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Sollte man ein Buch noch einmal lesen oder doch lieber zu etwas Neuem greifen? Es gibt so viel spannende, neue Lektüre, was können da bekannte Bücher bieten? Wir sind dieser Frage nachgegangen und haben einige Argumente fürs erneute Lesen entdeckt.

Das Buch ist beendet, Zeit ein neues vom Stapel ungelesener Bücher zu nehmen oder ein bekanntes noch einmal zu lesen. Doch an der Frage, ob man sich ein Werk noch einmal vornimmt, scheiden sich die Geister.

Dabei geht es nie um Sachbücher, Regelwerke und Abenteuer für Rollenspiele, die für Beruf oder Hobby mehrfach gelesen und teilweise regelrecht erarbeitet werden. Doch bei Romanen vertreten einige Lesende die Meinung, der Inhalt sei ja jetzt bekannt, warum, so die Frage, sollte man ein Buch noch einmal lesen?

Selbstverständlich gibt es immer neue, interessante Bücher, die gelesen werden wollen. Allerdings sprechen verschiedene Argumente dafür, gute Romane – mit etwas zeitlichem Abstand – mehrfach zu lesen.

Noch einmal lesen, aber warum?

Das Reihenproblem

Dieses Phänomen tritt besonders in der High Fantasy auf, ist aber in allen Genres anzutreffen. Bedauerlicherweise erscheinen nicht immer alle Bände einer Reihe direkt hintereinander. Es müssen keine 20 Jahre sein wie bei George R. R. Martins Lied von Eis und Feuer, das zum Glück ein eher extremes Beispiel ist, aber ein halbes bis ein ganzes Jahr ist sehr üblich, auch zwei oder drei Jahre können problemlos vorkommen. Das sollte nicht dazu führen, mehrbändige Reihen wie Streamingserien nur noch zu lesen, wenn alle Bände erschienen sind, im Gegenteil. Die aktuelle Struktur des Buchmarktes macht es deutlich wahrscheinlicher, dass ein wenig gekaufter erster Teil das einzige Buch einer Reihe bleibt. Um also in den Genuss einer abgeschlossenen Reihe zu kommen, ist es sinnvoll, die Bücher kurz nach Erscheinen zu lesen (oder wenigstens zu kaufen).

Je größer der zeitliche Abstand zwischen dem Erscheinen der einzelnen Bände wird, desto größer wird jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass man zum Erscheinen des Folgeteils einiges vergessen hat. Um also wieder zu wissen, wer jetzt gegen wen welche Intrige gesponnen hat, welche Figuren welche Schlachten geschlagen oder welche geheimnisvollen Symbole auf den allerletzten Seiten entdeckt wurden, ist der Griff zum Vorgängerband unumgänglich. Besonders bei sehr komplexen Reihen und bei Bänden, die mit harten Cliffhangern enden, ist es für das Verständnis sinnvoll, Bücher mehrfach zu lesen.

Einzelheiten entdecken

Beim ersten Lesen eines Buches liegt die Hauptaufmerksamkeit vor allem auf der Handlung. Doch bei der erneuten Lektüre kann der Fokus auf etwas anderes gerichtet werden. Wenn die Haupthandlung bekannt ist, wird es deutlich einfacher, sich beispielsweise auf die Geschichte einer Nebenfigur, den detailreiche Weltenbau oder die poetische Sprache zu konzentrieren. So lassen sich ganz neue Einzelheiten entdecken, die beim ersten Lesen vollkommen unwichtig waren, aber das Buch als Gesamtwerk enorm bereichern.

Besonders bei komplex ineinander verästelten Geschichten bietet eine erneute Lektüre die Möglichkeit, tiefer in die Details und Verknüpfungen vorzudringen. Einige Bücher verlangen geradezu nach mehrfacher Lektüre, um sie wirklich in Gänze durchdringen zu können. Auch lassen sich so früh gesetzte Hinweise und Andeutungen ganz anders erkennen und verstehen – ein besonderer Spaß bei komplexen Kriminalhandlungen.

