmal nahezu vor sich stehen sieht. Dem Leser wird es schwerfallen, dieses Werk wieder aus der Hand zu legen.

Erscheinungsbild

Der großformatige Hardcoverband ist qualitativ hochwertig und auf festem Papier gedruckt. Die 224 Seiten starke Geschichte wird durch eine Art Artbook ergänzt, die weitere wunderschöne Zeichnungen der Charaktere und Schauplätze sowie einige Konzeptzeichnungen enthält. Die Geschichte selbst ist sehr geschickt in kleinere Kapitel eingeteilt, sodass ein echtes Romangefühl aufkommt.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Carlsen Comics
  • Autor(en): Xavier Dorison, Mathieu Lauffray
  • Zeichner(in): Mathieu Lauffray
  • Erscheinungsjahr:2017
  • Sprache: Deutsch
  • Format: gebunden
  • Seitenanzahl: 272
  • Preis: 39,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Fazit

Long John Silver gehört zu den besten Comics, die ich im Jahr 2017 in Händen halten durfte. Der Leser begibt sich mit dem berüchtigten einbeinigen Schiffskoch der Hispaniola auf eine Fahrt, die er so bald nicht vergessen wird. Lady Hastings wird durch das Verschwinden ihres Mannes auf See von der Armut bedroht. Um nicht im Elend zu enden, macht sie sich zusammen mit Dr. Livsey, einem seltsamen Indio und Long John Silver auf, einen alten Maya-Schatz zu finden. Eine Reise voller Abenteuer beginnt.

Die Graphic Novel zeichnet sich nicht nur durch ihre berauschenden und gewaltigen Illustrationen aus. Hinzu kommt eine absolut stimmige Charakterisierung von Figuren, die der Leser vielleicht bereits aus Jugendtagen von der Schatzinsel kennt. Doch Vorsicht, denn diese Geschichte strotzt zwar vor Abenteuern, ist aber in sich sehr reif, erwachsen und düster. Dies ist kein Errol Flynn, sondern eher ein Black Sails, nur einen Hauch besser.

Die kleine Sammlung von Kunstwerken und Konzeptzeichnungen am Ende des sehr schönen Hardcovers runden ein Kleinod unter den Graphic Novels zusätzlich ab.

Artikelbild: Carlsen Comics
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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