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Vampire sind unsterbliche Wesen, die ihre Pläne kalt berechnend über Jahrhunderte hinweg vorantreiben. Und zugleich sind sie wilde Monster, denen ihre menschliche Maske immer wieder entgleitet. Beide Aspekte sind wichtig – aber ist es im Vampire Live überhaupt möglich, gleichzeitig sowohl kalt berechnend als auch impulsiv emotional zu spielen?

Vampire sind eine sehr facettenreiche Rasse im LARP. Die World of Darkness hat mit den verschiedenen Clans das Bild der meisten Rollenspieler geprägt, wenn es um die nächtlichen Blutsauger geht. Jede Blutlinie weist eigene Charakteristiken und Schwerpunkte auf, und auch, wenn die einzelnen Vampire eines Clans individuell sind, sind sie vom Erbe ihres Clans geprägt.

Ob ein Charakter eher zu emotionalen Ausbrüchen oder mehr zum kalt berechnenden Kalkül neigt, wird durch seinen Clan beeinflusst, ist aber in jedem Fall sehr individuell. Es gibt keinen Clan, der ausschließlich aus berechnenden Politikern besteht, die sich stets kontrollieren können, und ebenso keine Blutlinie, die nur emotionale Ausbrüche kennt.

Damit betreffen diese zwei Aspekte des Vampirseins jeden Charakter: Auf der einen Seite die Unsterblichkeit und die vorhandene Notwendigkeit, sich so weit zu kontrollieren, dass man eigene Pläne machen und sie verfolgen kann, gerade wenn diese sich über Jahre oder Jahrzehnte hinwegziehen. Und auf der anderen Seite die immer hungrige Bestie im Inneren, die nach Blut und Unterwerfung aller anderen schreit und jede Unachtsamkeit nutzt, um auszubrechen.

Im Vampire Live steht man vor der Herausforderung, beide Aspekte ins Spiel zu integrieren. Denn ein reines Spiel um Intrigen würde schnell zu „Anwälte im Dunkeln“ werden und ziemlich langweilen, während permanente emotionale Ausbrüche auf Dauer auslaugen und die Frage aufwerfen, wie ein solcher Charakter länger als ein paar Jahre als Vampir überleben konnte.

Weshalb langfristige Pläne fast immer öde sind

Seien wir ehrlich: Jahrhundertelange Intrigen sind stinklangweilig.

So sexy das Bild von uralten, mächtigen und unglaublich intelligenten Vampiren, die im Hintergrund ihre Fäden spinnen und andere manipulieren, in der Vorstellung auch sein mag, entpuppt es sich im Spiel als ziemlich eintönig. Interessierte Beobachter, die Einblicke hinter die Kulissen haben, können durchaus ihre Freude daran haben, die Entwicklung einer langfristigen Intrige zu verfolgen. Aber es ist wie eine Schachweltmeisterschaft: Für das interessierte Publikum ist das geistige Duell beider Spieler hochspannend und nervenaufreibend. Für den Großteil der Bevölkerung ist es eher öde.

Davon abgesehen beruhen diese langfristigen Pläne auf Kontrolle und Beherrschung. Das wirkt großartig in einem Film, wo der Bösewicht ohne eine Miene zu verziehen dramatisch ausgeleuchtet auf seinem Thron sitzt. Im entscheidenden Moment legt er kalt lachend einen Hebel um. Das hat Stil. Vier oder fünf Stunden regungslos auf einer Vampire-Live-Session zu sitzen und auf den großen Moment zu warten, in dem man der fiese Bösewicht sein darf, ist deutlich weniger dramatisch und nicht sehr spielförderlich. Eine Intrige kann noch so persönlich motiviert sein; sie nur kontrolliert voranzutreiben, bringt oft wenig emotionales Spiel.

Langfristige Pläne brauchen Zeit

Viel Zeit. Zumindest, wenn man einen Vampirstandard anlegt. Man stürzt nicht mal eben den Fürsten einer anderen Stadt oder löscht einen Ahnen aus. Zumindest, wenn man dies überleben will, sollte man ein gewisses Maß an Zeit in die Vorbereitung investieren. Du ahnst es: Das ist eine lange Zeit voller Selbstkontrolle.

Man stürzt nicht mal eben den Fürsten einer anderen Stadt.

Und wenn das Setting nicht klar vorgibt, dass einzelne Szenen aus der gesamten Existenz der Charaktere gespielt werden und damit ein sehr langer Zeitraum erlebt wird, ist es beinahe unmöglich, Intrigen ins Spiel zu integrieren, die über Jahrzehnte oder Jahrhunderte verlaufen. Dies ist am ehesten noch möglich, wenn das Finale eines langfristig angelegten Plans bespielt wird.

