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Dystopische Welten sind gefragt wie nie. Dass diese auch mal aus deutscher Feder stammen können, zeigt Nora Beyer in ihrem Romandebut. Dieses lockt mit gleich zwei Heldinnen und vor allem einer Menge Fantasie – denn diese ist die mächtigste Waffe gegen das Regime der Gleichheit, das es zu bekämpfen gilt.

Was wäre, wenn wir alle gleich sein müssten? Dies ist die Kernfrage, die die von Nora Beyer erschaffene Dystopie Die Gleichheit der Blinden zu beantworten sucht. Wie durchdacht das System dahinter ist und wieso sich eine Lektüre ganz unabhängig davon lohnen könnte, lest ihr hier.

Story

Zwei Mädchen, zwei Welten, eine schicksalhafte Verbindung – mit Anna und Elsa gibt uns Nora Beyer gleich zwei Protagonistinnen an die Hand, deren Leben jedoch vollkommen getrennt verlaufen. Oder? Anna lebt in der Republik Alleland, in der seit vielen Jahren „die Gleichheit“ herrscht. Die diktatorische Regierung entzieht den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur Elektrizität und Nahrung, sondern auch Freiheit und Gerechtigkeit. Wer sich dem Regime entgegenstellt wird der „Fantasterei“ bezichtigt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

In genau dieser drastischen Situation begegnen wir Anna. Als sie sich in letzter Sekunde aus dem Feuer retten kann, wird sie zur Legende – und zur Galionsfigur einer Rebellion. In einer ganz anderen Welt versucht sich die Waise Elsa in ihr neues Zuhause einzufinden. Doch die junge Frau hat einen Sinn für das Phantastische und sieht allzu oft Dinge, die es eigentlich nicht geben sollte. Als ihre Visionen eskalieren, entfremdet sie sich mehr und mehr von ihrer Umwelt – aber was ist Wahn und was ist Wirklichkeit?

Dystopische Vision mit literarischen Vorbildern

Ein mit Feuer verbundenes Mädchen wird zum unfreiwilligen Symbol eines politischen Widerstandes – wer hier nicht an Katniss Everdeen denken muss, hat wohl das letzte Jahrzehnt verschlafen. Bis hin zu einer bestimmten Handbewegung, die zur kennzeichnenden Geste der Rebellion wird, ist der Einfluss der Tribute von Panem stark spürbar. Hingegen erinnert der Fokus auf die Kraft der Fantasie, die einen aus der eigenen Welt herauszureißen scheint, eher an Michael Endes Die unendliche Geschichte.

Diverse Anleihen werden neu interpretiert – aber leider nicht zu Ende gedacht.

Auch dort werden das Schicksal eines jungen Träumers und das eines Helden aus einer Fantasiewelt immer weiter zueinander geführt.

Doch Beyer verpasst ihrer Dystopie einen eigenen Anstrich, indem sie die Motivation ihres Regimes völlig anders denkt. In Panem sind es Kapitalismus und Dekadenz, die die düstere Zukunftsvision bestimmen. In Alleland hingegen ist es die flächendeckende Einführung gesellschaftlicher Gleichstellung. Wer von einer Dystopie eine klare Analogie zu einem politischen System oder etwa eine besonders realistische Ursprungsgeschichte erwartet, wird hier wohl nicht fündig werden. Von Gleichheit ist viel die Rede und davon, dass es schlecht ist, sie zu erzwingen. Doch so richtig durchdacht und schlüssig wirkt das Ganze dann doch nicht. Die Gesamtheit des Regimes, das Beyer beschreibt, bleibt auch im Laufe des Romans vage und diffus, als habe sich die Autorin nicht so ganz festlegen wollen. So gibt es leider auch wenig darüber zu lernen, was eine Gesellschaft tun müsste, um dieses Schicksal abzuwenden – der mögliche Lerneffekt bleibt aus und die Dystopie wirkt wirklichkeitsfern.

Inflationär verwendete Cliffhanger

Auch der Aufbau des Romans lässt ein wenig zu wünschen übrig. Die Wechsel zwischen Annas und Elsas Handlungssträngen und die Verbundenheit der beiden Figuren sind durchaus spannend, geraten aber immer wieder in den Hintergrund. Stattdessen wiederholen sich gerade auf Annas Seite Begegnungen mit Randfiguren, die in ihrer Struktur so ähnlich verlaufen, dass sie irgendwann an Wirkung verlieren. Ebenso häufen sich Cliffhanger, in denen es so aussieht, als sei für Anna alles verloren, und nehmen sich schlussendlich selbst den Effekt. Man bekommt den Eindruck, das Buch – und seine Heldinnen – müssten die Chance bekommen, einmal in Ruhe durchzuatmen. Ein paar Stationen weniger und dafür eine ruhigere Ausarbeitung der Verbindung der jungen Frauen hätten dem Roman vielleicht gut getan.

Schreibstil

Was jedoch über die eher verschwommene Dystopie und den teils suboptimalen Aufbau der Handlung hinwegtröstet, ist Beyers feinsinniger Schreibstil. Dieser wirkt zunächst einmal einfach angenehm und gut lesbar, meist ohne unnötige Schnörkel. Doch hier und da streut die Autorin charmant gestalterische Formulierungen ein, die eine große Freude an kreativer Sprache offenbaren.

