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Man bekommt große Augen bei manchen Büchern, kauft sie voller Vorfreude – und legt sie auf den Stapel, den wir alle kennen. „Ich lese das später.“ Meistens passiert das nicht und „später“ wird zu „nie“. Aber ist das etwas Schlimmes? Oder gibt es keinen „Pile of Shame“?

Hallo, mein Name ist Vanessa und ich kaufe gerne Bücher. Ich lese sie auch. Irgendwann. Die Tage, an denen ich ein Buch innerhalb weniger Tage geradezu verschlungen habe, sind lange vorbei. Ich muss mich mehr konzentrieren als früher, um der Geschichte zu folgen. Meine Feierabende sind mit anderen Hobbys gefüllt und manchmal ist es einfacher, nach einem langen Tag den PC oder den Fernseher anzuschalten, anstatt sich auf eine Geschichte einzulassen.

Trotzdem kaufe ich weiterhin Bücher, gedruckt und digital, und mein Stapel ungelesener Bücher wächst.

Pile of Shame?

Aktuell befinden sich über zehn Bücher auf diesem Stapel ungelesener Bücher, der von manchen als „Pile of Shame“ bezeichnet wird. Manche dieser Bücher liegen schon sehr lange auf dem Stapel. Bücher, deren Klappentext mich interessierte. Bücher, die mir empfohlen wurde. Bücher, die Reihen fortsetzen, die ich gerne gelesen habe und bei denen ich mich fragte, wie sie weitergehen.

Mein Problem liegt vor allem darin, dass ständig neue Bücher herauskommen, die mich interessieren. Über Twitter zum Beispiel erfahre ich von Autor*innen, über die ich sonst nicht gestolpert wäre. Oder Freund*innen empfehlen mir Bücher, die sie gerade oder vor längerem gelesen haben und die sie mir ans Herz legen. Weil sie ihnen gefallen haben. Weil sie denken, dass sie mir gefallen könnten. Ich bin dankbar für solche Empfehlungen. Ich möchte neue Welten erkunden und neue Charaktere kennen lernen. Und so lege ich Buch um Buch auf den Stapel ungelesener Bücher, der immer weiterwächst und irgendwann droht, über mir einzustürzen; metaphorisch gesprochen.

Exkurs: „Das musst du gelesen haben!“

Ich bin sicher, ich bin nicht die Einzige, der mit dieser Aussage Bücher empfohlen wurden. Insbesondere Lehrkräfte rechtfertigen damit das Lesen der Klassiker, was auch immer diese sein sollen. Ich habe einige Zeit lang gedacht, ich wäre erst eine „richtige“ Leserin, wenn ich Goethe gelesen habe, Schiller und Shakespeare, Brontë und Austen. Ich habe auch gedacht, dass ich mich erst dann Phantastikleserin nennen kann, wenn ich Herr der Ringe und Narnia gelesen habe – beides ist bislang nicht geschehen. Der Stapel ungelesener Bücher bekommt damit einen weniger greifbaren Nachbarstapel, der oft mit Büchern ergänzt wird, die man gerne lesen möchte, aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht direkt kauft. Dieser Stapel existiert in Form einer Liste, die sich, zumindest bei mir, noch schneller füllt als der bereits existente Stapel.

Das mußt Du gelesen haben? Gibt es nicht mehr bei mir! Foto © Dirima | depositphotos.com

Titel, die mir mit „Du musst aber!“ empfohlen werden, ignoriere ich inzwischen. Erstens muss ich gar nichts. Zweitens: Warum sollte ich ein Buch lesen, das außer dem Label „Klassiker“ keinen Mehrwert für mich hat? Warum Bücher lesen, die mich nicht interessieren? Druck (ob von mir selbst ausgehend oder von anderen) verursacht durch willkürliche Listen, während ich ohnehin weniger lese als gewohnt? Nein, danke. Auf die Liste von Büchern, die darauf warten, auf dem Stapel ungelesener Bücher zu landen, schreibe ich nur noch Titel, auf die ich wirklich Lust, aber für die ich gerade keine Zeit habe. Außerdem hat man so immer etwas zur Hand, wenn Verwandte oder Freund*innen nicht wissen, was sie schenken können.

Es wäre gelogen, würde ich sagen, ich hätte nicht hin und wieder ein schlechtes Gewissen, wenn ich mir den Stapel ungelesener Bücher anschaue. So viele Titel, die bestimmt wunderbar sind, aber die ich ihre Geheimnisse nicht mit mir teilen lasse. Auch deshalb, weil ich mich oft nicht entscheiden kann, welches der vielen Bücher ich als nächstes beginnen soll. Also ja, manchmal ist dieser Stapel ein „Pile of Shame“.

Aber ist er nur das?

Pile of Joy?