Langfristige Pläne machen Arbeit

Oder hast du gedacht, die Macht fällt einem in den Schoß? Keine Intrige funktioniert, weil man einmal ein bedeutendes Gespräch führt, dann 200 Jahre wartet und – schwupps – am Ziel angekommen ist. Der Gedanke, in der frühen Vergangenheit einen kleinen Stein ins Rollen zu bringen und dadurch eine riesige Lawine zu verursachen, ist nett, aber furchtbar unrealistisch. Wer mit dieser Erwartungshaltung an eine Intrige herangeht, wird ziemlich auf die Nase fallen.

Tatsächlich machen langfristige Pläne sehr viel Arbeit: Du musst Verbündete finden, sie dir gewogen machen, sie für bestimmte Zwecke instrumentalisieren, auf dem Laufenden bleiben, was die Konkurrenz treibt, Fehler deiner Verbündeten ausgleichen … Je ehrgeiziger dein Ziel ist, desto mehr Laufarbeit kommt auf dich zu. Dies wiederum hat den Vorteil, dass du immer etwas zu tun hast und gleichzeitig viele andere Charaktere einbindest, wodurch du eine Menge Spiel generieren kannst.

Weshalb emotionale Ausbrüche auf Dauer auslaugen

Intensive emotionale Ausbrüche kosten Kraft. Damit sind keine Ausbrüche gemeint, bei denen sich die Kontrahenten einmal anschreien und dann ihrer Wege ziehen. Es geht um die wirklich intensiven Momente, in denen für den Charakter alles auf dem Spiel steht. Egal, wie viel Spaß sie machen und wie krass die Erfahrung ist, nach dem Spiel bist du erschöpft. Wenn du regelmäßig spielst, wirst du eher früher als später ausgelaugt sein, wenn sich dies häufig wiederholt.

Es geht um Momente, in denen viel auf dem Spiel steht.

Und auch vor Langeweile bist du nicht gefeit: Wenn auf jedem Spiel höchstes Drama stattfindet, kann dies ebenso eintönig werden wie ein reines Politikspiel mit Intrigen. Anstelle der 17:00-Uhr-Orks gibt es den 2:30-Uhr-Ausraster: Beides ist vorhersehbar und dadurch irgendwann nicht mehr wirklich packend. Ein Konflikt beinhaltet auch immer das Bedürfnis nach einer Fortentwicklung und einer Auflösung. Dauerhaft auf der Stelle zu treten kann frustrieren und nimmt ebenfalls die Freude aus dem Spiel mit emotionalen Ausbrüchen.

Und nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob ein Vampir, der sich kaum kontrolliert und häufig extreme emotionale Ausbrüche hat, große Chancen hat, alt zu werden. Sicherlich ist ein Wutausbruch an der falschen Stelle kein Todesurteil. Aber kann eine Rasse von Bestien gut über die Jahrhunderte bestehen bleiben, wenn diese sich nicht auch zurückhalten können?

Abwechslung oder Dosis erhöhen?

Um zu verhindern, dass durch wiederholte Ausbrüche Langeweile aufkommt, gibt es verschiedene Wege. Einer ist, die Intensität der Ausbrüche zu erhöhen. Dadurch bleibt die Spannung erhalten, allerdings steigt die Gefahr der Erschöpfung. Auch werden irgendwann persönliche Grenzen der Spieler erreicht, die diese nicht überschreiten wollen, wodurch eine weitere Steigerung verhindert wird.

Ein anderer Weg ist, für Abwechslung zu sorgen: Auf Phasen hoher emotionaler Intensität folgen ruhigere Phasen. Die Charaktere können das Erlebte verarbeiten und die Spieler Kraft für kommende Ausbrüche sammeln. Aber oft empfinden Spieler, die intensive Ausbrüche erleben wollen, solche Plateaus schnell als langweilig.

Wie kann man beides im Spiel haben?

Die ganz kurze Antwort auf diese Frage lautet: Muss man gar nicht.

Es ist durchaus möglich, sehr schönes und intensives Vampire Live zu spielen, das sich auf einen der beiden Aspekte fokussiert. Ebenso ist es aber auch möglich, beides in ein Spiel zu integrieren. Da es nicht das eine wahre Vampire Live gibt, sondern zahlreiche verschiedene Gruppen und Chroniken, lassen sich ganz unterschiedliche Schwerpunkte finden. Es kommt also ganz darauf an, wie das jeweilige Spiel ausgerichtet ist und was die Spieler suchen und erwarten.

Vampire Live auf Cons

Vampire Live muss kein fortlaufendes Spiel sein. Je nach Setting bietet sich das Genre für sehr schöne Cons an, die sich meist über zwei Nächte ziehen. Hier liegt der Fokus klar darauf, dass im Spiel nichts aufgeschoben wird. Intrigen finden statt, sind aber so angelegt, dass auf diesem Event und nicht in ferner Zukunft etwas erreicht wird. Langfristig angelegte Pläne werden auf diesen Veranstaltungen aufgelöst und zu ihrem Finale geführt, wodurch sehr oft intensive Ausbrüche angestoßen werden.