Sprachliche Finesse verleiht dem Buch über andere Mängel hinweg einen ganz eigenen Charme.

Wenn Mondstrahlen Buchstaben zum Leben erwecken und diese wie ein kleiner Hase hervorspringen, mit dem Näschen wackeln und sich dann auf der Seite niederlassen, leuchtet einem plötzlich ein, dass für Beyer ausgerechnet die Fantasie das Instrument ist, das alle Grenzen überwinden kann. In so manchen poetischen Ausdrücken schwingt ein ausgeprägter Sinn für das Schöne mit – kein Wunder, veröffentlicht die Autorin auf ihrer Website doch auch immer wieder Lyrik.

Auch die Art, wie die beiden Hauptfiguren geschrieben sind, ist erfrischend. Trotz der Panem-Parallelen verliert sich Beyer nie in selbstgefälligen Heldinnen-Stilisierungen. Als Resultat bleiben wir recht nah bei den Figuren, ihrer Furcht und Verzweiflung, statt viel von bewundernden Außenperspektiven mitzukriegen.

Die Autorin

Nora Beyer lebt in Nürnberg, wo sie derzeit ihre Doktorarbeit über „Morality and Ethics in Computer Games“ schreibt. Ihr Interesse an digitalen Spielen macht sie jedoch nicht nur als Doktorandin, sondern auch als Journalistin produktiv – Game Star und Game Pro sind nur einige der namhaften Magazine, für die sie schon geschrieben hat. Die Gleichheit der Blinden ist ihr erster Roman.

Mehr Informationen über die Autorin und Die Gleichheit der Blinden erhaltet ihr auf ihrer Website.

Erscheinungsbild

Auf dem weißen Cover sind zwei dramatisch bewimperte Augen zu sehen. Die Iris des rechten Auges ist von einem Symbol erfüllt, welches wir im Laufe des Buches als das Symbol des Regimes der Gleichheit kennenlernen. Zwei mit einem roten Punkt versehene Ameisen scheinen über die sichtbare Gesichtspartie zu krabbeln. Am oberen Rand sind schwarze Rosen abgebildet. Das Cover ist stimmig in schwarz-weiß-rot gehalten, was durch die starken Kontraste ebenso dekorativ wie dramatisch wirkt. Sowohl die Rosen als auch die Ameisen sind nicht nur zufällig gewählte Dekoration, sondern haben im Roman konkrete Bedeutungen, die sich Lesende im Laufe der Lektüre erschließen können. So gewinnt das Cover an Ausdruckskraft, je weiter man liest.

Innerhalb des Romans gibt es ähnlich wie auf dem Cover vereinzelte kleine Illustrationen von Symbolen. Auch die Schriftart wird etwa bei der Darstellung von Briefen und Notizen variiert – charmante Details, die die Inhalte etwas plastischer machen. Leider finden sich im Buch auffällig viele Rechtschreibfehler, die den Lesefluss immer wieder unterbrechen und gerade in ihrer Quantität stören.

 Die harten Fakten:

  • Verlag: Periplaneta
  • Autorin: Nora Beyer
  • Erscheinungsdatum: März 2018
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 233
  • ISBN: 978-3-9599-6081-6
  • Preis: 14,00 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Auf Amazon gibt es einen Blick ins Buch.

Fazit

Die Gleichheit der Blinden ist bei Weitem nicht makellos. Die dystopische Welt ist unterdefiniert und bietet wenig Anknüpfungspunkte an die Bedrohungen unserer unmittelbaren Gegenwart. Auch der Aufbau der Handlung könnte optimaler sein – Begegnungen, Reaktionen und Bedrohungen der Hauptfigur wiederholen sich etwas zu oft und verlieren so an Gewicht. Trotzdem setzt Beyer interessante Akzente in ihrer Welt und weiß vor allem auch sprachlich zu gefallen.

Das Konzept der Fantasie als Waffe gegen weltenschluckende Konformität ist spätestens seit der Unendlichen Geschichte ein literarischer Dauerbrenner und wird auch hier spannend umgesetzt. Auch dass wir es mit zwei mysteriös verbundenen Protagonistinnen aus zwei völlig verschiedenen Welten zu tun haben, erinnert auf angenehme Weise an Michael Endes Werk. Viele der Mängel des Buches wirken eher wie die anfänglichen Holprigkeiten eines Erstromans als wie tiefschürfende Unzulänglichkeiten. Potenzial hat Nora Beyer allemal und gerade ihr Schreibstil macht neugierig darauf, was man in Zukunft noch von der Nürnberger Autorin hören – und lesen – wird. Bis dahin hat man mit Die Gleichheit der Blinden eine packend geschriebene Dystopie – die vielleicht etwas weniger zu sagen hat, als der Roman zunächst vermuten lässt.

 

Artikelbild: © Periplaneta, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

Über die Autorin

Merle Behnke ist irgendwo zwischen Hogwarts und Zamonien aufgewachsen und verweigert es bis heute erfolgreich, diese Welten vollständig zu verlassen. Neben ihrem Germanistikstudium grübelt sie mit großer Freude über Geschichten jeglicher Art nach, wobei ihr besonderes Interesse den Schnittpunkten zwischen Büchern, Filmen und Spielen gilt.

 

 

 

 

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