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IT und OT sind zwei völlig getrennte Welten? Kaum möglich, denn etwas von uns spiegelt sich immer in unseren Rollen wider. Manchmal spiegelt die Rolle aber auch zurück und erzeugt so einen Unendlichkeitseffekt, das Mise-en-abyme, das uns Lehrreiches mit zurück in den Alltag gibt.

Was auf der Con passiert, bleibt auf der Con – oder? Genau dafür lieben wir dieses Hobby doch, man erlebt etwas völlig anderes für ein paar Tage und wenn man nach Hause kommt, schwelgt man vielleicht in Erinnerungen oder bastelt an der Ausrüstung weiter, aber im Grunde ist die Grenze zwischen dem, was im Spiel geschieht und dem, was wir in der Realität denken und erleben, eine wichtige Institution. Genauso jedoch, wie sich manche realweltlichen Dinge in die Spielwelt einschleichen, schleichen sich aber auch Dinge heraus.

Wir können nicht umhin, Erfahrungen nicht nur als Charakter zu machen, sondern auch als Spieler. Beide Welten, fiktiv und real, sind ineinander unendlich abgebildet, Spiegel im Spiegel.

Begriffsklärung:

Die Herleitung des Begriffs Mise-en-abyme, zu Deutsch: „ins Bodenlose/Unendliche werfen“, ist vielfältig. In der Heraldik bezeichnet er ein Verfahren, einen Teil eines Wappens in sich selbst noch einmal abzubilden, ähnlich des Effekts zweier gegenüberliegender Spiegel, die sich auf einer real nicht existierenden Linie hinter den Spiegeln unendlich fortsetzen.

Auch in Theaterstücken und Erzählungen wird der Begriff verwendet, dort allerdings als Verfahren, Begebenheiten der Erzählwelt innerhalb der Erzählung nochmals zu spiegeln, eventuell durch ein Theaterstück im Theaterstück, welches auf die Rahmenhandlung Bezug nimmt. Ein prominentes Beispiel ist das Musical Kiss Me Kate. Dort führt eine Musicaltruppe eine Version von Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung auf. Die Irrungen und Wirrungen des Shakespeare-Stücks spiegeln die Irrungen und Wirrungen im „realen“ Leben der Besetzung wider, die Grenze zwischen Zankereien im Shakespeare-Stück und im Musical sind fließend und oft ist nicht klar, welche der Rollen gerade aus den Darstellern spricht.

Mise-en-abyme müssen allerdings nicht unendlich gespiegelt sein, um als solche zu gelten. Auch Verhandlungen realweltlicher Konflikte und Referenzen innerhalb einer fiktiven Darstellung fallen unter diese Kategorie, so beispielsweise, wenn in der Inszenierung einer Oper aus dem 19. Jahrhundert Hakenkreuze und braune Uniformen auftauchen.

Gemein ist all diesen Varianten der Mis-en-abyme eine Verwischung klar etabliert geglaubter Grenzen zwischen Fiktionsebenen. Das, was als abgeschlossen und nicht rückwirkend auf das als Wirklichkeit Geltende wahrgenommen wird, hat eben doch einen reflektierenden Effekt auf diese Wirklichkeitsebene – und sei es nur, dass sich die Beteiligten dieses Effekts bewusst werden.

In diesem gegenseitigen Bezug der Ebenen untereinander liegt denn auch der Brückenschlag zu Mechanismen, die im LARP beobachtet werden können. Wer schon länger dabei ist, wird sicher das eine oder andere Mal den Satz gehört haben: „Erst im Spiel ist mir dann aufgefallen …“

Spiel ist Fiktion und soll im besten Fall wenig von der momentan realen Welt in sich tragen. Wir reisen in Vergangenheit, mögliche Zukunft oder in eine Fantasiewelt und erschaffen dort eigene Regeln, wie etwas funktionieren soll. Wir schlüpfen in Rollen, die unserer eigenen Lebenswelt meist fremd sind, ob als militärischer Anführer, Diener oder nichtmenschliches Charakterkonzept. Dennoch spiegeln wir Bedingungen aus unserer Welt wider, denn auch ein Multiversum würfelt nur mit einer bestimmten Anzahl an Variablen, wie ein Gefüge funktioniert.