Cons, die nicht Teil einer Reihe sind, geben vielen der Teilnehmer die Freiheit, ganz aus sich herauszugehen. Da sie ihre Figuren nur auf diesem Event spielen, können sie die Sorge ablegen, ihren Charakter durch emotionale Ausbrüche in eine Ecke zu spielen, die ein weiteres Spiel schwer oder unmöglich macht.

Es wird die ganze Existenz gespielt

Ebenfalls möglich ist es, im Laufe mehrerer Spiele die ganze Existenz eines Charakters zu durchleben. Vom Augenblick der Erschaffung an bis hin zu seiner Vernichtung kann so seine ganze Entwicklung erlebt werden.

Dies ist möglich, da ein Großteil seiner Nächte ausgelassen wird. Der Fokus liegt stattdessen auf den Momenten, die ausschlaggebend für seine Entwicklung sind. Auf diese Weise können langfristige Pläne ebenso erfahren werden wie das Entstehen und Vergehen von engen Beziehungen zu anderen Vampiren. Diese Art des Spiels vereint in sich sowohl das Erleben der emotional aufwühlendsten Momente als auch die mehr oder weniger vorhandene Kontrolle des Charakters, seine Pläne über lange Zeiträume hinweg voranzutreiben

Beide Aspekte werden integriert

Ja, auch das ist möglich. Wenn sowohl die Kontrolle und Beherrschtheit als auch die Unkontrollierbarkeit eines Vampirs gleichwertig behandelt werden, kann ein sehr spannender Konflikt entstehen, in dem sich jeder Charakter wiederfindet.

Man muss nicht in einem der beiden Extreme leben.

Ein Schlüssel, beides zu verbinden, ist der Bereich zwischen beiden Extremen: Ein Vampir muss nicht nur in einem der beiden Extreme leben. Zwischen Desinteresse und Selbstkontrolle auf der einen und wilder Raserei auf der anderen Seite gibt es eine große Palette an Möglichkeiten. Das sichtbare Ringen um Kontrolle, ein wütendes Rededuell oder der Leichtsinn, einem anderen Vampir zu glauben, dass er tatsächlich gutherzig ist und ihm alle eigenen Pläne zu erzählen, bieten Möglichkeiten, die Kontrolle fahren zu lassen und sich der Emotionalität des eigenen Charakters zu nähern.

Ebenso ist es möglich, bewusst Dinge zu tun, die nicht perfekt durchdacht sind. Binde mehr Charaktere in eine Intrige ein als nötig, auch wenn dies das Risiko erhöht, zu scheitern. Bringe die Schwachpunkte anderer Charaktere in Erfahrung und nutze sie gnadenlos aus. Warte nicht auf den perfekten Moment für einen Stich (der wird ohnehin nie kommen), sondern spiele deine Karten JETZT aus. Finde Charaktere, die dich auf emotionaler Ebene ansprechen und spiele mehr mit ihnen. Und das Wichtigste: Schalte hin und wieder den Kopf aus und reagiere auf etwas, bevor du dir überlegst, ob dies die klügste Reaktion ist. Auch einem uralten und stets kontrollierten Vampir kann schließlich mal die Hutschnur platzen.

Die Herausforderung dabei, beide Extreme in ein fortlaufendes Spiel zu integrieren, ist zu verhindern, dass Spieler frustriert werden. Wer das kalt berechnende Planen bevorzugt, wird sich schnell von vielen emotionalen Ausbrüchen gestört fühlen, während die Spieler, welche die emotionalen Ausraster suchen, nichts mit den kontrollierten Intriganten anfangen können. Das beste Mittel, um diesen Konflikt zu lösen, ist, dies als Ärgernis des eigenen Charakters zu sehen und als Spielimpuls zu nutzen, statt sich offplay die Laune verderben zu lassen.

Fazit

Vampire können beides sein: Sowohl längerfristig planende und beherrschte Intriganten als auch unkontrollierte Bestien. Der Schwerpunkt ist dabei sehr individuell, aber Ansätze für beides sind in jedem Vampir vorhanden.

Schwierig wird es, wenn beide Aspekte ins Spiel integriert werden sollen, denn sie sind zwei Pole, die sich gegenüberstehen: Sowohl das kalt Berechnende und Beherrschte als auch das unkontrollierte Wilde hat seine Berechtigung im Vampire Live. Beide Aspekte haben Vor- und Nachteile, und wie so oft kann ein Extrem alleine auf Dauer nicht glücklich machen.

Beide Aspekte in einem Spiel zu vereinen ist möglich, aber nicht immer einfach. Es setzt bei allen Beteiligten die Bereitschaft voraus, für beide Extreme offen zu sein. Wenn dieser Schritt gelingt, entsteht dafür ein sehr tiefes Vampire Live, in dem viele Spieler finden, was sie suchen.

Artikelbild:  Depositphotos | © tommasolizzul

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