Ich nutze „Pile of Joy“ hier als Gegenbegriff zu „Pile of Shame“. Es handelt sich bei diesem Bücherstapel, der manchmal in astronomische Höhen aufzuragen scheint, nicht um einen Stapel, für den ich mich schämen muss. Ich kann mich auf diesen Inhalt freuen. Vergangenheits-Vanessa wird sich schließlich (hoffentlich) etwas dabei gedacht haben, als sie diese Titel kaufte. Der Stapel ungelesener Bücher ist auch ein Stapel Geschenke an einen selbst, die man besorgt und im Schrank versteckt hat. Bücher, die einem wieder in die Hände fallen und man direkt weiß, warum man das Buch damals gekauft hat. Und vielleicht denkt man sich: „Warum nicht?“ Es ist ein Wiederentdecken.

Geschichtenzeit: Ich war zu Beginn des Jahres eine Woche ohne Internet. Meine üblichen Abendbeschäftigungen waren nicht möglich und ich musste kostbare mobile Daten sparen. Also habe ich gelesen. Anstatt eines der bereits gelesenen Bücher von der sich darauf angesammelten Staubschicht zu befreien, um bereits bekannte Welten erneut zu besuchen, habe ich einen W20 in die Hand genommen und gewürfelt. Eine Zahl je Titel auf dem Stapel ungelesener Bücher, überschüssige Zahlen führen zu erneutem Würfeln. Was sich zuerst wie eine Beschäftigung zweiter oder gar dritter Wahl anfühlte, brachte bald wieder die Euphorie von früher zurück, als ich mich zwischen den Seiten verlieren konnte. Zum ersten Mal seit langem habe ich ein Buch in wenigen Tagen gelesen und auch, wenn mein Internet nun wieder funktioniert, habe ich vor, wieder mehr zu lesen.

Im Stapel ungelesener Bücher können auch überraschende Erkenntnisse über das Vergangenheits-Ich schlummern. Foto © jag_cz | depositphotos.com

Außerdem ist es interessant zu sehen, welcher Mensch man war, als man das Buch kaufte. Wenn man wiederentdeckt, was einmal interessant war (und vielleicht noch ist), oder sich wundert, warum zur Hölle man dieses Buch gekauft hat. Menschen verändern sich und das ist in Ordnung, das ist gut, aber manchmal ist es interessant zu sehen, wer man einmal war. Und ich habe ein oder zwei Bücher auf meinem Stapel entdeckt, die ich vergessen hatte und auf die ich mich nun wieder freue. Sobald ich dazu komme, sie zu lesen.

Werde ich meinen Stapel ungelesener Bücher also nach und nach diszipliniert lesen und dann nur noch einzeln Bücher kaufen? Bestimmt nicht. Dafür freue ich mich zu sehr auf die Überraschungen, die Vergangenheits-Vanessa für mich bereithält. Und ich lasse mich einfach zu schnell für neue Bücher begeistern.

Fazit

Ist ein Stapel ungelesener Bücher also etwas Positives? Das muss jede*r für sich entscheiden. Ich sage nicht, dass ich es durchgehend schaffe, ihn als „Pile of Joy“ zu betrachten. Oft überwiegen das schlechte Gewissen und der empfundene Druck, endlich diese Bücher zu lesen, die ein trauriges, unbeachtetes Dasein in meinem Regal fristen. Oder weniger Bücher zu kaufen, um dann weniger zu haben, die ungelesen herumliegen. Unsere Quarterlys helfen nicht unbedingt dabei, diesen Vorsatz umzusetzen. Vielleicht geht es euch ähnlich. Und ja, manchmal ist es nötig, den Stapel ungelesener Bücher durchzugehen und die Titel auszusortieren, die man mit Sicherheit nicht mehr lesen wird. Interessen und Vorlieben können und werden sich ändern, und es ist nicht verwerflich, festzustellen, dass zuvor gekaufte Bücher nicht mehr interessant sind. Vielleicht freuen sich Freund*innen darüber oder es gibt einen offenen Bücherschrank in eurer Nähe. So können andere diese Bücher für sich entdecken.

Im Endeffekt ist ein Stapel ungelesener Bücher nur das: ein Stapel bislang ungelesener Bücher. Ob ihr diesen verringert, ganz verschwinden oder weiter wachsen lasst, liegt ganz bei euch. Einen falschen Umgang gibt es nicht.

 

Artikelbilder: © Elena Schweitzer, © Dirima, © jag_cz | depositphotos.com
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Sabrina Plote

1 Kommentar

  1. Das Phänomen hat sich für mich, dank der Digitalisierung, grösstenteils erledigt.
    Bücher, die ich gerne lesen will, kommen auf den digitalen Wunschzettel statt sie zu kaufen.
    Wobei ich auch vorher schon eher Vorfreude hatte als mich geschämt hätte, lese allerdings auch immer noch recht viel.
    Lesen ist kein Selbstläufer, manchmal muss man sich Zeit dafür freihalten, und wenn es nur eine halbe Stunde Mittagspause ist, oder eine halbe Stunde vor dem Schlafen gehen.
    Nach einem Umzug fehlte mir z.B. die Stunde Arbeitsweg in der S-Bahn, und es hat fast ein Jahr gedauert bis ich mir die Zeit zum lesen wieder genommen habe.

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