Neue Blickwinkel dank Rollenspiel

Außerhalb der Freizeitsituation wird eine Art des Rollenspiels gerne als Ansatz für Beratungen zur Gruppendynamik am Arbeitsplatz genutzt. Im Grunde lautet das Motto: Versetze dich in die Situation des anderen, um zu ergründen, warum der- oder diejenige eine gewisse Handlung vollzieht und welche Entscheidungen daraus erfolgen. Sieh durch die Augen deines Chefs/deines Angestellten und bewerte dadurch die Situation neu. Sogar in der Scripted Reality des Fernsehens ist dieses Prinzip schon angekommen, in Gestalt der Serie Undercover Boss.

Natürlich sind der tatsächliche Aha-Effekt und Beteuerungen vor laufender Kamera, dass man ab jetzt viel mehr auf die Basis hören werde, mehr als zweifelhaft. Das prinzipielle Ergebnis jedoch bleibt: Wer seine Komfortzone verlässt und die Welt durch andere Augen sieht, bekommt ein ganzheitlicheres Bild von Situationen. Dadurch wird er vielleicht nicht zum Weltverbesserer, aber zu einem Menschen mit weiter gestellten Scheuklappen sicherlich.

Macht und Verantwortung

„Give me one moment in-time, when I’m more than I thought I could be. When all my dreams are a heartbeat away and the answers are all up to me.“ (Whitney Houston, Larperin der ersten Stunde)

Wer würde nicht gerne zumindest einmal für ein Wochenende sagen können, wo es langgeht? Einmal nicht der Befehlsempfänger sein, einmal große Politik machen dürfen, weil ‚die da oben‘ ja sowieso alles falsch machen? Wäre man selbst am Drücker, man würde natürlich wie ein echter Held zum Wohle der Situation entscheiden und das Beste für alle erkämpfen. Soweit, so überspitzt formuliert, die Theorie. Praktisch erleben durfte der eine oder andere diese Situation vielleicht schon einmal bei sogenannten Planspielen in der Schule. Man war für ein, zwei Tage EU-Parlament, NATO oder Bundestag und beschäftigte sich mit wichtigen Gesetzen und internationalen Konflikten. Aber irgendwie nahm man es doch nicht ernst, wie man da um einen großen Tisch herumsaß oder in Kleingremien diskutierte. Man war jung, hatte Spaß und baute im Zweifelsfall die Mauer wieder auf oder erklärte Irland und Schottland zum neuen gälischen Königreich unter dem König, der es als erster schaffte, ein ganzes Whiskyfass auszutrinken. Es war ja nur ein Spiel, und wer es schaffte, die Lehrer zwischen Lachanfall und Wutausbruch schwankend zu machen, der hatte gewonnen – oder?

Anders sieht es jedoch im LARP aus. Im Bestreben, dem meist kriegerischen Setting so viel Leben wie möglich einzuhauchen, bekommen Entscheidungen plötzlich eine ganz andere Tragweite. Gut spielende NSC und eine konsequente Orga schaffen es im Zweifelsfall auch, den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Es ist, im Hinterkopf immer klar, nur ein Spiel, aber ein Spiel mit konsequenten Regeln. Falsche Entscheidungen können durchaus schlimme Folgen nach sich ziehen. Endlos werden Beratungen geführt und alle Eventualitäten ausgewogen. Was man von außen und in der realen Welt sonst als mühseliges Hickhack empfindet, wird plötzlich zur Notwendigkeit: Alles drehen und wenden, irgendwie einen Weg finden, zwischen zwei Übeln zu wählen, damit man ‚dem Bösen‘ Herr wird. Oder, sind die anderen wirklich die Bösen? Hat man alle Fakten? Was passiert bei einer falschen Entscheidung?

Da mag man sich durchaus ein paarmal verstohlen über die Stirn wischen und insgeheim Abbitte leisten gegenüber den Entscheidungsträgern in der realen Welt, die man sonst allzu schnell als träge und feige bezeichnet. Wie viel Kraft es erfordert, eine Situation nicht einmal zu bessern, sondern auch nur in einer erträglichen Schwebe zu halten, erfährt man oft erst am eigenen Leib im Spiel, dann nämlich, wenn die Situation aus Mangel an Weitsicht eskaliert.