Andere Blickwinkel

In verschiedenen Lebensphasen verändert sich der Blick auf ein Buch. Eine erneute Lektüre kann dann durchaus zu der – mitunter traurigen – Erkenntnis führen, aus einem Buch herausgewachsen zu sein und so nebenbei die eigene Entwicklung und persönliche Veränderungen deutlich machen. Manchmal stellt sich beim erneuten Lesen eines Buches heraus, dass es doch nicht so toll ist wie in der Erinnerung. Eine Geschichte kann sich als extrem sexistisch herausstellen, die Figuren doch eher platt oder die Handlung extrem vorhersehbar. Das kann im ersten Augenblick enttäuschen, bietet jedoch auch die Möglichkeit, über die eigene Veränderung zu reflektieren.

Lässt sich sehr gut noch einmal lesen: Tintenherz. © Dressler Verlag
Lässt sich sehr gut noch einmal lesen: Tintenherz. © Dressler Verlag

Die Lektüre aus einer anderen Lebenssituation heraus kann zudem den Blick nicht nur für sich selbst und die eigene Leseerfahrung weiten, sondern auch ganz neue Aspekte an einem Buch eröffnen. So hat das abgeschlossene Philosophiestudium für meine Teilzeithelden-Kollegin Heike Der Name der Rose zu einem ganz anderen Buch gemacht, für mich hat die Lektüre von Le Guins Das Wort für Welt ist Wald in Zeiten der Klimakrise eine ganz andere Wucht entfaltet als beim ersten Lesen vor 15 Jahren.

Die veränderten Blickwinkel sind auf besondere Weise bei Büchern anzutreffen, die man das erste Mal als Teenager gelesen hat. So ist zum Beispiel Tintenherz für Jugendliche eher eine spannende Abenteuergeschichte, doch aus einem erwachsenen Blickwinkel entfaltet die Reihe eine ganz neue, schmerzvolle Tiefe und Schwere.

Rückkehr in eine vertraute Welt

Manche Bücher, die Figuren und Welten darin, werden vertraute, geliebte Gefährt*innen für die Zeit des Lesens. Die Handlung mag nicht immer detailliert im Gedächtnis bleiben, anders das angenehm wohlige Gefühl nach einer guten Lektüre und einige Figuren, die einem ans Herz gewachsen sind.

Ein Buch noch einmal zu lesen, kann bedeuten, erneut in dieses Gefühl abzutauchen. Die erneute Lektüre bietet die beruhigende Gewissheit, dass man ja schon weiß, was passiert und sich somit komplett auf die liebgewonnenen Figuren konzentrieren kann. Noch einmal zu einem bekannten Buch zu greifen, ist dann wie ein Besuch bei guten Freund*innen. Es können einen weder plötzliche Plottwists noch unlogische Entwicklungen der Handlung überraschen, im Gegenteil, man kann sich zurücklehnen und den Alltag hinter sich lassen. In vertrauter Umgebung bietet sich die Möglichkeit, mit geliebten Figuren erneut auf Abenteuer auszuziehen, in eine vertraute Welt zurückzukehren und sich darin zu entspannen.

Noch einmal lesen? Selbstverständlich!

Ein gutes Buch noch einmal zu lesen, kann sich also aus sehr verschiedenen Aspekten lohnen. Sei es, um sich bei einer Reihe auf den letzten Stand zu bringen oder um bei einer komplexen Handlung noch einmal auf die Suche nach allen Hinweisen auf das große Finale zu gehen. Die erneute Lektüre bekannter Bücher bietet Entspannung und in unterschiedlichen Lebenssituation und emotionalen Lagen oft neue Aspekte. Man muss sich nur darauf einlassen und bereit sein, etwas einige Monate oder Jahre später noch einmal zu lesen. Es kann sein, dass die Lektüre dann enttäuscht – und dabei die eigene Entwicklung deutlich macht – aber es kann auch sehr gut sein, dass sie etwas Neues bietet. Darum nur Mut, ein Buch noch einmal zu lesen. Wenn es gut ist, kann es beides: vertraut sein und neues zeigen gleichzeitig.

Es wartet sicher noch ein Buch in der Sammlung darauf, erneut in eine vertraute Welt zu entführen und einige Stunden wohlige Pause zu bieten.

Titelbild: depositphotos © mikdam
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Nina Horbelt

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