Nicht jeder ist für eine Führungsrolle geschaffen, im LARP wie im echten Leben – aber selbst die, die es sind, kommen mit der ihnen auferlegten Verantwortung regelmäßig an ihre Grenzen. Anders als in Filmen ist auf Cons nur eine grobe Richtlinie gescriptet, daher ist eine Con näher an der Realität und als solche häufig eine gute Lehrmeisterin für den Umgang mit Verantwortung.

Political Correctness, Standesdünkel und Co.

Wir haben es in den letzten Jahrzehnten weit gebracht, was die Gleichstellung und Gleichberechtigung der Geschlechter und sozialen Status angeht, und auch wenn noch manches im Argen liegen mag, so macht doch erst ein bewusster Rückschritt deutlich, wie viel sich verändert hat.

Aufgeklärtes Denken kann, wie es unlängst im Artikel Au Revoir Aufklärung angesprochen wurde, so weit führen, dass unbewusst Spielkonzepte modifiziert werden, heutige Standards in Political Correctness an Spielsituationen angelegt werden und dergleichen mehr. Hierbei handelt es sich um ein Extrembeispiel der Grenzenverwischung zwischen Fiktion und Realität, die Spiegelung wird überhaupt nicht mehr als eine solche wahrgenommen.

Daher geht mancher Spieler bewusst auf Konfrontationskurs mit diesen Standards, um einem Überhang an Vorsicht entgegenzuwirken – quasi der Versuch eines gerade nicht aufkommenden Mise-en-abyme Effekts, was jedoch zu einem noch stärkeren Lerneffekt führen kann.

Nehmen wir an, eine Gruppe von Spielern reizt, einfach weil sie Lust auf Konfliktspiel hat, eine Situation aus: Ein Charakter hat in den Augen der anderen ein Verbrechen begangen, und es wird von vornherein mit zweierlei Maß gemessen, weil der Leidtragende hochgestellt ist, der Verursacher ein Diener oder gerade einmal ein freier Bürger. Niemand schreitet ein, niemand spricht auch nur ein Wort dagegen. Anfangs bleibt man still, weil man die Immersion und die Spielszene an sich nicht zerstören will, auch wenn im Kopf sämtliche neuzeitliche Alarmglocken angehen und man innerlich denkt: „Das ist so falsch, so kann man sich doch nicht verhalten!“ Je weiter die Szene fortschreitet, desto leichter scheint es jedoch zu fallen, im Spiel zu bleiben und dem Verursacher keine Chance zu lassen, sich zu rechtfertigen, weil er ist, was er ist: ein Niemand von Geburt an im Vergleich zu demjenigen, dem er geschadet hat. Den endgültigen Schuldspruch begründet der Adlige gegenüber seinen Freunden und Gleichgesinnten schließlich mit den Worten: „Man darf dem Pöbel nichts durchgehen lassen, sonst denken sie sich sonstwas aus. Am Ende sind sie gar der Überzeugung, man dürfe sich seinen Herrscher frei wählen.“

Au revoir: Aufklärung – Diskrepanzen moderner Moral im LARP
Ein IT pflichtschuldiges, OT leicht amüsiertes Lachen antwortet ihm auf diesen vermeintlichen Scherz, aber manchem Beteiligten mag ein kurzer Schauer über den Rücken rieseln: Diese Bemerkung, halb IT, halb OT, legt durch die Spiegelung der heutigen realen Welt den Finger genau auf die Wunde. Das, was uns heute so selbstverständlich scheint, dass wir uns schon wieder darüber aufregen, ist eine bedeutende Errungenschaft. Wir dürfen wählen, wer unsere Gesetze verabschiedet, ein unabhängiges Gericht klopft der Exekutive auf die Finger, wenn sie sich nicht verfassungskonform verhält. In der Verfassung selbst ist die Gleichheit vor dem Gesetz fest verankert. Das mag mal mehr und mal weniger funktionieren, dennoch sind wir weit gekommen, Gott sei Dank.

Ähnlich lehrreich kann es für das ‚Opfer‘ einer Situation sein, am eigenen Leib zu erfahren, wie schnell ein besonderes Merkmal einen zum Außenseiter macht. Spieler einer Fremdrasse, also Elfen, Zwerge, Orks oder anderer Fabelwesen, können ein Lied von gespielter Intoleranz singen und finden es oft sogar reizvoll, im Konfliktspiel angegangen zu werden. Vorurteile sind einfache Spielansätze, weil sie nicht viel Wissen über das Gegenüber brauchen, um einen Grund zum Anspielen zu finden. Es reicht oftmals schon, wenn sich ein Spitzohr in die Nähe eines Sigmaritenlagers verirrt, oder sich verfeindete Fremdrassen begegnen, um eine solche Situation hervorzurufen. Selbst wenn dabei die IT/OT-Schranke vollkommen unangetastet bleibt und die Kontrahenten außerhalb des Spiels vielleicht sogar beste Freunde sind, bleibt der Schlagabtausch länger im Gedächtnis, beeinflusst eventuell in Zukunft sogar das eigene Handeln. Dadurch, dass die Spielsituation eine fiktive Wirklichkeit vorgaukelt, sind Emotionen viel stärker beteiligt und der Lerneffekt größer, als es bei einem bloßen Planspiel oder einer kurzen Simulation der Fall sein könnte.

Fremdrassen: Die Welt mit anderen Augen

Die ultimative Alterität, das Andere im LARP erweist sich am stärksten in den Rollen, denen nicht nur eine andere Profession und Lebenswelt zugrunde liegt, sondern eine Fremdrasse. Ob Drow, Ork, Faun, Echse, Elf, Zwerg im Fantasy- oder Android, Klingone etc. im Sci-Fi-Setting, sie alle haben einen anderen Blick auf das, was ‚die Menschen‘ so tun. Den einen sind sie zu verweichlicht und nett, den anderen zu unüberlegt, kindisch, oder grausam.

Auch wenn unser OT-Kern menschlich bleibt und wir nicht vollständig aus unserer Haut können, versuchen wir den nichtmenschlichen Blick auf die Welt in uns zu schärfen, um die Fremdrasse gut spielen zu können und nicht als Mensch mit angeklebten Ohren oder komischen Gesichtsmasken zu gelten. Und so wägen wir ab in unseren Handlungen, hinterfragen IT Dinge, die wir OT völlig fraglos hinnehmen – und fragen uns vielleicht irgendwann auch OT: Ist meine Sicht der Dinge maßgeblich? Ist sie meiner Kultur geschuldet, meinen Erfahrungen mit dem Leben? Würde ich anders denken und handeln, wenn ich anders sozialisiert wäre? Bin ich wirklich so weltoffen, wie ich mich fühle, oder doch sehr eingefahren in meiner Sicht der Dinge? Fremdrassenspiel mag uns nicht zu besseren Menschen machen, das möchte ich gar nicht behaupten, aber einen stärkeren Außenblickwinkel auf das, was uns als Menschen ausmacht, wird man selten finden, als wenn man sich auf die Suche nach menschlicher Denkweise macht, um sie gerade nicht darzustellen.

Fazit: Spielen, lernen, spielend lernen

Larper unterscheiden sich von Firmenangestellten im Gruppencoaching dadurch, dass ihr Rollenspiel nicht von einem primären Lernzweck geleitet ist. Wir spielen nicht, um daraus etwas für unseren Alltag mitzunehmen, um uns einmal in den anderen hineinzuversetzen. Dass dies dennoch geschieht, lässt sich nicht vermeiden – und muss sich ja auch nicht vermeiden lassen.

Positive Effekte von LARP werden schon seit längerem auch didaktisch genutzt. So gibt es Lern-LARPs für Kinder und Jugendliche, auf denen in spielerischem Rahmen Schulwissen eingebunden oder Sozialkompetenz gefördert wird. Was früher einfach Motto-Freizeiten waren, hat das Prädikat LARP für sich entdeckt. Wer sich an dieser Stelle gerne über solche Lern-LARP-Konzepte informieren möchte, kann zum Beispiel bei Ellodan Creative Works oder Waldritter e.V. vorbeischauen.

Wer weiterhin einfach nur gerne in Rollen schlüpft, ohne dabei seinen Horizont gezielt erweitern zu wollen, soll und darf das natürlich – aber vielleicht horcht der ein oder andere nach der nächsten Con ein wenig in sich hinein, welche Spuren das IT Erlebte in ihm längerfristig hinterlassen hat.

Artikelbild: depositphotos | © graphicphoto 

 

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